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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte der Filmarbeitsgemeinschaften an den deutschen Hochschulen (FIAG)

Einführungsseite

film 56, Heft 2, Februar 1956

Inhalt
Noch einmal "Marcelino"
Hofgarten-Gespräch
Von Caligari bis Canaris
Der Film von Morgen
Film in Europa 1945-1955 - 1. Italien
Hat Kunst eine Chance?
Der Fall Caligari
Literatur
Meinung und Gegenmeinung
Mitteilungen
Filmkritiken
Othello
The End of the Affair (Das Ende einer Affäre)
Ernst Thälmann (Zweiter Teil) - Führer seiner Klasse
Ciske de Rat (Ciske - Ein Kind braucht Liebe)
ALIBI
Teufel in Seide
Solange Du lebst


Noch einmal "Marcelino"

_... der Jahresbestfilm der Katholischen Filmliga "Das Geheimnis des Marcelino", der freilich - abgesehen von Kindern - nur einem reifen Betrachter mit der Ehrfurcht vor den Wahrheiten des Glaubens und der Kirche etwas zu sagen hat, ist (für "film 56", d. R.) nichts weiter als ein "sacharinsüsses Devotionaliengemälde" _... (Dr. Günter Graf in "Echo der Zeit", 29. 1. 1956)

Wie nicht anders zu erwarten, haben einige der harten Urteile in unserem "Panorama 1955" (S. 2 ff.) heftigen Widerspruch hervorgerufen. Die besonders Gewitzten unter unseren Kritikern haben herausgefunden, dass wir just vor den Streifen den Daumen nach unten gekehrt haben, die von der katholischen Filmkommission ausgezeichnet worden waren. Besonders Günter Graf (s. a. S. 103) drischt mit dem Wortungeheuer "Jahresbestfilm" ohne sprachliche Skrupeln und Anführungsstriche auf uns ein wie ein Kreuzfahrer mit dem Morgenstern auf die Häupter der schlimmen Heiden (ein Vergleich, der ihm selbst nicht übel gefallen mag).

In der Tat halten wir die Zusammenstellung der katholischen "Jahresbestliste" für 1955 für wenig glücklich - nicht, weil wir den kirchlich orientierten Kritikern partout übelwollten, sondern weil wir die meisten dieser Filme unehrlich, schlecht gemacht oder politisch bedenklich fanden. Wobei gewiss mit ins Gewicht fällt, dass der herrschende Trend der aktuellen Filmproduktion überhaupt jene Tendenz zur Resignation des "Trautes Heim - Glück allein", zur Diffamierung der Revolte, zur ideologisch-metaphysischen Verklärung der etablierten Ordnung aufweist, die uns etwa an "Marty", "Das Ende einer Affäre" oder "Marcelino" missfällt.

Soweit die provozierende Lakonik der Formulierung an dem Befremden unserer Leser die Schuld trägt, soll dem durch ausführliche Begründung (was keinesfalls Korrektur bedeutet) in den wichtigsten Fällen abgeholfen werden. Von "Das Ende einer Affäre" ist im Kritik-Teil dieses Heftes die Rede, auf die "Qualitätsfilme" der Hollywood-Produktion kommen wir in der nächsten Nummer im Rahmen eines Hauptaufsatzes zurück, hier wollen wir uns lediglich noch einmal mit "Marcelino" befassen.

"Marcelino, Pan y Vino" ("Das Geheimnis des Marcelino", Spanien 1955) erzählt bekanntlich die Geschichte eines Knaben, der als Findelkind von Mönchen aufgenommen wird. Als der Kleine fünf Jahre alt ist, entdeckt er auf dem Boden des kleinen Klosters eine Christusfigur am Kreuz, freundlich bietet er dem "hungrigen Mann" Brot und Wein an, Christus steigt vom Kreuz herab, trinkt, isst und unterhält sich mit dem Jungen über dies und jenes. Eines Tages fragt er ihn nach seinem Lieblingswunsch, Marcelino antwortet: "Deine und meine Mutter zu sehen." Christus nimmt das Kind in seine Arme und lässt es sterben _...

Unsere ersten Bedenken sind politische. Dieser im Spanien Francos hergestellte Film lässt selbst keine Zweifel über seine politischen Neben(?)-Absichten: der Anfang der Haupthandlung (nationale Befreier vertreiben sengende und brennende fremde Söldner - wie in "Solange Du lebst"!) beruft das Bild des Bürgerkrieges, wie die Faschisten ihn sehen möchten; das häufige Auftreten der Zivilgarde unterstreicht die Legitimität der herrschenden Regierung. Der pariser Kritiker Ado Kyrou hat auf die bedenkliche Aktualität dieser Legende aufmerksam gemacht: "Spanien leidet am Hunger, ungezählte Kinder müssen sterben, das spanische Volk könnte sich mit dieser Situation nicht mehr einverstanden erklären und das Franco-Regime zur Rechenschaft ziehen; so musste man beweisen, dass es für kleine Jungen das höchste Glück bedeutet, zu sterben." Und im katholischen Spanien ist das christliche Argument gewiss das wirksamste. (Dass dergleichen nicht bewusst manipuliert zu sein braucht, um effektiv zu werden, haben wir schon bei anderer Gelegenheit betont.)

Wohlwollende Kritiker haben dem Film "Naivität" zugebilligt, sie wäre in der Tat das einzige Alibi für eine Geschichte, die so sehr den Absichten der Machthaber und den sentimentalen Neigungen des sich selbst entfremdeten Publikums entgegenkommt. Die Kombination: rührendes Kind (der unschuldige Charme der grossen Augen Pablitos steht sicher ausser Zweifel), neckische Franziskaner (der "Segen der Armut" - auch ein politisches Motiv!) und Wunder wird auf kein Publikum seinen appeal verfehlen, zumal, wenn sie mit solchem Geschick arrangiert ist hier von Ladislav Vajda. Von ihm ist Naivität ebensowenig zu erwarten wie von seinem Publikum. Wirklich weist sein Stil alle Merkmale der routinierten Mache auf: die mit weichem Schmelz vor der Tonkulisse singender Geigen ins Bild geschobene, "schön" ausgeleuchtete und softy fotografierte Hand Christi, die malerische Pose des toten Jungen im Stuhl und das Kruzifix Silhouettenhaft gegen einen neblig verschwimmenden Hintergrund gesetzt - das ist filmische Devotionalienmalerei. "Dezenz" ist das Einzige, was man der Regie zubilligen mag, aber gebührt denn wirklich dem marktgängigen "Geschmack" der Vorzug gegenüber dem naiven Schund, dem "Kitsch aus gutem Gewissen", wie ihn die "klassische" Devotionalienmalerei produziert? Doch selbst, wenn wir für die Hersteller den ehrlichen Willen gelten lassen wollten, gäbe uns das Publikum, das sich "nicht aus kastilischen Berghirten und andalusischen Bäuerinnen zusammensetzt, zu verstehen, wie es dergleichen konsumiert: das "Schmatzen des Tieres in der eigenen Substanz", wie Chris Marker sagt, spiegelt sich zu deutlich in den Mienen der im Kollektiv Zusammengeschweissten, die nur Provokation aus ihrer Gleichgültigkeit zu befreien vermag.

Wohlgemerkt: unsere Einwände sind nicht primär ästhetischer Natur, denn, wie Alto Pritzl zum Thema "religiöser Kitsch" ("Hochland", Juni 1953) mit grösserer Kompetenz formuliert hat: "Dieses unkünstlerische Treiben" ist "nichts anderes als ein totaler Angriff auf die Substanz des Glaubens _... All diese Niedlichkeiten, Verharmlosungen und Geschmacklosigkeiten unterhöhlen jedes ernsthafte religiöse Bewusstsein, bringen die Wahrheiten des Christentums um ihre umstürzende und bestürzende Wirkung und ordnen sie ein unter die Gebrauchsgegenstände einer kleinbürgerlichen Gefühlswelt. Was dereinst noch einen Schauer des Numinosen hervorrief, also irgendwie beunruhigend war, haben wir in Spielzeuge des Herzens verwandelt. Darin liegt die ungeheure Gefahr, weil das schleichende Gift von allen Seiten eingeträufelt wird, zwar im Namen der Frömmigkeit, aber dennoch bis zu einer Art religiöser Sterilisierung und Immunisierung."       Enno Patalas Zurück zum Anfang

Hofgarten-Gespräch

Der Düsseldorfer Kongress der Filmjournalisten (am 27. und 28. Januar) bot nach manchem ermüdenden monologischen Wechselgesang schliesslich doch Gelegenheit zu erspriesslichem Gespräch, so zwischen Max Ophüls und der Redaktion film 56, nachts zwischen zwei und drei im Hofgarten. Es ging um "Lola Montez", film 56 und die Aufgaben der Filmkritik.

"Die Aufgaben der Filmkritik", meinte Ophüls, ünterscheiden sich in einem Punkt wesentlich von denen der Literatur-, Kunst- oder Musikkritik. Ihr müsst den Künstler vor der Wirtschaft und der Zensur retten. Kein Musikkritiker braucht Furtwängler gegen den Konzertverein zu verteidigen, kein Kunstkritiker Picasso vor dem Museum zu beschützen, aber dem Filmkritiker stellt sich diese Aufgabe täglich!"

Wäre es doch so! Von einer einzigen Ausnahme abgesehen (hoch gerechnet!), befinden sich doch die hiesigen "Filmkünstler" im schönsten Einklang mit dem Markt und der Macht. Die freiwillige Selbstkontrolle der gleichgeschalteten Autoren- und Regisseursgehirne ist wirksamer als die so-genannte der Filmwirtschaft im biebricher Schloss. Kein Produzent und keine Zensurbehörde hat Harald Braun gezwungen, Ricarda Huchs "Letzten Sommer" in eine Apotheose der Autorität umzufälschen, niemand hat Alfred Weidenmann zu seinem Älibi" für die Boulevardpresse genötigt.

Glückliches Frankreich, glücklich überhaupt die Länder, in denen die Freiheit der Künstler noch von der Wirtschaft und vom Staat gefährdet wird!       pat

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Von Caligari bis Canaris Autorität und Revolte im deutschen Film Enno Patalas

Die Vorstellung einer unpolitischen und ideologisch nicht gesteuerten Filmproduktion ist selbst ein Stück Ideologie. Auch in der staatlich nicht reglementierten Filmwirtschaft ist ein Lenkungsmechanismus wirksam, der zwar subtiler funktioniert, in seiner Wirksamkeit aber dem Propagandaapparat totalitärer Staaten kaum nachsteht.

Für die Erörterung des politischen Charakters aller Filmproduktion bietet die Geschichte des deutschen Films reiches Anschauungsmaterial. Sie zeigt das Verhalten einer von staatlichen Eingriffen weitgehend freien Filmproduktion vor und nach einer Periode autoritärer Lenkung und das Verhalten eines autoritären Lenkungsapparates gegenüber einer aus demokratischen und marktwirtschaftlichen Verhältnissen übernommenen Filmwirtschaft. An dem Mass der jeweiligen Veränderungen im Charakter der Filme kann man ihr Verhältnis gegenüber demokratischem und autoritärem Verhalten ablesen.

Die expressionistische Revolte

Im Mittelpunkt dieser Erörterung wird ein Komplex stehen müssen, der als Motiv in der Geschichte des deutschen Films eine hervorragende Rolle gespielt hat und an dessen Darstellung sich stets der politische Reifegrad einer Filmproduktion enthüllt: das Thema der Autorität und der ihm komplementäre Begriff der Revolte. In der Spannung zwischen der Macht der Autorität und dem Geist der Revolte hat der deutsche Film gestanden, seit er - in der expressionistischen "Schule" der frühen zwanziger Jahre - zu sich selbst gefunden hat.

Aus einer Auseinandersetzung mit dem Mythos der Autorität hat der deutsche Film in seiner klassischen Periode (etwa 1920 bis 1924) seine stärksten Impulse bezogen. An ihrem Anfang steht das "Kabinett des Dr. Caligari" (1920). Siegfried Kracauer hat in seiner Analyse (s. weiter hinten in diesem Heft) den Inhalt des Films und die Intentionen der Verfasser Carl Mayer und Janowitz wiedergegeben. Die Botschaft des Films, wie ihn die Autoren geplant hatten, sollte sein: "Vernunft überwältigt unvernünftige Gewalt, wahnwitzige Autorität wird zur Abdankung gezwungen." Kracauer referiert weiter, wie der Kontrollmechanismus der Wirtschaft zu wirken begann und den Sinn der Fabel in sein Gegenteil verkehrte. Der Rebell wird zum Verrückten gestempelt, der die in Wahrheit wohltätige Autorität ganz zu Unrecht verdächtigt hat, der Fluch allmächtiger Gewalt wandelt sich in Wohltat. In dem Caligari der neuen Fassung haben wir schon den Prototypen des gütigen Autokraten, der seither in wechselnder Gestalt durch die deutsche Filmgeschichte wandelt.

Indessen offenbart auch das Kernstück des "Caligari", das die "Selbstkontrolle" unangetastet liess, eine entscheidende Schwäche in der Position der Revolte. Dieser düsteren Geschichte fehlt trotz des endlichen Triumphs der Revolte gänzlich das Glücksversprechen, der Ausblick auf die Freiheit, der sie letztlich rechtfertigt. Freiheit wird gedacht offenbar nur als Abwesenheit lastenden Zwanges, nicht als positives Bewusstsein des Glücks. Die Liebe des Rebellen Francis, die die Revolte auslöst, ist nicht mehr als ein dramaturgisches Motiv - die Möglichkeit, der Revolte im von der Repression verschonten Eros eine Basis zu verleihen, war den Autoren offenbar gar nicht bewusst. Es war, als müsse die Tyrannei die Tyrannen noch überleben im Unterbewusstsein der Untertanen, die es immer bleiben.

Es waren die besten Filme der Caligari-Periode, die den Alptraum der Tyrannei gestalteten: Murnaus "Nosferatu", "Vanina", Fritz Längs erster "Mabuse"-Film, Paul Lenis "Wachsfigurenkabinett". Sie bezeichnen nicht nur den ersten künstlerischen Höhepunkt der deutschen Filmgeschichte, sondern auch ihren einzigen revolutionären Aufschwung, den - wenn auch zwiespältigen - Versuch einer Abrechnung mit dem kollektiven Mythos der Autorität. Aber diese erscheint hier nie in ihrer konkreten sozialen Erscheinung, sondern mannigfach gebrochen durch den Zerrspiegel expressionistischer Bild- und Gestensprache.

Der Mythos des Schicksals

"Die Deutschen hatten den Krieg verloren", schreibt Ilja Ehrenburg in seinem berühmten Buch "Traumfabrik", ünd darum sollte in ihren Filmen alles nur traurig und düster sein." Aber es war nicht so sehr die Tatsache des verlorenen Krieges, die den besonderen Charakter der deutschen Filme, besonders in der Phase des "Kammerspielfilms", die der expressionistischen folgte, bestimmt, als vielmehr eine tiefere Ablehnung der revolutionären Umwandlungen, die sich anzubahnen schienen.

In Lupu Picks "Sylvester" (1924) und Murnaus "Der letzte Mann" (1924), beide verfasst von dem "Caligari"-Autor Carl Mayer, hat der deutsche Nachkriegspessimismus seine deutlichste Ausprägung gefunden. Beide Filme zeigen auch deutlich die Wurzeln dieser Haltung. "Sylvester" ist die Geschichte eines Mannes zwischen zwei Frauen, die ihn beide ganz beanspruchen: seiner Mutter und seiner Ehefrau. Aus seinen dumpfen Gefühlen, die ihn zu keiner klaren Entscheidung kommen lassen, weiss der kleinbürgerliche Held keinen anderen Ausweg als den Selbstmord. Im "Letzten Mann", dem bedeutendsten jener "Instinkt-Filme", wie Kracauer sie treffend nennt, spielt Jannings einen bejahrten Hotelportier, der zum Toilettenwärter degradiert wird - eine Massnahme, die ihn in seinem beschränkten Verstande als tragische Katastrophe erscheint.

In beiden Fällen ist die Linearität des Geschehens auffällig: im Augenblick, da das Spiel beginnt, sind die Würfel bereits gefallen, das Weitere wickelt sich automatisch ab unter dem Zwang der Umstände; das Schicksal vollendet sich unaufhaltsam; die Bestimmung über ihr Sein und Bewusstsein ist den Menschen genommen. Der Fatalismus - in wechselnder Gestalt als optimistischer Glaube an die Chance oder als pessimistischer Kult der Selbstpreisgabe - bestimmt seither wesentlich den Inhalt deutscher Filme. Von jenen früheren Filmen bis in die unmittelbare Gegenwart geht in ihnen jede innere Bewegung aus vom Walten eines anonymen - zuweilen freilich auch beim Namen genannten - Schicksals, dem der Held passiv ausgeliefert ist, versunken im Gefühl, das "über ihn kommt" und Verstand und Willen lähmt, als leidendes oder geniessendes Objekt des Geschehens, niemals als sein rational erhellter Träger.

Zwei bekannte Filme machen das Verhältnis des Individuums zu seinem Schicksal ausdrücklich zu ihrem Thema, der eine in der Form des Märchens, der andere als Mythos: die beiden Filme von Fritz Lang, "Der müde Tod" (1921) und "Die Nibelungen" (1924). Im "Müden Tod" begegnen zum erstenmal zwei charakteristische Motive, die sich seither durch die ganze deutsche Filmgeschichte ziehen, nicht selten im Zusammenhang mit der Verklärung der Autorität: der Kult des Opfers und, ihm aufs engste verbunden, der Kult der Reinheit. Wie in dieser von Thea von Harbou erfundenen Geschichte hat in vielen hundert weiteren ein blondes unschuldiges Mädchen seine blasse Liebe geopfert zur Rettung seines Geliebten - oder umgekehrt, haben reine Kinder ihr Leben ausgehaucht zur Sühne der Schuld anderer. Dass die antiquierte Form des Märchens bemüht wird, verrät das falsche Bewusstsein, das es verbergen soll. Es wird ganz offenbar in späteren "realistischen" Filmen: eine passive Lebenshaltung, die die Schwäche zur Lebensmaxime erhebt; die Neigung zur Selbstpreisgabe, zum Versinken im trüben Grund des eigenen Gefühls, postuliert als Leitbild des Handelns - oder vielmehr des Nicht-Handelns. Die Unschuld der reinen Gemüter hat in Hunderten von Filmen das Alibi abgegeben für die Passivität des Helden, der sich seinem "Schicksal" bedingungslos anheimgibt. Die Verantwortung fürs eigene Glück und das der anderen wird einer anonymen Macht aufgeladen, alle Aktion erschöpft sich im blinden Walten des Gefühls.

Zu dem "Nibelungen"-Film bemerkte die Autorin, wiederum Thea von Harbou, dass der Film die Ünausweichlichkeit" darstellen sollte, "mit der noch die letzte Strafe aus der ersten Schuld folgt". Der Fatalismus beherrscht nicht nur die handlungsmässige Erfindung dieser Filme, sondern auch ihren Stil. "Die statische Symmetrie der ,Nibelungen'", schreibt Lotte Eisner in ihrem Artikel über Fritz Lang, "strömt einen langsamen Rhythmus aus, der unerbittlich ist wie das Schicksal in dieser tausend Jahre alten Sage." Ebenso wie die strengen Ornamente der Lang-Filme die Unausweichlichkeit und Endgültigkeit des Geschehens symbolisieren, so auch die Einheit von Handlung, Ort und Zeit, auf die der Kammerspielfilm besonderen Wert legte.

Der rebellische Kleinbürger

Nachdem in den ersten Nachkriegsjahren Düsternis und Pessimismus absolut regiert hatten, hellte sich ab 1924 der Himmel auf. Mit der Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse und der allmählichen Überwindung der unmittelbaren Kriegsfolgen schwanden kollektive Missstimmung und Katastrophenfurcht und machten einem freilich nicht minder gefühlsdurchtränkten und schicksalsträchtigen Optimismus Platz. Ein Motiv, das von nun an immer dann auftritt, wenn wirtschaftliches Wohlergehen die Realität in freundlicheren Farben erscheinen lässt, ist das der siegreichen Liebe. Die edle Emotion setzt sich allein kraft ihrer Reinheit und Unwandelbarkeit gegen die Widrigkeiten der Realität durch. Dies geschieht freilich nicht in dem Sinne, dass sie gegen die Wirklichkeit rebelliert; vielmehr wird es als Erfahrungstatsache ausgegeben, dass die Widerstände von selbst dahinschwinden, wenn sich Unschuld mit dem Gefühl verbindet. Die aufstörende und befreiende Wirkung des Eros, der gegen die herrschenden Verhältnisse aufbegehrt, kennt der deutsche Film nicht; allemal dienen die Gefühle der Bestätigung des Status quo.

Deutlich tritt etwa ab 1923 in einigen Filmen eine Paralyse der revolutionären Tendenzen zutage. In dem Ufa-Film "Die Strasse" (1923), einem Kammerspielfilm von Karl Grüne, flüchtet ein Kleinbürger, abgestossen von der Enge seiner häuslichen Verhältnisse, ins Chaos der Strasse; er gerät in kriminelle Verwicklungen und kehrt schliesslich, von seinem Freiheitsstreben "geheilt", an den heimischen Herd zurück. Schweigend stellt seine Frau die Suppenterrine auf den Tisch: die rituelle Geste der Beschränktheit, die zu Beginn den Ausbruchsversuch des Kleinbürgers auslöste, besiegelt seine Kapitulation. Von nun an verschiebt sich im deutschen Film der Akzent von der symbolischen Figur des Tyrannen auf die des Unbotmässigen, der am Ende regelmässig gebrochen wird oder kapituliert. "Der blaue Engel" (1930) steht noch deutlich in der Nachfolge der "Strasse".

Immerhin wollten die "Strassenfilme" der ausgehenden zwanziger Jahre noch nicht glauben machen, dass mit der Gleichschaltung die Chance zum Glück gegeben sei, die die Revolte verweigerte. Es ist allemal eine trübe Sicherheit, in die die kleinbürgerlichen Ausreisser zurückkehren, die Wiederherstellung des Status quo ante, über dessen Tristesse keine Illusionen bestehen können.

Den politischen Untergrund dieser Filme enthüllte der gleichzeitig erschienene erste Film über Friedrich den Grossen, Ufas "Fridericus Rex" (1922). Bemerkenswert ist nicht so sehr die offen monarchistische Tendenz dieses Films als der Umstand, dass er die Revolte des jungen Kronprinzen nachdrücklich betont. Ihre Darstellung dient lediglich dazu, der Unterwerfung unter den Willen des Vaters besonderes Gewicht zu verleihen. Es ist, als solle das alte Trauma der erfolglosen bürgerlichen Revolution erneut unterdrückt werden. Die allmächtige Autorität, der Alptraum der expressionistischen Vaterdramen und der "caligaristischen" Filme, schlägt um in das Wunschbild des gütigen und strengen Vaters und Landesherrn, der am besten weiss, was dem Sohn und Untertan frommt. Die Revolte, als Pubertätserscheinung interpretiert, ist gut nur, wenn sie zur Einsicht in die Notwendigkeit der Unterwerfung führt.

Unter den Filmen der Prosperitätsjahre ist einer, der den politischen Aspekt der für den deutschen Film charakteristischen Mentalität belegt: Fritz Längs "Metropolis" (Buch: Thea von Harbou). Die Geschichte ist bekanntlich in einer utopischen Gesellschaft angesiedelt, in der die Klassengegensätze des Kapitalismus ihre radikalste Ausprägung gefunden haben. Der Sohn des führenden Kapitalisten revoltiert gegen seinen Vater und die Ordnung, die er vertritt, und geht zu den Arbeitern über. Dort verbindet er sich mit einem Mädchen, das den Arbeitern eine messianische Botschaft bringt: dass nämlich das Elend des Proletariats nur beseitigt werden könne, wenn das Herz zwischen der Hand - das ist das Proletariat - und dem Hirn - den Kapitalisten! - vermittele. In der Tat kommt schliesslich die Vereinigung zwischen dem Trustherrn und den Arbeitern durch die Vermittlung des Mädchens Maria (!) und des einst rebellierenden Sohnes zustande.

Die Verlogenheit dieser ideologischen Sicht wurde schon von den Zeitgenossen durchschaut. Was hier in Wahrheit propagiert wurde, war die endgültige Bestätigung des Grauens der etablierten Ordnung durch die Absage an die revolutionären Hoffnungen der Unterdrückten. Nicht die konkreten Ursachen der herrschenden Ungerechtigkeit sollten beseitigt werden, sondern "persönliches Verstehen" sollte die realen Widersprüche in eine sentimentale Harmonie verwandeln. Am Zustand der Gesellschaft hat sich am Ende des Films nichts geändert; nur der rebellische Geist der Unterdrückten ist gebrochen worden und der Gegner auch bewusstseinsmässig in die Ordnung integriert.

Die Rückkehr der Tyrannen

Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise wurde die deutsche Kinoleinwand heimgesucht von einer Springflut überschwenglicher Operetten und Lustspiele, in denen hektische Lebenslust sich austobte. "Die Friedhofsstille der Diktatur", notiert Th. W. Adorno in den "Minima Moralia", "lag noch über den heitersten Filmen der Republik." Von der Unsicherheit des optimistischen Grundes solcher Filme wie "Die Drei von der Tankstelle" (1930) und "Der Kongress tanzt" (1931) zeugten gleichzeitig "Der blaue Engel" (1930) und "M" (1931). Beide Filme zeigen ihre Helden in den Fesseln ihres Unterbewusstseins, sexueller Hörigkeit im Falle des Professor Rath im Blauen Engel, psychopathischer Perversität bei dem Kindermörder in "M". Beide sind in ihrem Reifeprozess Gehemmte, die nicht für ihre Taten verantwortlich gemacht werden können.

Die wirtschaftlichen und politischen Erschütterungen liessen neue Seiten des autoritären Charakters hervortreten. Jetzt, da die bestehenden Verhältnisse allgemein als unerträglich empfunden wurden, wurde der Gedanke an die Revolte nicht mehr tabuiert. Aber diese Rebellion stellt das genaue Gegenteil der expressionistischen Revolte dar. Der Aufstand galt nun nicht mehr der allmächtigen Autorität an sich, sondern nur einer bestimmten Erscheinungsform der Autorität, die als deren Perversion empfunden wurde.

Luis Trenckers "Rebell" (1932) verkörperte einen solchen Feind des herrschenden Regimes, der weniger Ähnlichkeit mit einem demokratischen Revolutionär hat als mit den nationalen Freiheitshelden, als welche die Nazi sich gern sehen wollten. "Der Rebell" bestätigte die weitverbreitete Meinung, dass das herrschende wirtschaftliche Dilemma nicht eine kapitalistische Krisenerscheinung sei, sondern ein von den nationalen Gegnern Deutschlands arrangiertes Manöver, dessen Lösung nur in einer nationalen "Erhebung" und in der Unterordnung unter einen starken Willen bestehen könne.

Auf derselben Linie liegt auch "Yorck" (1931), der, wie das Programm des Films mitteilt, "ein Soldat war, der gegen den König zum Heil des Königs rebellierte" - hier zeigt sich ganz deutlich, dass die angestammte Obrigkeitstreue nur für einen Augenblick Urlaub von sich selbst nahm, um die erschütterte Autorität um so sicherer neu zu etablieren.

Freilich fehlte es in diesen Jahren vor dem Ausbruch des "Dritten Reichs" auch nicht an Filmen, die das Vorhandensein eines demokratischen Widerstands gegen den autoritären Trend bezeugen. In Filmen wie "Mutter Krausens Fahrt ins Glück", "Überfall" (1929), "Westfront 1918" (1930), "Die Dreigroschenoper", "Mädchen in Uniform", "Berlin-Alexanderplatz", "Niemandsland" (1931) und "Kuhle Wampe" (1932) erlebte der deutsche Film auch seine zweite künstlerische Blüte. "Künstlerische Qualität und ,linke' Sympathien schienen identisch zu sein," schreibt Kracauer. Freilich offenbaren diese Filme bei näherem Hinsehen auch wieder die innere Schwäche der demokratischen Position. Die "linken Sympathien" werden nicht durch analytische Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge gestützt; Krieg und Elend werden zwar treffend gezeichnet, ihre Ursachen bleiben aber ausserhalb der Diskussion.

Im "Dritten Reich"

Das "Dritte Reich" bereitete dieser zweiten Blüte der deutschen Filmkunst schnell ein radikales Ende. Es konnte dies verhältnismässig unbemerkt bewerkstelligen, da sich der Protest doch nur auf eine sehr kleine Gruppe von Filmen mit geringer Anziehungskraft beschränkt hatte.

Aufs Ganze gesehen bedeutete die Einrichtung der nationalsozialistischen Filmkontrolle keinen so tiefen Einschnitt. Die Mehrzahl der Massnahmen, die von den neuen Machthabern ergriffen wurden, betraf wirtschaftliche und organisatorische Dinge und diente nur indirekt der politischen Indoktrination. Die ersten ausgesprochen politischen Aktivitäten gingen nicht von der NS-Regierung aus, sondern von unabhängigen Produzenten. Die Reaktion der Machthaber auf Filme wie "SA-Mann Brand" und "Hans Westmar" (beide 1933) war ausgesprochen kühl, letzterer sogar zeitweilig verboten. Schon 1934 wurden "die Partei und ihre Gliederungen" (mit Ausnahme der Hitler-Jugend) für den Film tabuiert.

Die Propagandisten des "Dritten Reichs" erkannten richtig, dass sie ihren Zielen nachhaltiger dienen konnten, wenn sie sie hinter der Maske unpolitischer Unterhaltung verbargen oder im Gewände der nationalen Historie suggerierten. Dazu brauchten sie von den bisher beschrittenen Wegen kaum abzuweichen. Ein Film wie "Flüchtlinge", der 1933 mit den höchsten Prädikaten bedacht wurde, hätte ebensogut bereits ein Jahr früher gedreht werden können, und ältere Ufa-Filme wie "Der Choral von Leuthen" sahen wir noch kurz vor Kriegsende in den von der HJ veranstalteten "Jugendfilmstunden". Sätze wie: "Wir werden bald wieder marschieren müssen, sonst haben wir keine Heimat mehr auf diesem Boden!" und: "So ein Wetter wie diesen Krieg brauchen wir Deutschen von Zeit zu Zeit, damit wir wieder zu Kräften kommen" - diese Sätze stammen aus Ufa-Filmen der vornazistischen Zeit; deutlicher konnte Goebbels als Drehbuchautor auch nicht werden.

In der Pflege des autoritären Mythos trafen sich natürlich die traditionellen Kräfte mit dem Nazismus. Das Motiv der Unterwerfung aus dem alten "Fridericus"-Film tauchte wieder auf in dem vielfach prädikatisierten "Der alte und der junge König" (1935). Veit Harlans "Der grosse König" (1941) bildet in gewisser Weise die Synthese aller autoritären Motive der deutschen Filmhistorie. Wenn dies auch der reinste autoritäre Film ist, den die deutsche Produktion hervorgebracht hat, so enthält er doch im Einzelnen nichts, was nicht bereits früher dagewesen war und heute wieder anzutreffen ist.

Dem hat ja auch die Filmselbstkontrolle Rechnung getragen, als sie den Liebeneiner-Film "Die Entlassung" (neuer Titel "Schicksalswende"), seinerzeit auf Anregung von Goebbels gedreht und mit den höchsten Prädikaten ausgezeichnet, zur Wiederaufführung zuliess, ungeachtet des Umstandes, dass er vom ersten bis zum letzten Meter eine autoritäre Sprache redet und auf eine rückhaltlose Verherrlichung einer antidemokratischen Führergestalt hinausläuft. So ist es nicht einmal paradox zu nennen, dass auf diese Weise 1955 aus dem Kinolautsprecher Sätze erklingen, die aus Goebbels' eigener Feder stammen, die er selbst mit dem berüchtigten Grünstift in das Drehbuch von Felix von Eckardt hineingeschrieben hat, wie dieser, der Bismarck zum Vorläufer des Nazismus stempeln soll: "Einen deutschen Staatssozialismus müssen wir anstreben, aber von oben, nicht unter dem Druck der Strasse", und die Ausfälle gegen Parlamentarismus und Sozialdemokratie.

Im Zeichen der Restauration

Auch in der westdeutschen Nachkriegsproduktion blieb die Grundhaltung trotz wechselnder Stimmungen konstant. Der Wunsch nach Ruhe, nach Befreiung von der individuellen Verantwortung und nach der Aufhebung aller Widersprüche steht hinter dem makabren Pessimismus der Trümmer- und Dirnenfilme der ersten Nachkriegsjahre ebenso wie hinter dem fadenscheinigen Optimismus heutiger Streifen. Am meisten ehrliche Bemühung ist noch in den ersten Nachkriegsfilmen anzutreffen. Aber selbst Käutners "In jenen Tagen" (1947), sicher noch immer der erfreulichste Beitrag des neuen deutschen Films, bleibt stecken in der Darstellung rein privater Menschlichkeit, die so leicht über die Notwendigkeit politischen Handelns hinwegtäuscht.

Mit der Rückkehr zu wirtschaftlicher Stabilität und Normalität hat den allgemeinen Pessimismus ein nicht minder leichtfertiger Optimismus ersetzt: auf die Illusionen in Moll folgten die Illusionen in Dur. Der Fortbestand des trüb-sentimentalen Genres zeugt indessen von der brüchigen Basis des neuen Optimismus, der eher auf einem blinden Glauben an die herrschende Prosperität als auf einem vertieften Selbstvertrauen gegründet zu sein scheint. Geblieben sind über alle Stimmungsumschwünge hinweg der Quietismus, die Passivität und der Fatalismus, denen das Leben nie als Aufgabe erscheint, sondern als eine "schicksalhafte" Gegebenheit, die - im Bösen - ertragen oder - im Guten - genossen werden muss.

Von den "klassischen" deutschen Filmen unterscheidet die neuen eins ganz wesentlich: Die alten Filme hatten sich nicht dem Fatalismus ihrer Helden hingegeben. Präzise Beobachtung und Gestaltung schufen eine Distanz, die Raum liess zur kritischen Reflexion; Jannings als Ünrath" und Lorre in "M" erschienen als die unerwachsenen Hörigen, die sie waren. Die neuen Filme hingegen beschönigen das Versagen ihrer Helden und arrangieren es als die schöne Geste des Opfers und der "edlen Resignation". Die in ihrem ganzen repressiven Wesen Unfreien werden als die wahrhaft Freien, ihre Willenlosigkeit und Beschränktheit als Tugend ausgegeben.

Zwischen der künstlerischen Belanglosigkeit all dieser Streifen und ihrer Mentalität besteht ein kausaler Zusammenhang. Der passive, quietistische Charakter der Haltung prägt die Optik und den Dialog. In starren, äuf schön" fotografierten Einstellungen läuft die Geschichte ab; die Darsteller der psychologisch ganz indifferenten Helden bewegen sich wie Gliederpuppen. Die Unwandelbarkeit des edlen Charakters lässt kein bewegtes Spiel zu; die Darsteller müssen posieren - nicht nur, weil sie es nicht anders vermöchten, sondern vor allem, weil die starre Respektabilität des Charakters die Pose fordert. Natürlich wäre es auch möglich - ja sogar notwendig -, den passiven Typus und sein falsches Bewusstsein filmisch zu gestalten; dazu wäre aber eben jene Distanz vonnöten, die der deutsche Film spätestens seit 1933 gegenüber seinen Helden nicht mehr kennt.

Die autoritären Neigungen scheinen durch die wirtschaftliche Prosperität und die durch sie gesicherte Autonomie des Privatlebens einstweilen paralysiert. Ihren latenten Fortbestand verrät indessen ein Film wie "Sauerbruch". Der untadelige Chirurg, der in schlafwandlerischer Sicherheit und auf Grund eines rätselhaften Geheimwissens jedes Leid zum Guten wendet - sofern sich der Patient ihm nur recht vorbehaltlos anvertraut -, ist das Sinnbild einer Autorität, die nie versagt. Sauerbruch, wie ihn der Film zeigt, gibt genau jene Mischung aus Güte und Überlegenheit, die am "grossen Manne" imponiert. Seine Ähnung" ist zuverlässiger als die wissenschaftliche Analyse: gegen den Augenschein des Röntgenbildes stellt er seine Diagnose - und sie stimmt.

Die politischen Implikationen dieses Autoritätsbegriffs enthüllt ein Film wie Harald Brauns "Der letzte Sommer". Da begibt es sich, dass ein oppositioneller Student einen Anschlag auf sein Staatsoberhaupt verübt; der misslingt, der Attentäter selbst wird für den Lebensretter des Präsidenten gehalten und von diesem in sein Haus aufgenommen, wo er in dem gehassten Gegner einen Familienvater und Musikfreund von hohen menschlichen Qualitäten kennenlernt, so dass er am Ende seinen revolutionären Neigungen abschwört. Bemerkenswert ist, wie da ganz selbstverständlich das Recht auf der Seite der etablierten Mächte ist und deren Gegner sich durch seine kriminellen Methoden von vornherein ins Unrecht setzt, und dass Recht und Ordnung in der Verkörperung durch einen starken und gütigen Mann auftreten, der offenbar die Staatsgeschäfte ganz allein lenkt.

In den beiden letzten Jahren ist der "Rebell" erneut zu einem Klischee der deutschen Leinwand geworden. Indessen: es ist das bis zum völligen Konformismus abgeschwächte oder pervertierte Bild der Rebellion, das uns hier entgegentritt. Wir sind bereits kurz auf die neuen "Widerstands"-Filme eingegangen (s. Heft 1, Panorama 1955). "Canaris" war der erfolgreichste und symptomatischste dieser Streifen. Wie in seinem Vorbild, dem amerikanischen Rommel-Film, wurde in ihm der Widerstand über eine Randfigur angegangen. Immerhin hätte diese Gestalt eine ausgezeichnete Grundlage geboten für eine soziale Tragödie, die Tragödie des deutschen Bürgers, der - mangels demokratischer Leitbilder für sein politisches Handeln- im Zerbrechen seiner gesellschaftlichen Ordnung Zuflucht sucht bei zweifelhaften Lösungen, deren Folgen er selbst verabscheuen muss. Von einer solchen Konzeption, die allein auch den historischen und biographischen Tatsachen gerecht geworden wäre, lässt der Film nichts spüren. Er gibt seinen Helden distanzlos ohne Zwiespalt, verlagert die Spannung nach aussen in den schiefen Gegensatz zwischen Konservativem (Canaris) und Nazi (Heydrich) und verlässt sich auf Rü HREFFEKTE WIE DIE NECKISCHEN DACKEL, DIE DEM TODESwagen nachlaufen.

Käutners "Des Teufels General" unterzog die Vorlage von Zuckmayer einigen bezeichnenden Veränderungen. In der Schönheitsoperation, die an der Rolle des Chefingenieurs Oderbruch vorgenommen wurde, enthüllt sich der falsche Ansatzpunkt: statt die Einsicht in die Notwendigkeit des Widerstands zu stärken, bemüht sich der Film um die guten Gefühle. Die Auseinandersetzung wird von der politisch-moralischen Ebene auf die emotionale verschoben, wo sie keinesfalls hingehört.

Die Perversion der Revolte haben wir in "08/15" erlebt. Die äbenteuerliche Revolte des Gefreiten Asch" war in Wahrheit die perfideste Bestätigung des Status quo. Die Spiegelfechterei fand ihren konsequenten Abschluss, wenn der "Rebell" Asch am Ende des ersten Teils von seinem Vorgesetzten für "selbständiges Denken" belobigt und zum Unteroffizier befördert wurde: das System der Gewalt hatte sich nicht nur behauptet, sondern auch seinen Gegenspieler - der freilich nie einer war - integriert.

Zwischen den Polen

Es waren so stets dieselben Themen, mit denen der deutsche Film vorzugsweise sich beschäftigte, wenn auch in wechselnden Gestalten. In seinen besten Augenblicken hat er es verstanden, von den Leitbildern subalternen Denkens und Handelns sich zu distanzieren, sie einer profunden Kritik zu unterziehen oder offen gegen sie zu rebellieren. Es waren dies die Augenblicke wirtschaftlicher und politischer Zusammenbrüche, der Zusammenbruch des Kaiserreichs 1918, die Wirtschaftskatastrophe 1930, der Untergang des "Dritten Reichs" 1945. Aber selbst in der Revolte hat der deutsche Film nicht die Freiheit zu einem konstruktiven Selbstvertrauen gefunden, ist er im Anti-Affekt steckengeblieben. Um so leichter ist dann den restaurativen und autoritären Kräften der Gegenschlag gefallen: 1924 und 1948 mit der wirtschaftlichen Konsolidierung, 1933 mit der "Machtergreifung" der Nazi.

Das Absterben der revolutionären Hoffnungen, die Paralyse der demokratischen Aktivitäten und die Verdeckung der sozialen Spannungen unter trügerischer Prosperität bedeuteten stets auch den Niedergang der Filmkunst in Deutschland, die ihnen ihre Impulse verdankte. Nur von ihrem Erwachen, von ihrer Erkenntnis, vom Nonkonformismus der Unzufriedenen ist letztlich deren Renaissance zu erhoffen.

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Der Terminus "Ideologie" wird von uns im Sinne der folgenden Definition von Karl Jaspers verwandt:

Ideologie heisst ein Gedanken- oder Vorstellungskomplex, der sich dem Denkenden zur Deutung der Welt und seiner Situation in ihr als absolute Wahrheit darstellt, jedoch so, dass er damit eine Selbsttäuschung vollzieht zur Rechtfertigung, zur Verschleierung, zum Ausweichen, in irgendeinem Sinne zu einem gegenwärtigen Vorteil. Die Auffassung eines Denkens als Ideologie bedeutet daher Entschleierung des Irrtums und Entlarvung des Bösen. Die Benennung eines Denkens als Ideologie ist der Vorwurf der Unwahrheit und Unwahrhaftigkeit und ist damit der heftigste Angriff.       (Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte)


Der Film von Morgen Eine Apologie der Breitwand       Chris Marker

Die Proportionen des Cinerama in New York, die des Cinemascope in Europa, die breite Leinwand, 3-D, all diese Dinge, von denen 1953 die Zeitschriften voll waren und es heute noch sind - das sind keine Dinge, die man mit einem knurrigen "Hm - wichtiger ist, dass anständige Filme gemacht werden!" abtun kann, etwa in dem Ton unserer Grossväter, die vom Automobil sagten: "Hm - ein gutes Pferd ist mir lieber!" Es ist vermutlich richtiger, den neuen technischen Errungenschaften mit Vertrauen zu begegnen, und in ihnen von vornherein eine Antwort auf die verwirrendsten Fragen zu sehen, die der Film stellt. Eine davon ist die Einbeziehung des Theaters. Angesichts der dreischichtigen Leinwand des Cinerama, seiner Wiederherstellung einer vollen Welt mit ihrem Umfang und ihren Farben, seinem Gesichtsfeld, das den Bedingungen der Wirklichkeit sehr nahe kommt, kann man nicht umhin, an ein geschmeidigeres, verfügbares, unbegrenzt zugängliches Theater zu denken, wahrhaft eine Erfindung der Buchdruckerkunst für das Theater, aber an eine, die sich nicht mit platter Wiedergabe begnügt, sondern es um alle Freiheiten bereichert - wie auch die gekrümmte Form der Bildfläche unweigerlich an Antonin Artauds Theâtre de la cruauté erinnert, mit seinem Spiel ringsum, das den Zuschauer einkreist und in die Handlung hineinzieht, der er bis dahin als Gaffer zusah, wie durchs Fenster oder durchs Schlüsselloch.

Man kann sich fragen, warum die Begriffe von Theater und Film seit jeher so eng miteinander verbunden waren, und inwiefern der Film dem Theater verwandter ist als der Jahrmarktsschaubude etwa, auf der er ja seine ersten Schritte tat, oder dem Zirkus, oder - warum nicht? - Stätten, die der Tiefenschicht seiner Funktion nahestehen, dem Restaurant oder dem Lupanar. Die Gleichheit der Architektur erklärt nicht alles, es wäre gewiss ein Irrtum, sich die Geschichte des Films im Grossen und Ganzen als die eines Ablegers des Theaters vorzustellen, der sich nach einer Zeit des Protektorats allmählich seinen eigenen Bereich erobert hat. Im Gegenteil: während die meisten grossen Entdeckungen sich aus einem Missverständnis ergaben, und Amerika fast immer von jemandem entdeckt wurde, der Indien suchte, hat sich die Technik des Films sofort in ihrer ganzen Reichweite bekundet. Die ersten Filme hatten nichts mit dem Sonderfall zu tun, als der sich dann später das Film-Schauspiel einstellte, also auch nichts mit dem Theater - sie stiessen schnurstracks zu den entferntesten Grenzen ihres Gebietes vor, durch Wiedergabe wissenschaftlicher Forschung (Marey, Muybridge) oder der Naturwirklichkeit (Lumière). Das Theater sollte erst später kommen, und nicht als Eroberer dieser neuen Darstellungsform, sondern selbst erobert und umgestaltet.

Es war, wohlgemerkt, auch der Weg zur faulen Bequemlichkeit. Man weiss, zu welcher Verarmung das allzu verlockende Rezept führte, vor der Kamera ein berühmtes Stück von berühmten Schauspielern wie auf der Bühne spielen zu lassen. Aber diese Stockung lag in der Natur der Dinge, und wichtig ist, dass am Ende einer Metamorphose das "verfilmte Bühnenwerk" seine theatralische Aufgabe um so treuer erfüllte, je mehr es sich den eigentlich kinematografischen Ausdrucksmitteln unterwarf.

Denn was man Treue zum Bühnenwerk nannte, war in Wirklichkeit Treue zu einem Ritual, eine rein formale Treue, eine Treue des Etiketts. Dass der Mensch gern an seinen Grenzen festhält und in ihrer Umgestaltung immer ein wenig Häresie erblickt, ist ein bekannter Vorgang. So legte man auch der räumlichen Beschränktheit des Theaters, seiner Ohnmacht im Hinblick auf die Zeit, dem Festgebanntsein des Zuschauers einen tieferen Sinn bei. Die unleugbare Magie, die von den Kulissen, den Logen, dem Parkett, der Erwartung, der Teilung in Akte ausströmte, wie von der Erwartung der Schauspieler in Fleisch und Blut - statt als glückliches Geschenk, als Beigabe eines bestimmten und provisorischen Stadiums des dramatischen Wirkens angesehen zu werden, wurde sie zum Wesentlichen gemacht, zum Mark seines Lebens. Verlor man sie, verlor man alles.

Dabei hatte das Theater an dem Tage, da ein Direktor zum ersten Male ein Opernglas in die Hände eines Zuschauers legte, von vornherein zugunsten eines Faktors abgedankt, der dem Zuschauer Macht gab, sich über seinen Platz zu erheben, in das Stück einzutreten, vor Cleopatras Nase aufzutauchen, oder umgekehrt auf einen Turm zu steigen, um die marschierende römische Armee zu besichtigen, was sage ich: Cleopatra mit Antonius' Lippen zu küssen und selbst den Galopp von tausend Pferden zu spüren. Dieser Drang zur Bewegung, der bildenden Kunst seit den Tagen der Felsenmalerei innewohnend, der in den ägyptischen Fresken ungeduldig hervorbrach wie in den Gobelins von Bayeux - ihn gab es auch, viel unbestimmter, auf dem Theater. Die Gesten des Schauspielers vor einem bewegungslos verharrenden Publikum ergänzte der Schauspieler, unbewegt den Blickwinkeln des wissbegierigen Zuschauers ausgeliefert.

Dieses hier und da auftretende kinematografische Bemühen des Theaters, über den allzu groben Behelf des Opernglases hinaus und einmal bis zu seinen Grenzen vorgestossen, löste sich in Trick, in Magie oder in Verzicht auf. In Trick durch den schnell sich erschöpfenden Rückgriff auf die Maschinerie - in Magie durch Suggestion, Illusion (Pantomime, Expressionismus oder Inschriften, Debureau, Piscator und Père Ubu) - in Verzicht durch die gleiche Umkehr zur inneren Welt (klassische Tragödie und romantisches Drama), die auch von der Malerei erlebt werden sollte, als sie, aber viel später, mit ihren Problemen fertig geworden war. Nach dieser Art Regentschaft über Raum und Bewegung, die Theater und Malerei in ihrem Beginn auf sich nahmen, sollte sich der Film als ihr Erbe zu erkennen geben, dem einen wie der anderen jene Bereiche überlassend, die ihren spezifischen Schranken angepasst waren, ihre Eroberungen mit seinen eigenen Mitteln vollenden und ihre Prophezeiungen bewahrheiten.

Als Cocteau in den "Parents terribles", Laurence Olivier in "Henry V" und im "Hamlet" gerade von der Kamera die Rolle des während des ganzen Stückes unsichtbaren Zuschauer spielen liessen, immer spähend, versteckt, neugierig, sich vordrängend oder flüchtend, Personen und Handlung in einen dramatischen Raum folgend, der auf die Möglichkeiten des Schlittens zugeschnitten war (das travelling zu Beginn des "Hamlet" hatte ganz den Wert der szenischen Anweisung, die dem Texte des Stückes vorausgeht: "die Szene stellt das Schloss Helsingoer dar"), ja bis zum wirklichkeitsgetreuen Anblick der Reiterattacke von Azincourt ging - da hatten die Anhänger der Theatertradition sofort einen Einwand bereit: gerade in der theatralischen Phantasie, in diesem Spielraum zwischen dem Appetit des Zuschauers und den physischen Möglichkeiten des Theaters, in dieser Leere, die zu füllen ist, gerade in ihr habe die Magie ihren Sitz. Kein Funke springt mehr, wenn man diesen Raum zwischen den Polen beseitigt. Kein Bemühen mehr, kein Dialog zwischen Mensch und Drama, alles vorgekaut, alles verdaut, mithin: keine Anstrengung, keine Kraft, Passivität, Dekadenz, Trägheit, Sattheit, Rückschritt, Stillstand, Entweihung. Dieses Argument hat den Schein für sich, kennen wir doch nur zu gut diese Tendenz unserer Zeit, eine Kultur - oder ihren Ersatz - gebrauchsfertig einzunehmen, die Zuschauer ohne Nerv schafft, ohne Spannkraft, ohne Widerstand, bereit, alles zu schlucken, und die uns das aufreizende Schauspiel jener nach Millionen zählenden Zeitgenossen bietet, die sich in den Filmtheatern drängen mit ebenso wenig Sammlung als wohnten sie der Messe bei.

Jedoch - man kann sich fragen, ob diese scheinbare Besorgnis um die Freiheit des Zuschauers das wahre Problem nicht maskiert. Wenn man diese Kritik ad absurdum führen wollte, so hätte man leichtes Spiel, sie gegen das Theater selbst zu kehren und ihm den Roman entgegenzustellen, in dem der Einbildungskraft ja noch weit mehr Spielraum gelassen wird, in dem kein Gesicht und keine Dekoration sich der Handlung aufzwingt - und ihm das Gedicht, wo doch auch weder Beschreibung noch Beschränkung ist, und Valéry es nicht über sich bringen konnte, zu schreiben: "die Marquise ging um 11 Uhr zum Tee" - und diesem die Musik - und ihr das Schweigen. Am Ende mündet diese idealistische Erwägung in den Begriff der totalen und präexistenten Kenntnis des Zuschauers, die nur einer diskreten Maieutik bedarf, um offenbart zu sehen, "was sie von Ewigkeit weiss".

Es ist schwierig, den Begriff eines ursprünglichen Bewusstseins, das sich entdeckt, zu vereinbaren mit dem einer ursprünglichen Leere, die sich erfüllt. Hier wie auf vielen anderen Gebieten ist eine dichte Scheidewand zwischen der Welt des Bewusstseins und der Welt der Aktion, zwischen dem Menschen, der ist, und dem, der sich schafft. Je nachdem die Welt des Dramas von Beginn an im Besitz des Zuschauers ist, oder ob sie im Gegenteil von ihm ganz und gar und bis in die kleinste Einzelheit, erobert werden muss, wechselt die Funktion der Einbildungskraft ihren Sinn. Sie wird eine Ausscheidung des Geistes sein, Trägerin seiner eigenen Bilder, oder im Gegenteil Anpassung des inneren Auges an gegebene Gegenstände, ihm fremde und, in gewissem Sinne, unvorstellbare.

Dass die Wirklichkeit mehr überrascht als die Phantasie ist ja nunmehr, Gott sei Dank, eine Binsenwahrheit geworden. Förderndste Funktion des Schauspiels ist demnach die Neuerfindung von Wirklichkeit, die Konstruktion des Zufälligen. Man weiss, das Wunderbare wirkt nur durch Präzision, und wenn sein Räderwerk auch nur den geringsten Spielraum lässt, so lenkt er uns, statt den Geist in eine gesteigerte Freiheit emporzureissen, auf seine Wurzeln zurück. Ein Mensch, der im Dahinträumen die schönste Musik der Welt zu hören vorgibt, hört nur seiner eigenen Selbstgefälligkeit zu - ein "Brandenburgisches Konzert" erfindet er sich nie. Deshalb wirken die verschiedenen realistischen Vermögen des Films: Bild, Farbe, Relief eher auf eine Steigerung der Aktivität des Zuschauers hin. Der Sinn dieses Mittuns und seine Folgen, seine Qualität, seine Grenzen, seine Unzulänglichkeiten - das sind wieder ganz andere Probleme. Wesentlich aber ist, dass in einem Zuschauer, von Laurence Olivier genötigt, die Reiterattacke von Azincourt mitanzusehen, gewiss weniger Passivität zu finden ist, als in dem Zuschauer des Globe-Theaters, dem "Freiheit" gelassen ist, sie zu rekonstruieren. Die Nachgiebigkeit uns selbst gegenüber, zu der das Stadium der Träumerei ermutigt, hat zur Folge, dass es schwer zu überschreiten ist; man muss den Traum, der ein Tun, wohl von der Träumerei unterscheiden, die passiv ist. Der Begriff des Traums, auf den Film übertragen, hat immer etwas von Verschwommenheit und Weichlichkeit mit sich gebracht, in dem unsere Faulheit ihr Behagen findet. In Wahrheit ist es so, dass der Film gerade dann zu wirken beginnt, dass der Austausch sich dann einstellt, wenn alle Wege des Entschlüpfens verstellt, alle Türen verrammelt sind, wenn er sich als unnachgiebig erweist gegen das innere Schmatzen des Tiers in uns, das sich in seiner eigenen Substanz gefällt.

Je nachdem also, ob man die Einbildungskraft als Drüse oder als Auge nimmt, wechselt die Basis der kritischen Stellungnahme zum verfilmten Theater. Aber dieser Streit, der in den Vorkriegsjahren wogte und gelegentlich jetzt noch aufflackert, hat zumindest das Verdienst, die fundamentale Doppelnatur des Films und die Imperative, auf die er sich in Ermangelung von Gesetzen gründet, recht ins Licht zu setzen. Der Konflikt zwischen Bühnenkunst und Filmkunst schloss den Glauben an die Existenz einer eigenen kinematografischen Kunst ein: den reinen Film. Aber nein, sagt man: der Film ist eine Kunst, die siebente, eine Muse, die zehnte, er verträgt keine Kompromisse, sein gläsernes Auge auf Theaterstücke richten, das hiesse, ihn sich selbst entfremden, ihn verfälschen: er wäre nicht mehr Film. Solch ein unbeugsamer Filmmann kommt am Ende mit dem fanatischen Anhänger des Theaters überein, von dem vorhin die Rede war. Gewiss, der Film lernt in dem Grade, in dem er älter wird, die Kunst der Nuancen, und die lapidaren Behauptungen aus seiner frühen Jugend bekommt man kaum noch zu hören. Indessen der Begriff eines Films ganz für sich, eines Films, der nicht als Ausdrucksmittel, sondern als "Natur" aufgefasst wird, lebt weiter, hier und da spukend, auf der Lauer - und trägt dazu bei, jede Kritik zu verwirren. Sicheres zu sagen ist schwierig auf einem Gebiete, das keine zusammenfassende Studie, keine Untersuchungsmethode, keine vollständige Forschung kennt, auf dem sie nicht einmal möglich erscheinen. So lüftet jeder seinen kleinen Zipfel des Schleiers, er baut an der Wegkreuzung seines Geschmacks und seiner Erfahrungen ein gebrechliches System von ästhetischen Gesetzen - und dieser Aufsatz hier erhebt nicht den Anspruch, eine Ausnahme zu bilden. Der Film hält eben noch beim Gewohnheitsrecht. Unverfrorenster Empirismus herrscht noch in seinem Studium wie in seinem Schaffen. Die Schaffenden selbst, schlecht unterrichtet über das Schaffen der anderen, in eine Einsamkeit verkapselt, die in anderen Zeiten der Tribut war, den das Genie entrichten musste, leider ohne dass sie notwendigerweise Genies ergäbe, tasten sich vorwärts und lassen als Vermächtnis eine gewisse Anzahl von Tricks und Rezepten zurück, die wie eine Grammatik aufgenommen werden und in Wirklichkeit noch nicht einmal eine Orthografie sind. Und das einzige Gelände, auf dem sie sich begegnen, das zu respektieren sie alle gezwungen sind, ist das der Verbote, seien es die der Zensur, seien es die des box office.

Diese Isolierung, dieser Empirismus liefern natürlich einen günstigen Boden für alle Arten von voreiligen Theorien und für alle Alibis. Eine seltsame Begriffsverwirrung hat entstehen können - zwischen Durchführung und wesentlicher Natur -, der zufolge ein Film je nach seinem Thema mehr Film oder weniger Film sein soll, während doch niemand auf den Gedanken verfiele, zu sagen, ein Gemälde sei, je nach seinem Sujet, mehr Bild oder weniger Bild. Paradox genug, eine autonome Kunst wie die Malerei gibt das Beispiel der Freiheit, während man im Film Terror und Purismus herrschen lassen will. Diese Sehnsucht, Film zu sein und nichts als Film, ist vielleicht nur ein erstes, verlarvtes Auftauchen einer Frage: wenn es nun den Film überhaupt nicht gibt? Wenn er nur ein bequemer Sammelname wäre, um einen neuen Zustand der älteren Künste zu bezeichnen - kurz wenn er, statt die zehnte Muse zu sein, das Geschenk der Technik an die neun früheren wäre - und wenn dieses Geschenk einen Namen trüge: die Freiheit?

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Ein Film, der dieses Namens würdig ist, begegnet den gleichen Widerständen wie das Bild des Malers, sei es von Vermeer, von van Gogh oder von Cézanne. Aber er ist dazu verurteilt, im Museum zu beginnen, wohin die Bilder erst nach geraumer Zeit gelangen. Man wirft ihn der Menge vor. Dann bekommt er seinen Rang zugewiesen, und anstatt nun erst in die Öffentlichkeit zu gelangen, gerät er auf einen absteigenden Ast und kann bald nur mehr auf die wenigen Menschen zählen, die den ersten Betrachtern der Malwerke entsprechen, bevor Auge und Geist sich an sie gewöhnt hatten. Kurz, das Bild, das am Beginn nicht einen Pfennig wert war, wird später einmal Millionenwert haben, und der Film, der am Anfang Millionen wert war, wird, wenn er überhaupt fortlebt, nur im Verfall fortleben.       Jean Cocteau


Film in Europa 1945-1955 - 1. Italien

Filmkunst im Präsens       Enno Patalas

Glanz und Elend des Neorealismus (II) (zu Teil I> und Teil III>

Die Rückkehr zur Normalität

Im Laufe der Jahre 1947 und 1948 wurde im italienischen Film eine gewisse Unsicherheit bemerkbar, die voreilige Beobachter zu der Annahme verleitete, der Neorealismus sei am Ende. Äusserlich stellte sich die Krise als Stoffproblem dar: die Themen des Krieges und des Widerstands waren nicht mehr unmittelbar aktuell, Schwarzmarkt und Korruption nicht unbegrenzt verwertbar.

Die eigentlichen Ursachen der Unsicherheit lagen jedoch tiefer. Die Normalisierung des sozialen und politischen Lebens vollzog sich in einer Weise, die der Widerstand nicht erhofft und erwartet hatte. Die Besetzung des ganzen Landes durch die Alliierten und die Übernahme der Gewalt durch die Militärregierungen hatten den revolutionären Prozess, der in vollem Gange war, abgebrochen. Unter der eingesetzten Regierung restaurierte sich die Vorkriegsgesellschaft erstaunlich schnell. "So standen", schreibt Carlo Levi, "in Italien die alten Parteien wieder auf, es trat sehr schnell wieder eine politische Lage ein, die dank dem traditionellen Antifaschismus in kurzer Zeit zur Wiederherstellung eines präfaschistischen Staates führte, der sich nicht wesentlich von dem unterschied, welchen der Faschismus niedergerissen hatte. Der Kampf der konfessionellen Kräfte der Rechten und der Linken, zwischen Klerikalismus und Kommunismus, war von Beginn an ein Kampf gegen den frischen Geist des Widerstands, der spontan nach neuen Formen gesucht hatte."

Am krassesten trat das Dilemma in den Filmen der weniger bedeutenden Regisseure zutage. Rossellinis einfache Gestaltungsprinzipien hatten zur Nachahmung herausgefordert und eine Reihe von zum Teil nicht unbegabten Epigonen auf den Plan gerufen. Auch die Werke einiger Regisseure, die sich schon früher bewährt hatten, verrieten deutlich den Einfluss Rossellinis. Die meisten dieser Regisseure fielen jetzt wieder zurück in die ausgefahrenen Geleise der Routine. Der interessante Ausnahmefall trat wieder an die Stelle des repräsentativen Wirklichkeitsausschnitts; die bewährten Zugmittel des Sensationalismus und Erotismus wurden wieder hervorgeholt, der Kriminalreisser und die Dialektkomödie wurden zu neuem Leben erweckt. Auf diese Weise kamen Filme wie "Bitterer Reis", "Im Namen des Gesetzes", "Fluch der Schönheit", "Mädchenhandel" und neuerdings die "Brot, Liebe und _..."-Filme zustande. Was von den Errungenschaften der ersten Nachkriegsjahre erhalten blieb, war der Sinn für den natürlichen Hintergrund, der jetzt freilich wieder Kulisse, pittoreske Kulisse vor allem, wird, und der Einsatz von Laiendarstellern, aus denen sich nun aber schnell eine neue Stargarde rekrutiert.

Für das geistige Dilemma des italienischen Films war am aufschlussreichsten der Fall Rossellini, denn der Chef der neorealistischen Schule suchte nicht den bequemen Ausweg in die Schablonen der Dreiecksgeschichte und der künstlichen Spannung. Nach "Paisà" hatte er noch den zwiespältigen Berlin-Film "Germania anno zero" ("Deutschland im Jahre null") gedreht, dessen letztliches Versagen man noch seinem mangelnden Verständnis für das deutsche Problem zuschreiben konnte und der noch genug bewundernswerte Momente realistischer Beobachtung und Verdichtung enthielt, dann die beiden Teile von Ämore": "La voce umana" ("Die menschliche Stimme") und "II miracolo" ("Das Wunder"), Dokumentarfilme über Anna Magnani, die ihre Qualitäten zweifellos mehr dieser grössten Schauspielerin und den Sujets (von Cocteau und Fellini) verdankten als der Regie. Mit "Stromboli", "Francesco giullare di dio" ("Franziskus, der Gaukler Gottes") und "Europa 51" wurde sein Dilemma offenbar. Jeder dieser Filme bildet eine merkwürdige Mischung aus dramaturgischem Ungeschick, brillanter Detailbeobachtung und einem konfusen Messianismus. Der Wunsch, von dem unartikulierten Protest gegen das herrschende Unrecht zu einer positiven Botschaft zu gelangen, führte Rossellini zu den abstrusesten Lösungsversuchen.

Das Versagen Rossellinis ist kein Nachlassen der künstlerischen Gestaltungskraft, wie vielfach vermutet, sondern ein Versagen des politisch-sozialen Bewusstseins. Das filmische Vokabular und die Grammatik sind in "Europa 51" die gleichen wie in "Paisà". Aber die Behandlung der neuen Themen forderte eine kritische Haltung, die der emphatischen Rossellinis genau entgegengesetzt war, eine Kenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge, eine Fähigkeit zur Analyse, die ihm abgingen. In den Widerstandsepen hatte Rossellini dem Pathos des Leidens, das die Zeit erfüllte, unmittelbaren, fast unreflektierten Ausdruck verliehen; diese Filme waren richtig, weil sie sich im Einklang befanden mit ihrer Zeit, die selbst richtig war. Der neuen Realität der restaurativen Gesellschaft ist mit der positiven Schau nicht mehr beizukommen, sie erfordert den bösen Blick eines Clément, eines Zavattini oder Visconti.

Auf die geistige Krise wirkte die Entwicklung der italienischen Filmwirtschaft zunächst noch verschärfend ein. Im Zeichen der allgemeinen Restauration organisierte sich auch der ökonomische Apparat der Filmindustrie neu. Der Konkurrenzkampf, der in der Zeit des Währungswirrwarrs und des Schwarzmarkts praktisch ausgefallen war, setzte von neuem ein, und mit ihm begann wieder das zweifelhafte Ringen um den vermeintlichen Publikumsgeschmack. Die bedeutendsten unter den Nachkriegsfilmen waren unabhängig finanziert worden - "Rom, offene Stadt" beispielsweise grösstenteils von einem Schneider und einer adeligen Dame. Ihren Haupterfolg hatten sie im Ausland gehabt. Auf eine Amortisation durch Export aber konnten sich die Produzenten nicht verlassen. So begann in der italienischen Filmindustrie eine Restauration an Haupt und Gliedern. Der Staat griff durch die Gewährung von Prämien, Steuererleichterungen, Krediten und Importbeschränkungen helfend ein. Das wirtschaftliche Resultat war beachtlich: Innerhalb weniger Jahre stieg die Jahresproduktion der Cinecittà auf über 150 Filme (gegenüber 46 im Jahre 1945 und 119 in der besten Zeit vor Kriegsende) und machte Italien damit auch wirtschaftlich zum Filmland Nummer eins in Europa, das in Übersee nur von den USA, Japan und Indien übertroffen wurde.

Schliesslich profitierten von dem wirtschaftlichen Aufschwung selbst die realistischen Regisseure, wenn auch der allgemeine Trend zum Grossfilm ("Fabiola", "Messalina", "Theodora" usw.) ging. Einige der grossen Produzenten, wie Dino de Laurentiis und Alfredo Guarini, waren aufgeschlossen genug, den realistischen Regisseuren von Zeit zu Zeit eine Chance zu geben - auch auf die Gefahr eines finanziellen Fehlschlags hin. Die kühneren Experimente werden freilich immer noch von unabhängigen Produzenten unternommen; so finanziert de Sica seine Filme zum Teil aus den Gagen, die er als Darsteller in Publikumsfilmen erhält. Da aber der Fall, dass ein Regisseur zugleich ein beliebter Star ist, auch in Italien zu den Ausnahmen gehört (ein zweiter solcher Fall ist de Filippo), stehen den meisten Regisseuren bei der Verwirklichung ihrer ernsthaften Projekte heute grössere Schwierigkeiten entgegen als in den Jahren des allgemeinen Wirtschaftschaos.

Ein Mann, ein Kind und ein Fahrrad

Aus der Sackgasse, in die er geistig und künstlerisch geraten war, wurde der Neorealismus herausgeführt durch einige Regisseure und Autoren, die anfangs im Schatten Rossellinis gestanden hatten. Konnte man 1945 und 1946 mit Recht von einer neorealistischen Schule sprechen, so ist das in den folgenden Jahren nicht mehr möglich. Ihren Fortbestand verdankt die italienische Filmkunst einigen Filmschöpfern, die jeder für sich ihre individuelle Lesart des Neorealismus entwickelt haben. Zum Teil hatten sie auch schon vor oder neben Rossellini zu einem persönlichen Stil gefunden und waren von "Rom" und "Paisà" kaum oder gar nicht tangiert worden.

Das gilt vor allem für das Tandem de Sica-Zavattini. "Kinder sehen uns an" war ihre zweite gemeinsame Arbeit gewesen. Ihren nächsten Film, "Sciuscia", der mit "Rom, offene Stadt" zusammen den Weltruf des neuen italienischen Films begründete, widmeten sie den scugnizzi, den Schuhputzerjungen von Neapel, deren Dasein in der allgemeinen Korruption der Nachkriegsgesellschaft sie mit menschlichem Verständnis und Mitgefühl zeichneten. Deutlich zeigte sich schon hier die Verschiedenheit ihrer Position von der Rossellinis. Das Auge Rossellinis - das Herz de Sicas sind in einer Darstellung des italienischen Films zwei Abschnitte überschrieben. Während Rossellinis Interesse stets dem allgemeinen Geschehen galt, dem grossen historischen Ereignis (s. seine Titel: "Deutschland im Jahre null", Ämore", "Europa 51"), stand für de Sica immer der einzelne Mensch im Mittelpunkt. Er war nicht verschmolzen mit dem allgemeinen Geschehen, sondern stand ihm als leidendes Individuum gegenüber. Die Anonymität der rossellinischen Helden ist der Individualität der Jungen in "Sciuscia" genau entgegengesetzt.

Diese Position macht es verständlich, warum für de Sica der Übergang zur Normalität niemals ein Problem bedeutete. Im Gegenteil: erst die Verfestigung der Lebensformen im Zeichen der gesellschaftlichen Restauration machte "Ladri di biciclette" ("Fahrraddiebe") möglich. Das Geschehen dieses Films, bis heute des bedeutendsten der neorealistischen Bewegung, setzte eine integrale gesellschaftliche Ordnung voraus, in der das Individuum seinen durch die Institutionen bestimmten festen Platz hat. War es bei Rossellini in der Turbulenz der Ereignisse oft die Absurdität, die ergriff und erschütterte, so packt in den "Fahrraddieben" gerade die bittere Konsequenz, mit der sich, unter dem Zwang der gesellschaftlichen Verhältnisse, menschliches Schicksal vollendet.

Erst das Vorhandensein einer festen Ordnung ermöglichte es Zavattini, seine dramaturgische Formel anzuwenden: einen einfachen, individuell bedeutsamen Tatbestand zu konstruieren und seine sozialen Folgen mit wissenschaftlicher Akribie zu entwickeln. Der Tatbestand in den "Fahrraddieben" ist denkbar einfach: ein Mann braucht für seine Arbeit ein Fahrrad; sein eigenes wird ihm am ersten Arbeitstag gestohlen; er muss es zurückbekommen, wenn er nicht wieder arbeitslos werden will. Es ist schon bewunderungswürdig, wie aus dieser Situation ein Geschehen entwickelt wird, das einerseits ein journalistischer Bericht eines alltäglichen Vorganges zu sein scheint und andererseits mit der Folgerichtigkeit einer klassischen Tragödie dem notwendigen Ende zustrebt.

Man kann diese Geschichte erzählen, ohne des kleinen Sohnes des Arbeiters Erwähnung zu tun. Und doch ist dessen Einführung wohl die genialste Idee des Drehbuchs. Der Junge hat, wie Andre Bazin bemerkt hat, die Funktion des Chores in der antiken Tragödie. Der stumme Kommentar seiner Blicke, die den Vater auf seiner Suche und während des Diebstahls begleiten, macht aus der soziologischen Untersuchung eine Tragödie. Er erst lässt das ganze Ausmass der Erniedrigung des Menschen durch die soziale Ordnung ermessen.

Der Stil de Sicas ist mit dem Stichwort Realismus nur unzureichend gekennzeichnet. Er ist von dem poetischen Realismus des französischen Vorkriegsfilms ebenso verschieden wie von dem aggressiven Stil der neueren amerikanischen Schule. Bei den Franzosen hatte jedes dramatische und szenische Detail einen geheimen Sinn: Wenn Gabin in "Le Jour se lève" seine letzte Zigarette ausdrückt, so bedeutet das: er hat kapituliert, und der düstere Himmel der Kanalküste in "Quai des Brumes" ist die Verkörperung des düsteren Geschicks, das auf dem Helden lastet. De Sica und Zavattini vermeiden peinlich Symbol und Allegorie. Bei ihnen bedeutet eine Sache oder eine Geste nur, was sie ist, nichts steht für einen verborgenen Hintersinn, ein Regenguss ist ein Regenguss und nichts weiter. Andererseits verschlingt die Leinwand den Zuschauer nicht, wie in jenem amerikanischen Realismus bei Billy Wilder und Elia Kazan, der aus einigen fotografischen Finessen, kontrastreicher Bildkomposition und dramaturgischem Geschick ein raffiniertes System der Vergewaltigung entwickelt. De Sicas Realismus begnügt sich damit, die Wirklichkeit zu zeigen, wie sie sich dem Auge darbietet. Die Einzelheiten sind mit Bewusstsein ausgewählt, aber sie sind mit keiner partikularen Bedeutung befrachtet. "Von einem unbewussten Misstrauen der Wirklichkeit gegenüber," sagt Zavattini, "von einer illusionären und zweifelhaften Flucht, sind wir übergegangen zu einem unbegrenzten Vertrauen in die Dinge, Tatsachen und Menschen. Eine solche Stellung fordert von uns, dass wir die Wirklichkeit ausgraben, ihr eine Kraft verleihen, eine Mitteilbarkeit, einen Widerschein, von dem wir bisher geglaubt haben, dass die Wirklichkeit sie nicht besässen." (In unserer nächsten Nummer wollen wir Zavattinis Ausführungen über den Neorealismus als künstlerische Methode wiedergeben.) Die Quantität der konkreten Einzelheiten, der handlungsmässig irrelevanten Szenen und Szenerien, schlägt um in eine künstlerische Qualität in dem Augenblick, in dem die objektive Oberfläche transparent wird für das Dahinter der menschlichen Botschaft - mag man diese nun christlich, sozialistisch oder im Sinne einer allgemeinen Humanität formulieren. Seine Direktheit verleiht diesem Stil seine Undurchlässigkeit, die dem Zuschauer keine Möglichkeit des Entrinnens gibt; seine Objektivität lässt ihm die Freiheit der Entscheidung.

"Miracolo a Milano" ("Das Wunder von Mailand") bedeutete keinen Schritt über die Fahrraddiebe hinaus, sondern einen Ausflug in die Gefilde des Märchens, der bewies, dass die Humanität de Sicas und Zavattinis nicht notwendigerweise auf realistische Gestaltungsmittel angewiesen war. Doch der Irrealismus des "Wunders" war keine Formel, die sich weiterentwickeln liesse, sondern ein unwiederholbarer Einzelfall. - Mit ihrem nächsten Film kehrten de Sica und Zavattini wieder zum Realismus der "Fahrraddiebe" zurück. Ümberto D." zeigt im Aufbau wie in der Haltung eine grosse Ähnlichkeit mit den "Fahrraddieben". Der Fortschritt in Richtung auf einen konsequenten Realismus ist indessen unverkennbar: Mehr noch als die "Fahrraddiebe" verzichtet Ümberto D." auf Abstraktionen und dramaturgische Formeln; das Geschehen läuft ab ohne merkliche Verkürzungen, mit lückenloser Folgerichtigkeit, in der Eingriffe von aussen keinen Platz haben. Details wie die Morgentoilette des Dienstmädchens und der Protestmarsch der Rentner sind in sich hervorragende menschliche Dokumente; sie bilden die fortgeschrittensten Ausprägungen dessen, was Zavattini unter Neorealismus verstehen möchte.

"Stazione Termini", eine italienisch-amerikanische Gemeinschaftsproduktion, bewies lediglich die Unmöglichkeit einer Synthese aus Neorealismus und dem Kino der weissen Telephone. "L' Oro di Napoli" ("Das Gold von Neapel"), nach Erzählungen von Giuseppe Marotta, ist ein Episodenfilm von hohem Geschmack und virtuosem Regietalent, weit entfernt hingegen vom Neorealismus (s. unsere Kurzkritik im letzten Heft).

Dagegen greift "II tetto" ("Das Dach"), dessen Verfilmung kürzlich in Angriff genommen worden ist, auf ein altes Lieblingsprojekt Zavattinis zurück. Sein Gegenstand ist wieder von der lakonischen Simplizität der "Fahrraddiebe": ein junges Ehepaar sucht in Rom eine Wohnung _...

Wird fortgesetzt. Teil III> Zurück zum Anfang


Der Neorealismus ist eine Schule des Lebens, mehr als eine Schule der Kunst.       Carlo Lizzani

Er ist begründet auf einer menschlichen und politischen Haltung, der der Ernsthaftigkeit und des Bewusstseins, mit der künstlerischen Tätigkeit eine verantwortliche Aufgabe gegenüber der Gesellschaft zu erfüllen.       Alberto Lattuada

Die eigentliche Aufgabe ist heute, statt imaginäre Situationen in "Wirklichkeit" zu verwandeln, sie "glaubhaft" zu machen, vielmehr: die Dinge so zu machen, wie sie sind, ihre besonderen Eigenarten hervorzukehren.       Cesare Zavattini


Hat Kunst eine Chance? John Grierson

Ein Dichter kann von Pfennigen leben, ein Filmregisseur, selbst ein schlechter, wird sich mit Tausenden befassen müssen. Etwa sechstausend wird ein Kurzfilm nach den üblichen britischen Quoten kosten. Mit sechzigtausend kommt man an die "Chau Chin Chows" heran, die extravaganteren Allüren des napoleonischen DeMille kosten zweihundert und mehr. "Ben Hur" für eine Million und "Hell's Angels" für fast eine Million sind Ausnahmen, die es aber gegeben hat. Die Kosten für einen Film bewegen sich zwischen den Kosten für ein Krankenhaus und den schätzungsweisen Kosten für die Sanierung der Elendsviertel von Southwark.

Das Interessanteste bei diesen gewaltigen Produktionskosten ist die Tatsache, dass sie wieder hereinkommen können. "Ben Hur" brachte viel Geld ein. Man muss sich das einmal vor Augen halten und zugleich die eine Überlegung anstellen, die den Film beherrscht und seine Beziehungen zum Künstler vorschreibt: dass ein Film unendlich oft kopiert und ebensooft vorgeführt werden kann. Er kann Ländergrenzen überschreiten und eine Millionen zählende Zuschauermenge haben. Wöchentlich gehen auf der ganzen Welt zweihundertfünfzig Millionen Menschen ins Kino, von denen jeder einzelne seine Rupie, seinen Yen, Schilling oder Viertel-Dollar für das Vergnügen zahlt. Unter den allgemeinen Faktoren, die das menschliche Gefühl ansprechen, gibt es hochwertige Faktoren wie Humor und Religion und geringwertige wie Sentimentalität und Sensationslust. In der Praxis gibt es nichts Misstrauischeres als eine Million Dollars, doch eine Sicherheit finden sie bei den geringwertigen Faktoren, die die höherwertigen nicht geben können. Wer - besonders unter den Finanzleuten - kann die echten Propheten von den falschen unterscheiden? Der Film hat im grossen und ganzen durch seine falschen Prophezeiungen so viel Vertrauen verloren, dass sein einfacher Instinkt ihm rät, das Prophezeien ganz zu vermeiden.

An den Humor hat er sich treu gehalten. Das Epos hat er in etwa zwanzig Jahren vom Melodrama zu unterscheiden gelernt. Diese haben durch eine glückliche Verbindung von Einfachheit und Tiefe einen guten Ruf beim kommerziellen Film bekommen, ganz besonders die Komödie. Sie stellen die zwei Möglichkeiten dar, einen starken Appell an die menschlichen Gefühle auch in die Tiefe wirken zu lassen. Und weit entfernt davon, die Gesetze der Rentabilität zu durchbrechen, ist durch die Chaplins und "Covered Wagons" bewiesen worden, dass sie sie sogar besonders gut erfüllen. Wie schon die Priester und Medizinmänner einst bemerkt haben, garantiert ein wenig suggestive Beeinflussung bessere Kassenerfolge als schlicht unterhaltsame Darbietungen.

In der Komödie und im Epos aber liegt die Grenze. Grosse Kameramänner geben ihr überragendes Können, grosse Erzähler ihre Erfindungsgabe, grosse Regiekünstler ihr glänzendes Dekor, und die Geduld und das Geschick, die selbst beim Durchschnittsfilm am Werke waren, verdienen höchste Bewunderung. Im Mittelpunkt aber, im Herzen und beim .Grundthema des kommerziellen Films herrschen finanzielle Erwägungen vor. Es sind Überlegungen über grösstmögliche Zuschauermassen und die stärkste Wirkung, die man bei diesen erzielen kann. Manchmal ist in der Komödie und im Epos der Erfolg in seiner einfachen Art glänzend. Fast immer überstrahlt der Glanz der Filmtechnik gigantisch die trivialen und kümmerlichen Probleme.

Deshalb berührt der kommerzielle Film nur in der Komödie, im Epos und gelegentlich im Idyll die Welt der Kunst, und nur hier ist der Film für den Künstler möglich. Und da man beim Epos und Idyll Gefahr läuft, wieder in die Problematik der Voraussagen verwickelt zu werden (man beachte zum Beispiel die Schwierigkeiten Robert Flahertys), ist die Komödie der sicherste Boden. Chaplin, Disney, Laurel und Hardy und die Marx Brothers sind die einzigen relativ unabhängigen Künstler des heutigen Films. Sie haben tatsächlich Freiheit bis hin zur Satire. Hier aber verschmilzt die Komödie mit tiefergehenden Problemen, auf die die Finanzwelt notwendigerweise empfindlich reagieren muss. Sie sind unabhängig, diese Komödianten, bis die Marx Brothers sich in einem bestimmten Augenblick bewusst über das Banksystem, Walt Disney über die amerikanische Verfassung und Laurel und Hardy über das N.A.M. lustig machen.

Auch das Epos kann seinen Weg machen, wenn es so zugeschnitten ist wie "The Covered Wagon", wenn es so sentimental für den Status quo ist wie "Cavalcade" oder so heroisch angesichts des Hungers wie "Nanuk". Der Himmel mag es aber beschützen, wenn, wie einmal in Griffiths "Isn't Life Wonderful", der Hunger nicht bei den Eskimos, sondern bei uns einkehrt. Vielleicht kommt das daher, dass die Leute nicht gern die Welt von ihrer hässlichen Seite sehen, und dass das Gesetz der stärksten Anziehungskraft die Betrachtung weder unserer Narrheiten noch unserer Sorgen gestattet. Fest steht, dass die Filmmagnaten diese Abschweifung bedauern werden, denn sie brauchen den Traum des Ladenmädchens und des Ladenjünglings. Und nach ihm streben sie ausschliesslich. Die Filme unserer modernen Gesellschaft spielen inmitten von Heldentaten, die ausserhalb des Bereichs jeder Fragestellung liegen. Die Umgebung wechselt, und manchmal befassen sie sich auch mit den Fabriken, Krankenhäusern und Telefonämtern des Alltags. Sie greifen sogar so weit zurück, die solideren Prunkstücke der Geschichte einzuschliessen, aber selten wird ein schlichtes oder aktuelles Thema angeschnitten. Industrie und Geschichte könnten jedoch ohne Zweifel dramatische Stoffe abgeben, die uns näher angehen. Im Film tun sie es nicht, weil die Finanzleute es nicht wagen.

Damit will ich die Filmhersteller nicht eines grossen Unrechts überführen. Wie andere Geschäftsleute glauben sie an ihre Grundsätze und sichern sich ihren Profit, und im grossen und ganzen gelingt ihnen das recht gut. In gewissem Sinne kann sich der Finanzmann sogar als öffentlicher Wohltäter betrachten. In einer Zeit, da Glaube, Treue und gute Absichten mehr denn je untergraben sind, ist die Ermüdung des Verstandes - oder ist es die des Geistes - ein wesentlicher Faktor der alltäglichen Erfahrung. Unser Filmmagnat tut nichts anderes, als dass er die guten Gelegenheiten ausnutzt. Er ist also auch, mehr oder weniger offen zugegeben, ein Rauschgifthändler.

Ein kluger Regisseur wird diese Bedingungen von Anfang an als gegeben hinnehmen. Das Geld der Produzenten, die Absatzbedingungen, die Filmtheater stehen gegen jede Abweichung von der Regel. Was er bringt, muss volkstümlich sein, so populär wie möglich. Es muss auch unmittelbar ansprechen, denn das Filmgeschäft duldet nicht jene Politik auf lange Sicht und die späten Erkenntnisse, die in der Kunst die Regel sind. Ein Film kommt in einem Jahr viel herum, und die Reklame, die für einen grossen und sensationellen Erfolg so wichtig ist, begünstigt eher einen Abstecher als eine Rundreise. Das System gestattet nicht die langsame Durchdringung, die dem Maler oder Dichter den Erfolg verbürgt.

Trotz alldem versagt das System bisweilen, und unerwartete Ereignisse kommen dazwischen. Die Welle der Skepsis, die 1918 über Deutschland kam, liess eine ernste Stimmung um sich greifen, die in der Geschäftswelt ganz neu war. Theater und Filmateliers wandten sich in gleicher Weise der Betrachtung des Schicksalhaften zu, und der Film hatte seine einzige tragische Periode. "Das Kabinett des Dr. Caligari", "Der müde Tod", "Die freudlose Gasse", "Der letzte Mann" waren die grossen Filme jener Zeit. Sie waren humorlos und düster, aber mit Phantasie gemacht. Sie gaben dem Film neue Kräfte und machten Regisseure berühmt. Hollywood übernahm fast unmittelbar diese Berühmtheiten. Murnau, Pommer, Jannings, Pola Negri, Lubitsch gingen hinüber, aber in der helleren Atmosphäre von Hollywood und bei dem Umfang seines betont internationalen Marktes schrumpfte ihr Können bald auf ein normales Mass zusammen. Das System absorbierte oder zerbrach sie, wie das immer bei fähigen Ausländern geschieht. Nach einem vergeblichen Kampf kehrte Pommer nach Europa zurück, konnte aber auf der alten Tradition, die er unterbrochen hatte, nicht mehr aufbauen; Murnau kämpfte ebenfalls schwer, und bei einem letzten Ausbruchsversuch drehte er mit Flaherty "Tabu": es war vielleicht zu spät, denn die kostspieligen und seichten Pläne des Ateliers hatten ihn gefangen. Lubitsch entdeckte sein Talent für die Komödie, war herzlich willkommen und wurde absorbiert. Die Geschäftsordnung bestimmt, ob der Künstler oder nur sein Werk in die geschäftliche Atmosphäre übernommen wird. Wie die keltischen Krieger "kommen sie selten wieder, wenn sie nach Westen ziehen".

Die anderen Ausnahmen sind Sonderfälle. Gelegentlich hat ein Regisseur Geld genug, um sein eigenes Unternehmen zu finanzieren. Der Gewinn mag ausbleiben, aber inzwischen kann er sich austoben. Gelegentlich kann ein Regisseur auch einen Hersteller überzeugen oder überreden, dass er etwas Gehaltvolleres als gewöhnlich herstellt. Gelegentlich kann die Bedeutung, die die Öffentlichkeit einer Sache beimisst, geschäftliche Skrupel überwinden. Zu dieser Kategorie gehören gewisse von der Norm abweichende Leistungen von Fairbanks, King Vidor, D. W. Griffith, von Sternberg und Jean Renoir und Originalfassungen von H. G. Wells, Eugene O'Neill und Bernard Shaw. Manchmal hat es auch persönliche Zähigkeit und Unnachgiebigkeit eines Regisseurs fertiggebracht, eine tiefere Wirkung zu erzielen als geplant oder gewünscht war. Zu dieser Gruppe gehören einige der Filme von Stroheims, die besten von Sternbergs, Flahertys "Moana", Dreyers "Jeanne d' Arc" und einige der besten Filme von King Vidor und D. W. Griffith. Aber auch die Zähen leben nicht lange.

Der kommerzielle Film, der nun einmal eine so ungebärdige und ungeheure Macht darstellt, hat sehr viel Unheil angerichtet, hat aber auch sehr viel schlechthin Gutes getan. Selbst in der Welt des Sentimentalen und Sensationellen ist seine Erzählungskunst zuweilen urwüchsig und sein Geist durchdringend, und seine Typen haben mehr menschlichen Anstand als seine Brüder und Schwestern im volkstümlichen Roman und auf der Bühne. Die grosse Masse der verhinderten Talente bringt sich so zu Gehör. Wenn der Film die grossen Schäden der Gesellschaft nicht ausgemerzt hat, dann doch mit Erfolg einige der kleineren. Er hat manche heilsame Lektion über kritische Staatsbürgerkunde erteilt, denn er hat den Leuten gezeigt, wie man auch die Obrigkeit unter die Lupe nehmen kann, wie man ihre Machenschaften erkennt, die sie im Namen des Rechts verüben, und wie man bemerkt, dass die Korruption sogar in den höchsten Stellen wirksam ist. Er hat das Volk gelehrt, sich über seine eigenen und allgemeinen Rechte und Gewohnheiten klar zu werden. Er hat der Welt beigebracht, sich besser anzuziehen, besser auszusehen und sich bis zu einem gewissen Grade besser zu benehmen. Das mag zur Weisheit der Menschheit nichts beigetragen haben, hat ihr aber zumindest den dummen Michel ausgetrieben. Das sind nur so einige kleine Gaben des kommerziellen Films. Er hat uns aber auch schöne Frauen, die frische Luft der Weststaaten, viele schöne Bühnenbilder und glänzende Dekorationen geschenkt. Die fein aufgemachte Kunst, mit der das alles dargeboten wird, entzückt immer von neuem, wenn auch nur ein Fachmann ganz beurteilen kann, was das alles wert ist.

Aus diesem Wirrwarr von guten und schlechten Einflüssen kann man gelegentlich einen Film herauslösen, der an sich gut und anständig ist - geistreich genug, um der soziologischen Kritik standzuhalten. Die Gangsterfilme "Quick Millions" und "Beast of the City" waren gut gemacht, ebenso die Zeitungsgeschichten "Hi! Nellie", "Five Star Final" und "The Front Page", die Gefangenenfilme "I am a Fugitive" und "Twenty Thousand Years in Sing Sing", ebenso wie die Theatergeschichte "42nd Street". Sie haben in dem Masse Ideen und guten Geschmack, wie wir es immer bei Edgar Wallace finden, und das ist so viel, wie ein kluger Kritiker vom dramatischen Film erwarten kann. Ein einziger Film dieser Art gelangte jedoch zu feineren Qualitäten: "Three Cornered Moon". Er erschien bescheiden als zweitklassiger Film, und man war offensichtlich misstrauisch gegenüber seiner abweichenden Art, aber er brachte eine schöne Geschichte von Familienliebe und sagte in aller Ruhe etwas über die Depression in Amerika aus. Unter den sentimentalen Romanzen erschien "Ekstase", kein Film von der üblichen Art, sondern das Produkt einer Laune von Format aus der Tschechoslowakei. Die geschäftstüchtigen Kinos lehnten ihn ab. Die sentimentale Romanze kommt aber doch etwas unterschiedlich vor. Infolge eines grossen regiemässigen Ehrgeizes (oder soll man richtiger sagen künstlerischen Ehrgeizes?) wird die allzu süssliche Traurigkeit des "Seventh Heaven" zum tieftraurigen Sacharin in "The Constant Nymph". Hier ist der Gegenstand der Neigung nicht mehr der reiche junge Mann von nebenan: jetzt ist es der arme junge Künstler in der Mansarde gegenüber.

So erhebt sich der Film mühsam zu höheren Sphären.

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Der Fall Caligari Siegfried Kracauer

Der Tscheche Hans Janowitz, einer der beiden Autoren des Films "Das Kabinett des Dr. Caligari", war in Prag aufgewachsen, jener Stadt, in der Wirklichkeit und Traum verschmelzen und Träume voll von Schrecken sind. An einem Oktoberabend des Jahres 1913 schlenderte dieser junge Dichter durch einen Jahrmarkt in Hamburg, auf der Suche nach einem Mädchen, das ihn durch seine Schönheit und netten Manieren angezogen hatte. Die Jahrmarktszelte zogen sich längs der Reeperbahn hin. Nahebei, am Holstenwall, wachte Lederers gigantisches Bismarckdenkmal über den Schiffen im Hafen. Der schwachen Fährte eines Lachens folgend, das von dem Mädchen herrühren mochte, geriet Janowitz in einen dämmerigen Park, der an den Holstenwall grenzte. Das Lachen, das offenbar dazu diente, einen jungen Mann anzulocken, verlor sich irgendwo im Gebüsch. Als kurz danach dieser junge Mann wegging, tauchte plötzlich ein anderer Schatten auf, der bis dahin hinter den Büschen versteckt gewesen war, und bewegte sich in der Richtung jenes Mädchenlachens. Janowitz warf im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick auf den unheimlichen Schatten; dieser sah wie irgendein Durchschnittsbürger aus. Dunkelheit verschlang den Mann und machte weitere Verfolgung unmöglich. Am nächsten Tag brachten die Lokalzeitungen grosse Schlagzeilen: "Schauerliches Sexualverbrechen am Holstenwall! Die junge Gertrud _... ermordet!" Im dunklen Gefühl, dass Gertrud das Mädchen vom Jahrmarkt sei, wohnte Janowitz der Beerdigung des Opfers bei. Während der Feierlichkeit war es ihm mit einem Male, als ob er den Mörder sähe, der bisher noch nicht festgenommen worden war. Der Mann, den er verdächtigte, schien ihn seinerseits auch zu erkennen. Es war der Bürger - jener Schatten aus dem Gebüsch.

Carl Mayer, der mit Janowitz zusammen das Manuskript zum "Caligari" schrieb, stammte aus der österreichischen Provinzhauptstadt Graz, wo sein Vater, ein vermögender Kaufmann, weiter gute Geschäfte gemacht hätte, wäre er nicht vom Wahn besessen gewesen, sein Glück im Spiel mit wissenschaftlichen Methoden zu versuchen. Im besten Mannesalter verkaufte er seine Habe, ging, mit einem unfehlbaren "System" ausgerüstet, nach Monte Carlo und erschien, völlig ruiniert, einige Monate später wieder in Graz. Unter dem Einfluss dieser Katastrophe setzte der hoffnungslos verrannte Vater den sechzehnjährigen Carl und seine drei jüngeren Brüder kurzerhand auf die Strasse und beging schliesslich Selbstmord. Carl Mayer, selber noch ein Junge, hatte die Verantwortung für die drei Kinder. Auf seinen Wanderungen durch Österreich hielt er Barometer feil, sang in Chören mit und betätigte sich als Statist in Bauerntheatern. Die Bühne zog ihn mehr und mehr an. Und er sammelte während dieses Nomadenlebens praktische Erfahrungen im Theaterbetrieb, die für seine künftige Laufbahn als Filmdichter von unendlichem Nutzen sein sollten. Zu Kriegsbeginn brachte sich der junge Mann damit durch, dass er in münchener Cafés Hindenburg auf Postkarten skizzierte. Später, im Kriege, wurde er, laut Janowitz, wiederholt auf seinen Geisteszustand hin untersucht.

Der Krieg war zu Ende. Janowitz, der ihn von Anfang an als Offizier in einem Infanterieregiment mitgemacht hatte, kehrte als überzeugter Pazifist zurück, beseelt vom Hass gegen jene Autoritäten, die Millionen Männer in den Tod geschickt hatten. Er fühlte, dass absolute Autorität schlecht sei. Er liess sich in Berlin nieder, traf dort Carl Mayer und merkte bald, dass dieser exzentrische junge Mensch, der noch nie eine Zeile geschrieben hatte, seine eigenen revolutionären Stimmungen und Ansichten teilte. Warum sie nicht auf der Leinwand ausdrücken? Berauscht von Paul Wegeners Filmen, hielt Janowitz dafür, dass dieses neue Darstellungsmittel sich für mächtige poetische Offenbarungen eigne. Nach Art der Jugend ergingen sich die beiden Freunde in endlosen Diskussionen, die sowohl Janowitz' Holstenwall-Abenteuer wie Mayers intellektuelles Duell mit dem Psychiater berührten. Diese Geschichten schienen sich gegenseitig zu fördern und zu ergänzen. Im Anschluss an solche Gespräche pflegten dann die beiden durch die Nacht zu wandern, von einem glitzernden und lärmenden Rummelplatz an der Kantstrasse unwiderstehlich angelockt. Es war ein heller Dschungel, Hölle eher als Paradies, und doch ein Paradies für jene, die für die Schrecken des Krieges den Terror der Not eingetauscht hatten. Eines Abends schleppte Mayer den Freund zu der Jahrmarktsnummer "Mensch und Maschine", die ihn beeindruckt hatte: ein Athlet vollbrachte unglaubliche Kraftleistungen in einem Zustand anscheinender Betäubung. Es war, als sei er hypnotisiert. Besonders merkwürdig war, dass er seine Vorführungen mit Äusserungen begleitete, die den gebannten Zuschauern wie gewichtige Vorahnungen erschienen.

Noch in derselben Nacht kam den beiden Freunden die Idee zum "Caligari". Sie schrieben das Manuskript in den nächsten sechs Wochen. Janowitz bestimmt beider Anteil dahin, dass er sich selber den "Vater" nannte, der den Samen säte, und Mayer als die "Mutter", die ihn empfing und austrug.

Die Originalhandlung spielt in einem erdichteten nordwestdeutschen Städtchen nahe der holländischen Grenze, das bezeichnenderweise Holstenwall heisst. Eines Tages zieht dort ein Jahrmarkt ein, mit Karussells und allerhand Attraktionen - darunter der des Dr. Caligari, eines unheimlichen, bebrillten Mannes, der den Schlafwandler Cesare zur Schau stellt. Zur Beschaffung seiner Lizenz begibt sich Caligari zum Rathaus, wo ihn ein anmassender Beamter von oben herab behandelt. Am nächsten Morgen wird dieser Beamte ermordet in seiner Wohnung aufgefunden, was jedoch die Stadtbewohner nicht vom Besuch des Jahrmarkts abschreckt. Unter der Menge, die ins Zelt des Dr. Caligari strömt und dort Cesare langsam aus einer aufrechtstehenden, sargartigen Kiste hervortreten sieht, befinden sich auch Francis und Alan, zwei in Jane, eine Arzttochter, verliebte Studenten. Caligari erzählt dem schaudernden Publikum, dass der Schlafwandler Fragen nach der Zukunft beantworten werde. Alan, stark erregt, will wissen, wie lange er noch zu leben habe. Cesare öffnet die Lippen; es ist, als werde er von gewaltigen hypnotischen Kräften gelenkt, die von seinem Herrn und Meister ausstrahlen. "Bis zum Morgengrauen", antwortet er. Bei Tagesanbruch muss Francis erfahren, dass Alan genau in derselben Weise wie jener Beamte erdolcht worden ist. Der Student, der Caligari in Verdacht hat, überredet Janes Vater, ihm bei seinen Nachforschungen behilflich zu sein. Mit einem Haussuchungsbefehl versehen, dringen die beiden in den Wohnwagen des Schaustellers ein und fordern ihn auf, sein Medium aus der Trance zu wecken. Doch im selben Augenblick werden sie zur Polizeiwache geholt, um dort dem Verhör eines Verbrechers beizuwohnen, der gefasst wurde, als er im Begriff stand, eine Frau zu töten, und nun leidenschaftlich ableugnet, der gesuchte Massenmörder zu sein.

Francis spürt Caligari weiter nach. Kaum ist es Nacht geworden, so späht er verstohlen durch ein Fenster des Wohnwagens. Er glaubt, Cesare in der Kiste liegen zu sehen; aber in Wirklichkeit bricht Cesare zur selben Zeit in Janes Schlafzimmer ein, zückt den Dolch, um das schlummernde Mädchen zu durchbohren, starrt es an, wirft den Dolch weg und flieht, mit der schreienden Jane im Arm, über Dächer und Strassen. Vom Vater verfolgt, lässt er Jane irgendwo zurück; sie wird nach Hause gebracht, während er selber vor Erschöpfung stirbt. Da Jane, im Widerspruch zu dem, was Francis für die Wahrheit hält, darauf besteht, in dem Entführer Cesare erkannt zu haben, sucht Francis ein zweites Mal Caligari auf, um dieses quälende Rätsel zu lösen. Die zwei Polizisten in seiner Begleitung beschlagnahmen die sargartige Kiste und Francis zieht aus ihr - eine Wachsfigur, die den Schlafwandler darstellt. In einem unbewachten Augenblick gelingt es Caligari, zu entkommen. Er sucht Zuflucht in einer Irrenanstalt. Der Student, der ihm auf den Fersen folgt, geht zum Anstaltsdirektor, um Erkundigungen über den Flüchtigen einzuholen, und prallt erschreckt zurück: der Direktor und Caligari sind ein und dieselbe Person.

In der folgenden Nacht - der Direktor ist in Schlaf gesunken - durchsuchen Francis und drei Anstaltsärzte, die er in den Fall eingeweiht hat, dessen Dienstzimmer und entdecken dort Material, das diese Autorität auf dem Gebiet der Psychiatrie schwer belastet. In einem Haufen von Büchern finden sie einen alten Band über einen Schausteller namens Caligari, der im achtzehnten Jahrhundert Oberitalien bereiste, sein Medium Cesare auf hypnotischem Wege zu einer Reihe von Morden zwang und die Polizei durch eine nach Cesare modellierte Wachspuppe über dessen häufige Abwesenheit hinwegtäuschte. Um ihm ein Geständnis abzupressen, konfrontiert Francis den Direktor mit der Leiche seines Werkzeuges, des Schlafwandlers. Als das Ungeheuer merkt, dass Cesare tot ist, beginnt er zu toben. Die Wärter stecken ihn in eine Zwangsjacke.

Diese Schauergeschichte im Geist E. T. A. Hoffmanns war ausgesprochen revolutionär. Janowitz bemerkt rückblickend, dass er und Carl Mayer darin die Allmacht einer Staatsautorität brandmarken wollten, die sich in der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und in Kriegserklärungen kundgab. Die deutsche Regierung im ersten Weltkriege erschien den beiden Autoren als das Urbild einer solchen gefrässigen Autorität. Im Charakter Caligaris sind diese Tendenzen zu Ende geführt; er versinnbildlicht unbegrenzte Autoritätssucht, die die Macht als solche vergöttert und in ihrem Herrschtrieb alle menschlichen Rechte und "Werte unbarmherzig mit Füssen tritt. Cesare, ein blosses Instrument, ist nicht so sehr der schuldige Mörder als Caligaris unschuldiges Opfer. So jedenfalls fassten die beiden Autoren selber ihn auf. Dem pazifistisch gesinnten Janowitz zufolge hatten sie Cesare in der undeutlichen Absicht geschaffen, den Mann aus dem Volke darzustellen, der unter dem Druck der allgemeinen Wehrpflicht gedrillt wird, zu töten und selber getötet zu werden. Der revolutionäre Sinn der Handlung tritt am Ende unverkennbar zutage, wenn der Psychiater als Caligari entlarvt wird: Vernunft überwältigt unvernünftige Gewalt, wahnwitzige Autorität wird symbolisch zur Abdankung gezwungen.

Ein Wunder geschah: Erich Pommer, der leitende Mann der Decla-Bioskop, erwarb dieses ungewöhnliche, wo nicht umstürzlerische Manuskript. War es ein Wunder? Da in jenen frühen Nachkriegstagen die Überzeugung vorherrschte, dass ausländische Märkte durch künstlerische Leistungen erobert werden könnten, war die deutsche Filmindustrie darauf aus, sich in hochwertigen Unterhaltungsfilmen zu versuchen. Kunst gewährleistete Export, und Export bedeutete die Rettung. Pommer war nicht nur ein eifriger Anhänger dieser Doktrin, sondern besass überdies eine unvergleichliche Witterung für filmische Qualität und Publikumsgeschmack. Gleichviel ob er die Bedeutung des Manuskripts erfasste, das Mayer und Janowitz ihm anboten, er fühlte sicherlich darin das Zeitkolorit und fesselnde szenische Möglichkeiten. Ein geborener Anreger und Förderer, behandelte er filmische und kaufmännische Angelegenheiten mit demselben Geschick; und vor allem wusste er aus Regisseuren und Schauspielern schöpferische Energien herauszulocken. Im Jahre 1923 sollte ihn die Ufa zum Leiter ihrer gesamten Produktion ernennen. Die Tätigkeit, die er hinter den Kulissen ausübte, drückte dem deutschen Film in der Zeit vor Hitler ihren Stempel auf.

Pommer übertrug Fritz Lang die Regie des "Caligari"; aber mitten in den Vorbesprechungen wurde Lang zur Fertigstellung seiner Filmserie "Die Spinnen" beordert, auf deren Vollendung die Verleihfirma bestand. Längs Nachfolger wurde Dr. Robert Wiene. Da dessen Vater, ein einst berühmter Dresdener Schauspieler, gegen Ende seines Lebens leicht geistesgestört gewesen war, stand Wiene dem Fall des Dr. Caligari nicht ganz fremd gegenüber. In völliger Übereinstimmung mit Längs Ideen schlug er eine wesentliche Änderung der Originalhandlung vor - eine Änderung, gegen die beide Autoren heftig protestierten. Aber niemand beachtete sie.

Die Originalhandlung war ein Bericht über wirkliche Greueltaten; Wienes Bearbeitung verwandelte den Bericht in eine vom nunmehr geistesgestörten Francis ersonnene und erzählte Phantasie. Um diese Verwandlung zu bewerkstelligen, wurde die Originalhandlung in eine Rahmengeschichte eingebaut, in der Francis als Irrer auftritt. Der Film "Caligari" beginnt mit der ersten der beiden Episoden, aus denen die Rahmengeschichte besteht. Francis sitzt auf einer Bank im Park der Irrenanstalt, dem konfusen Geschwätz eines Leidensgefährten lauschend. Langsam, wie eine Geistererscheinung, wandelt ein weiblicher Anstaltsinsasse vorbei: Jane. Francis sagt zu seinem Gefährten: "Das ist meine Braut. Was ich mit ihr erlebt habe, ist noch viel seltsamer als das, was Sie erlebt haben. Ich will es Ihnen erzählen." Das Bild blendet ab. Nach der Originalhandlung, die nun folgt, setzt die zweite und letzte Rahmenepisode ein. Francis, zu Ende mit seiner Erzählung, kehrt mit seinem Gefährten zum Anstaltsgebäude zurück und mischt sich dort unter andere traurige Gestalten. Der Anstaltsdirektor, ein sanftmütig und verständnisvoll aussehender Mann, gesellt sich dazu. Im Labyrinth seiner Wahngebilde verloren, verwechselt Francis den Direktor mit dem Unhold, den er selber geschaffen hat, und klagt ihn an, ein gefährlicher Irrer zu sein. Er brüllt, setzt sich verzweifelt gegen die Wärter zur Wehr. Die folgende Szene zeigt den Direktor in einem Krankenzimmer, mit einer Hornbrille, die sein Aussehen sofort verändert: es scheint der leibhaftige Caligari zu sein, der den erschöpften Francis untersucht. Zuletzt nimmt der Direktor die Brille ab; und wieder ganz Sanftmut, erzählt er seinen Assistenzärzten, dass Francis ihn für Caligari halte. Nun, da er den Fall des Patienten verstehe, werde er ihn auch heilen können. Mit dieser tröstlichen Zusicherung werden die Zuschauer entlassen.

Janowitz und Mayer wussten sehr wohl, warum sie die Rahmengeschichte so erbittert bekämpften: sie entstellte ihre eigentlichen Absichten oder verkehrte sie gar ins Gegenteil. Während die Originalhandlung den der Autoritätssucht innewohnenden Wahnsinn aufdeckte, verherrlichte Wienes "Caligari" die Autorität und bezichtigte ihren Widersacher des Wahnsinns. Ein revolutionärer Film wurde so in einen konformistischen umgewandelt; es war, als ob man sich Beispiel an der Praxis nähme, einen normalen, aber unbequemen Mitbürger für geistesgestört zu erklären und in eine Anstalt zu überführen.

Der Grund für diese Umwandlung lag zweifellos nicht so sehr in Wienes persönlichem Geschmack als in seiner instinktiven Unterwerfung unter den Kanon der Filmproduktion; Filme, zumindest kommerziell verwertbare Filme, müssen den Wünschen des Publikums zu entsprechen trachten. In seiner veränderten Form war der "Caligari" nicht mehr nur ein Werk, das gewissen, unter den Intellektuellen verbreiteten Stimmungen entgegenkam, sondern ein Film, von dem man annehmen durfte, dass er die Gefühle und Bedürfnisse breiterer Schichten befriedigen werde.

Wenn es zutrifft, dass in der Nachkriegszeit die meisten Deutschen danach drängten, sich von der harten Aussenwelt ins Reich der Seele zurückzuziehen, dann war Wienes Fassung sicherlich mehr mit einer solchen Haltung im Einklang als die Originalhandlung; denn dadurch, dass diese Fassung das Original sozusagen einkapselte, spiegelte sie den allgemeinen Rückzug in die von einer Schutzhülle umgebene Innenwelt getreulich wider. In "Caligari" und verschiedenen anderen Filmen der Zeit diente der Kunstgriff der Rahmenerzählung nicht nur ästhetischen Zwecken, sondern symbolisierte einen bestimmten Gehalt. Bezeichnenderweise vermied es Wiene. die Originalgeschichte selber zu verstümmeln. Obwohl "Caligari" ein konformistischer Film geworden war, wurde die revolutionäre Handlung darin beibehalten und sogar belastet - als eine Irrenphantasie. Caligaris Niederlage war jetzt ein psychologischer Tatbestand. Auf diese Weise gibt Wiene zu verstehen, dass die Deutschen sich während ihres Rückzuges in sich selber dazu bewegt fühlten, ihre traditionelle Autoritätsgläubigkeit in Frage zu stellen. Sie enthielten sich, bis hinunter zur Masse sozialdemokratischer Arbeiter, revolutionärer Tätigkeit; aber zur selben Zeit scheint sich doch eine Art psychologischer Revolution in den Tiefen der Kollektivseele angebahnt zu haben. Der Film spiegelt diese Doppelseitigkeit deutschen Lebens dadurch wider, dass er die Wirklichkeit, in der Caligaris Autorität triumphiert, mit einer Halluzination verkoppelt, in der diese angemasste Autorität vernichtet wird. Es hätte sich schwerlich eine bessere Anordnung von Symbolen für jenen Aufruhr gegen die angestammten autoritären Bedürfnisse treffen lassen, der sich anscheinend damals unter der Hülle eines Benehmens vollzog, das gewiss nicht aufrührerisch war.

Janowitz brachte für die Ausstattung des "Caligari" den Maler und Illustrator Alfred Kubin in Vorschlag, der, ein Vorläufer der Surrealisten, harmlose Landschaften mit Spukgestalten bevölkerte und aus dem Unbewussten Visionen von Martern heraufzwang. Wiene war für die Idee bemalter Leinwände eingenommen, zog aber Kubin drei expressionistische Künstler vor: Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig. Die drei hingen zusammen mit der Berliner Sturm-Gruppe.

Das Filmbild muss Graphik werden - dies war Hermann Warms Leitspruch zur Zeit, als er und seine beiden Mitarbeiter die "Caligari"-Welt erschufen. Dem entsprachen die Dekorationen mit ihrem Reichtum an gezackten, spitz zulaufenden Gebilden, die wie gotische Muster wirkten. Erzeugnisse eines Stils, der schon fast zur Manier geworden war, erweckten sie irgendwie den Eindruck von Häusern, Mauern und Landschaften. Von ein paar Entgleisungen und Zugeständnissen abgesehen - einige Hintergründe brüskierten unsere Sehgewohnheiten zu direkt, während andere sich ihnen zu nachgiebig anschmiegten - liefen die Szenerien auf eine vollkommene Verwandlung materieller Dinge in emotionale Ornamente hinaus. Mit seinen schiefen Schornsteinen und durcheinandergewürfelten Dächern, seinen Fenstern in Form von Pfeilen und Drachen und seinen baumartigen Arabesken, nicht so sehr Bäume als Drehungen, glich Holstenwall jenen Städte-Visionen, die der Maler Lyonel Feininger durch seine kantigen, kristallinischen Kompositionen heraufbeschworen hatte. Dieses System von Ornamenten dehnte sich überdies in den Raum hinein. War es noch der normale Raum? Gemalte Schatten, die nicht mit den zu erwartenden Lichteffekten übereinstimmten, und Zickzacklinien, die allen Gesetzen der Perspektive zuwiderliefen, hoben seine Struktur radikal auf. Hier schrumpfte der Raum zur flachen Ebene zusammen, dort vervielfältigte er seine Dimensionen, um, wie ein Beobachter formulierte, in ein stereoskopisches Universum auszuarten.

Schrift wurde als ein wesentliches Element des szenischen Bildes eingeführt - ein legitimes Verfahren angesichts der engen Beziehung zwischen Schrift und Graphik. An einer Stelle drückt sich das Verlangen des irren Psychiaters, Caligari nachzuahmen, in zittrigen Buchstaben aus, die sich zu den Worten: Ich muss Caligari werden! zusammensetzen - Worte, die ihm auf den Landstrassen, in den Wolken und in Baumgipfeln vor den Augen schimmern.

Es war ungemein schwierig, menschliche Wesen und ihre Gesten ins Gewebe einer solchen Umwelt einzubeziehen. Von allen Schauspielern scheinen eigentlich nur zwei Hauptdarsteller der Phantasie eines Graphikers zu entspringen. Werner Krauss als Caligari glich einem gespenstischen Zauberkünstler, der selber die Linien und Schatten wob, durch die er schritt. Und wenn Conrad Veidts Cesare an der Mauer entlangstreifte, so war es nicht anders, als habe die Mauer ihn ausgedünstet. Die Figur eines alten Zwerges und die historisch anmutenden Kostüme der Menge trugen dazu bei, die Unwirklichkeit der Jahrmarktsbesucher zu steigern und sie auf diese Weise am seltsamen Eigenleben der abstrakten Gebilde teilnehmen zu lassen.

Hätte die Decla sich dazu verstanden, die Originalhandlung von Mayer und Janowitz unverändert zu übernehmen, so würden diese graphischen Szenerien sie vollkommen ausgedrückt haben. Als expressionistische Abstraktionen waren sie von demselben revolutionären Geist erfüllt, der auch die beiden Autoren beseelte. In Wienes Fassung jedoch scheint Expressionismus nichts anderes zu sein als die angemessene Übersetzung einer Irrenphantasie in eine Folge von Bildern. So verstanden und genossen denn auch viele zeitgenössische deutsche Kritiker die Szenerien und Gebärden. Einer von ihnen schrieb in selbstsicherer Ahnungslosigkeit: "Die Idee, die Vorstellung in den kranken Gehirnen _... in expressionistischen Bildern auszudrücken, ist ebenso glücklich gewählt wie gelöst. Hier hat dieser Stil eine Berechtigung, ergibt er sich von selbst mit restloser Logik."

In ihrem Triumph übersahen die Banausen eine bedeutungsvolle Tatsache: obwohl der Film Irrsinn mit Hilfe schiefer Schornsteine anprangerte, versinnbildlichte er doch niemals den normalen Zustand durch senkrechte Schornsteine. Expressionistische Ornamente überwuchern auch die Schlussepisode, in der man, vom Standpunkt der Spiesser aus, hätte erwarten sollen, dass senkrechte Linien die Wiedererstehung konventioneller Wirklichkeit charakterisieren würden. Das heisst, der "Caligari"-Stil war gleich weit davon entfernt, Irrsinn zu schildern und revolutionäre Botschaften zu übermitteln. Was war seine eigentliche Funktion?

In der Nachkriegszeit wurde Expressionismus vielfach als eine Gestaltung ursprünglicher Empfindungen und Erfahrungen aufgefasst. Carl Hauptmann teilte diese Auffassung und fragte sich dann, wie wohl die spontanen Offenbarungen einer in den Tiefen erregten Seele am besten veranschaulicht werden könnten. Während die moderne Sprache, so sagte er, zu abgenutzt ist, um solchen Zwecken zu dienen, bietet der Film - oder das Bioskop, wie er ihn nannte - eine einzigartige Gelegenheit, die Gärung inneren Lebens sichtbar zu machen. "Man muss sicher lernen, die bioskopischen Photogramme von dem zufällig Photographischen, von allen zufälligen Realien zu befreien. Man muss sicher lernen, sie als Rohelemente zu behandeln, um so die gestischen Elemente aller Dinge rein daraus herzustellen."

Carl Hauptmanns Formulierungen klären über den Sinn des Caligari-Stils auf. Er hatte die Funktion, die Phänomene auf der Leinwand als Phänomene der Seele zu charakterisieren, eine Funktion, die den revolutionären Gehalt dieser Phänomene im Schatten liess. Dadurch aber, dass die expressionistische Inszenierung des Films seelische Ereignisse nach aussen projizierte, symbolisierte sie - schlagender noch als der Kunstgriff der Rahmengeschichte - jenen allgemeinen Rückzug in die Innenwelt, der in Deutschland nach dem Kriege erfolgte. Es ist kein Zufall, dass, solange dieser Kollektivprozess vonstatten ging, manch ein hervorragender Film durch Gebärden und Szenerien in expressionistischem (oder einem damit verwandten) Stil gekennzeichnet war. Der Film "Varieté" aus dem Jahre 1925 zeigte letzte Spuren davon. Diese Gebärden und Szenerien erstarrten zu einer Bildsprache, die annähernd dieselben Funktionen wie eines der üblichen Strassenschilder erfüllte - Achtung} Strassenarbeiten! zum Beispiel. Nur war hier die Aufschrift eine andere. Das Schild besagte: Achtung! Seelische Ereignisse!

Nach einem gründlichen Propagandafeldzug, der in dem rätselhaften Plakat "Du musst Caligari werden!" gipfelte, lief der Film im Februar 1920 im berliner Marmorhaus an. Unter den Pressekritiken, die im übrigen einstimmig "Caligari" als das erste Filmkunstwerk priesen, zeichnete sich die des "Vorwärts", des leitenden sozialdemokratischen Parteiorgans, durch krasses Unverständnis aus. Der "Vorwärts" bemerkte über die Schlussepisode, in der der Anstaltsdirektor die Heilung von Francis in Aussicht stellt: "Solcherweise ist dieser Film auch ethisch unangreifbar, denn er hinterlässt im Beschauer Mitgefühl mit den geistig Kranken und Verständnis für die aufopfernde Tätigkeit der Irrenärzte und -pfleger." Anstatt zu erkennen, dass Francis' Kampf gegen eine hassenswerte Autorität sich im Einklang mit der sozialdemokratischen Parteidoktrin befand, die auch Autoritätsgläubigkeit ablehnte, zog der "Vorwärts" es vor, die Autoritätsperson im Film als ein Musterbild fortschrittlicher Tugenden hinzustellen. Es war immer derselbe psychologische Vorgang: die Mittelstandsneigungen der Sozialdemokraten kamen der Durchführung ihrer rationalen sozialistischen Absichten in die Quere.

"Caligari" zeigt die Seele am Werk. Die erzählerischen und bildlichen Elemente des Films drängen zwei einander entgegengesetzten Polen zu. Der eine mag Autorität genannt werden oder deutlicher: Tyrannei. Das Thema der Tyrannei, von dem die Autoren wie besessen waren, zieht sich vom Anfang bis zum Ende durch den Film. Drehstühle von unglaublicher Höhe versinnbildlichen die Überlegenheit der städtischen Beamten, die sich auf ihnen hin- und herdrehen; und nicht anders zeugt die gigantische Stuhllehne in Alans Dachstube von der Gegenwart unsichtbarer Mächte, die ihn in der Gewalt haben. Treppen verstärken die Wirkung des Mobiliars: so führen zahlreiche Stufen zur Polizeiwache hinan; und in der Irrenanstalt selber sind nicht weniger als drei parallele Treppenfluchten aufgeboten, um Dr. Caligaris Stellung an der Spitze der Hierarchie zu kennzeichnen.

Man sollte erwarten, dass der dem Pol der Tyrannei entgegengesetzte Pol der der Freiheit wäre; denn zweifellos war es ihre Freiheitsliebe, die Janowitz und Mayer dazu bewog, die Natur des Tyrannentums zu durchdringen. Dieser Gegenpol ist nun in Wirklichkeit der Sammelpunkt von Elementen, die sich auf den Jahrmarkt beziehen, den Jahrmarkt mit seinen Zeltreihen, seinem Menschengewimmel und seinen verschiedenartigen Sensationen. In ihren Versuchen, dem Sinngehalt des Jahrmarktes beizukommen, beschwören literarische Quellen wiederholt die Erinnerung an das biblische Babel herauf. Die Art und Weise, wie sich diese biblischen Bilder aufdrängen, zeigt, dass der Jahrmarkt eine Enklave der Anarchie im Gebiet der Vergnügungen ist. Das erklärt seine unversiegbare Anziehungskraft. Menschen aller Schichten und jeden Alters lieben es, sich in dieser Wildnis strahlender Farben und schriller Laute zu verlieren, die mit Monstrositäten gefüllt ist und deren handfeste Attraktionen von heftigen Schockwirkungen bis zu Geschmackseindrücken von unglaublicher Süsse reichen. Für Erwachsene ist es eine Rückkehr in die Kindertage, in denen Spiel und Ernst ein und dasselbe sind, Wirkliches und Unwirkliches ineinander übergehen und anarchische Begierden eine Möglichkeit nach der anderen ziellos ausprobieren. Durch diese Rückkehr entschlüpft der Erwachsene einer Zivilisation, die das Chaos der Instinkte zu überwachen und zum Verkümmern zu bringen droht, entschlüpft ihr, um jenes Chaos wiederherzustellen, auf dem trotz allem Zivilisation beruht. Der Jahrmarkt ist nicht Freiheit, sondern Anarchie, die Chaos brütet.

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Ich glaube, dass das egozentrische Erlebnis und das Drama zu dritt überholt sind. Der Film, muss dem Betrachter eine Antwort auf seine sozialen Fragen geben, und der Betrachter muss in ihm Hoffnung schöpfen können: wohlverstanden nicht die Zufriedenheit eines Bienenvolkes, sondern Hoffnung durch Einsicht und nüchterne Sachlichkeit.       René Clément


Literatur

Antikunst von Posteuropa?

Fedor Stepun: THEATER UND FILM. Carl Hanser-Verlag, München 1953, 164 Seiten, DM 7,20.

Die Filmproduktion in der Bundesrepublik klettert zu ungeahnten Höhen. Die Möglichkeiten, den Menschen zu beeinflussen - im guten wie im bösen Sinn - potenzieren sich. Verantwortungsbewusste Geister spüren, dass es mehr denn je an der Zeit ist, Charakter und Tendenzen des Films zu diskutieren, zumal die deutschsprachige Filmpublizistik bisher manche Lücke gelassen hat.

Fedor Stepun hat seine Gedanken über "Theater und Film", die er 1932 bereits in einer kleinen Schrift formulierte, wesentlich erweitert, präzisiert und neu herausgegeben. Es geht ihm um die Kunstchance des Films. Er systematisiert nicht; er stellt Fragen - die richtigen Fragen, und das ist viel wert, auch wenn man mit den Antworten nicht immer einverstanden ist.

Der entscheidende Vorteil des Buches liegt bereits in seinem Thema, der Gegenüberstellung von Theater und Film. Oberflächlich scheinen beide Kunstformen nah miteinander verwandt zu sein; dass sie aber im Wesentlichen diametral entgegengesetzte Erlebnisweisen der Welt, ja verschiedene Welten selber offenbaren, führt Stepun überzeugend vor.

Der Anfang des Films fällt zusammen mit dem Höhepunkt und Niedergang eines bestimmten Typus des Theaters - für Stepun das Theater schlechthin -: des Aktionstheaters. Es ist die Bühne eines autonomen Menschen, der sich allein im Handeln verwirklichen kann. Auf dem Höhepunkt, dort, wo der Umschlag erfolgt, nämlich im Expressionismus, kommt der Film ins Spiel. Er bringt alle künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten mit, die geeignet wären, eine neue gesellschaftliche Situation und das Sich-Befinden des Menschen in ihr zu gestalten: Technik, Masse, Ideologie heissen die Schlagworte. Aber die Filmproduzenten und die meisten Regisseure haben ihre Chance nicht begriffen. Sie investieren das Kapital in der verlorenen Sache des Theaters von gestern; sie verfilmten Dramen und liessen Drehbücher schreiben, in denen die Wirkungseffekte des Theaters vervielfältigt und denaturiert wurden. Der Schauspieler wurde zum Star, die dramatische Situation zum Filmklischee. Die Leere des Aktionstheaters konnten sie nicht übertünchen, auch dort nicht, wo es sich selbst filmischer Effekte bedient. Den Film aber hinderten sie, Film zu werden, so dass selbst die meisten "guten Filme" richtiger in die Theatergeschichte gehören. "So bleibt nichts anderes übrig, als die entschwundene Vergangenheit des Theaters der noch dunklen Zukunft des Films gegenüberzustellen", sagt Stepun. Er weiss, was der Film sein könnte; das macht ihn unnachsichtig gegen den Pseudofilm, der die landläufige Vorstellung vom Film bestimmt. Er wird vom Schauspieler, häufiger noch vom Star getragen. Seine Handlung ist nach den Wirkungsregeln der Theaterdramaturgie zusammengebastelt worden. Der Dialog hat die Oberhand, und eine spannende Handlung ist alles. Natürlich meint er ohne Psychologie und den Anschein der Oberflächenwirklichkeit nicht auskommen zu können, während er im Kern fast immer völlig illusionistisch ist. Man wird bemerken, dass beinah alle Spielfilme, die heute über die Leinwand laufen, diesem Bilde entsprechen.

Dagegen setzt Stepun seine Betrachtungen über die neue Syntax einer filmischen Sprache und über die Entwirklichung und* Akzentuierung der diffusen Oberfläche der Welt als dem ureigensten Stilprinzip des künstlerischen Films: "Die Photographie führt dem Film die Wirklichkeit zu. Die Bearbeitung der Photographie mit den Mitteln der Montage schafft aus der photographierten Wirklichkeit die _... Transwirklichkeit der Leinwand."

Transwirklichkeit? Sie ist antinaturalistisch und muss künstlich sein - eine Welt der Bedeutungen! Die Forderung gilt für jede menschliche Äusserung, die Kunst und nicht Opium zu sein begehrt. Der'Film freilich hat schwerer an ihr zu tragen, da er dem Oberflächenschein weit stärker ausgeliefert ist als die anderen Künste. Die Photographie erscheint so wirklich. Cinemascope ist ein neuer Trumpf. Kann man den Menschen, die gerade den äusseren Schein der Wirklichkeit suchen, überhaupt noch mit Stilisierung und Kunstwelt kommen? Das ist es, was sie nicht wollen. Der russische Kunsthistoriker Muratow nannte deshalb schon 1925 den Film die Antikunst von Posteuropa.

Doch ist es klar, dass auch der naturalistischste Film noch stilisiert. Ohne Schnitt kommt kein Film aus. Schon die Schwarz-Weiss-Photographie entwirklicht, sagt Stepun mit Recht. Mehr noch ist die Farbphotographie auf Farbstilisierung angewiesen, denn eine echte Reproduktion der Naturfarben gibt es nicht - noch nicht. Auch Cinemascope entwirklicht, in den Formaten eben. Ein Stilentwurf, die potentielle Möglichkeit, Kunst zu werden, bleibt also möglich. Darum geht es Stepun. Er bringt eine Fülle ausgezeichneter Beobachtungen und Gedanken bei. Sie reichen vom Verhalten des Darstellers vor der Kamera bis zur Diskussion des kosmologischen Weltbildes, das der Film dem homozentrischen des Theaters entgegenstellt, wie Stepun meint.

Seine eigentliche Liebe aber gehört dem Theater. Er selbst war jahrelang Dramaturg an mehreren moskauer Bühnen und Mitarbeiter Stanislawskijs. Die Philosophie vom theaterspielend sich verwirklichenden Menschen, die er liefert, ist eindringlich und in ihrer Entschiedenheit grossartig, aber sie lässt keinen Raum für das moderne und andersartige Theater der Situationschiffren oder der brechtschen Didaktik. Einen Dürrematt kann er gerade noch verstehen, aber nicht mehr akzeptieren. Als Kontrapunkt zum Film jedoch erweist sich die von Stepun skizzierte Phase des Theaters so geeignet wie keine andere. Wohl nirgends könnte klarer werden, wie unvereinbar Theater und Film sind, als vor dem Hintergrund dieses idealtypischen Bildes vom Aktionstheater. Die neuen Perspektiven aus der Optik der Kamera und die eigenwilligen Bildsequenzen, wie sie vom Montagetisch des Cutters kommen, belegen aber bereits die veränderte Welt und ein anders akzentuiertes Bild vom Menschen.       Wilfried Berghahn

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"Wer gibt Ihnen das Recht", sprach der Theaterdirektor zum Kritiker, "diese Tragödie zu verreissen, obwohl Sie selber vermutlich nicht den simpelsten Einakter schreiben können?" "Ich kann", antwortete der Kritiker, äuch keine Eier legen - aber ich kann feststellen, ob ein Ei faul ist."       Gunter Groll


Meinung und Gegenmeinung

Die erste Nummer

Ihre Zeitschrift scheint mir, wie der Berliner sagt, "richtig" zu sein. Scharf in der Kritik und doch mit Passion zur Sache, interessant und vielseitig im Gehalt _...       Joachim Günther (Berlin)

Es ist zu hoffen, dass dieses Unternehmen nicht als studentischer Beitrag zur gegenwärtigen allgemeinen Narretei aufgefasst wird, in der sich der Bundesrepublikaner wohl gefällt! _... Man konstatiert, dass sich da in der Filmpublizistik eine "Linke" etabliert _...       stud. phil. Heinz Klunker (Münster)

Im übrigen darf ich Ihnen sagen, dass ich Ihre Zeitschrift sehr interessant und lebendig finde.       Prof. Dr. Th. W. Adorno (Frankfurt)

Ich gestehe gern, dass mir Ihr Tick, in unserer satten Gegenwart eine Art filmischer Tucholsky zu werden, Spass gemacht hat. Die prächtige Einseitigkeit, mit der der Wachtturm eines aufrichtigen politischen Gewissens bezogen wird, ist bestechend. Soziologisch und teilweise auch filmästhetisch wohlfundiert ist Segen oder Fluch _...       Gerd A. Nieden (Hamburg)

Überheblichkeit hilft nicht weiter! Eine neue Filmzeitschrift mit zweifelhaften Ambitionen - _... Unsere Toleranz wird über Gebühr strapaziert, wenn wir die erste Nummer _... "film 56" zur Hand nehmen _... saloppe Schnoddrigkeit _... überreizte Empfindlichlichkeit _... einseitig ästhetisierende Sicht _... soziale Überbewertung _... Bedenklicher stimmt die Tendenz, die sich unverhüllt in den gewichtigsten Aussagen der knallig rot aufgemachten Schrift zeigt. Mit einem Schlagwort wäre sie als "links" und "wertfrei" zu bezeichnen _... feiert der blasierte Unverstand wahre Orgien _... künstlich eingeengter sozialer Winkel und destruktive Kritik _... Was mit "wertfrei" gemeint ist, wird in dem aus der stilistischen Mottenkiste des Dadaismus (? d. R.) geklaubten Aufsatz "Biederkeit glotzt uns an" noch deutlicher. Da die ehren-i hafte Zugehörigkeit des Verfassers zum antinationalsozialistischen Kreisauer Kreis (zu dem später ja auch der Jesuitenpater Delp stiess) für sein come back im "film 56" kaum ausschlaggebend gewesen sein dürfte, gilt unser Vorbehalt nicht ihm, sondern "film 56" _... Man mag dem Redaktionsteam seine 26, 27 und 28 Lenze zugute halten und die erste "film 56"-Nummer als Sturm- und Drangprodukt einer schlecht verdauten Pubertät belächeln _...       Dr. Günter Graf in "Echo der Zeit" (29.1.1956)

Auf die Frage, welche "Richtung" film 56 zuzusprechen sei, wurden im münsterschen Filmseminar u. a. folgende Antworten gegeben: "humanitär", "sozialistisch", "kommunistisch", "salonbolschewistisch", änti-westlich", "überhaupt anti", "ästhetisch", "soziologisch".       Panorama 1955

Sie sollten sich, solange es geht, nicht entmutigen lassen, diese ganz widerwärtige, ungesteuerte (das ist das schlimmste: freiwillige) geistige Unterwürfigkeit des Kinos bei uns aufzuzeigen _...       Hans Rolf Strobel (München)

"Instinktlose Verleiher"

Wir möchten Sie bitten, Ihre Äusserungen über den "mangelnden Instinkt der deutschen Verleiher", mindestens soweit sie die Allianz Film GmbH, betreffen, richtigzustellen _...

Wenn Sie es nun unternehmen, uns mangelnden Instinkt hinsichtlich des René-Clair-Films "Les grandes manoeuvres" vorzuwerfen, so dürfen wir wohl darauf hinweisen, dass die Allianz diesen Film Mitte vorigen Jahres bereits angekündigt hat und seitdem bemüht blieb, die zum Start notwendigen Kopien von den Franzosen zu erhalten. Die etwas saloppe Arbeitsweise der Franzosen ist ja sprichwörtlich, und sie tritt auch bei diesem Film wieder einmal deutlich in Erscheinung.

Für Russland waren Kopien da, sicherlich Dank des persönlichen Einsatzes des sehr rot angehauchten Herrn Gérard Philippe. Für Deutschland lässt man sich Zeit _... Was andere Filme anbetrifft, so wollen wir uns in dieser Beziehung jedes Urteils enthalten, da wir sie nicht kennen und da unsere Hauptsorge selbstverständlich dem deutschen Film gelten muss. Leider kann die Filmindustrie, die sich absolut als solche bekennt, ohne wirkliche Geschäftsfilme nicht existieren _...       Allianz Film GmbH. (Frankfurt)

Mierendorff

Expressionistisches Epater le bourgeois ist keine Alternative mehr gegen Verbiederung. Das hat der Bürger schon alles integriert. Daran ergötzt er sich sogar. Der Schrei nach Schaubudenkruditäten ist selber durch und durch bourgeois _...       cand. phil. Wilfried Berghahn (Bonn)

"Die Saat der Gewalt"

Klapps Meinung nach hätte Brooks also einen geradezu wissenschaftlichen Dokumentarfilm schaffen müssen, etwa "Jugendkriminalität in der Grossstadt unter Berücksichtigung ihrer politischen, gesellschaftlichen, psychologischen Ursachen" _... Der Lehrer wagt aber m. E. dieser von einem Verbrecher tyrannisierten Schülerclique gegenüber das einzige, was in solchen Fällen schlicht und ergreifend sinnvoll ist: sich selbst. Die Überlegenheit seiner Menschlichkeit _... ist für mich das Erfreuliche an diesem Film. Brooks' "These", wenn Sie so wollen, ist die, dass es auch heute nur ein Mittel geben kann, das seelische Verkrampfung lösen kann: unpathetische Liebe, die nicht philiströser "Barmherzigkeit" mit den "Sündern" entspringt. Gerade durch seine anscheinend fehlende Tendenz werden hier die harten Tatsachen endlich einmal nicht relativiert, sondern sprechen uns doppelt unmittelbar an, ja, machen uns vielleicht betroffen. Eine Tatsache, die vermutlich nicht nur Benno Klapp beunruhigen dürfte _...       Gerd A. Nieden (Hamburg)

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Mitteilungen

Der junge französische Kritiker, Romancier und Filmautor Chris Marker ist bei uns kein Unbekannter mehr. Die Besucher der jährlichen Filmclubtreffen kennen ihn aus Titisee, Schluchsee, Bacharach, Lindau und Bad Ems, sein Roman "Die Untrüglichen" ist deutsch (im Verlag der "Frankfurter Hefte") erschienen, sein (von der französischen Zensur seit drei Jahren gesperrter) Kurzfilm "Les Statues meurent aussi" lief in Bad Ems. Marker hat zusammen mit Renais eben einen Film über Buchenwald, "Nuit et Brouillard", beendet und von einer Fernost-Reise einen Streifen "Clair de Chine" mitgebracht.

Der Begründer der englischen Dokumentarfilmbewegung und Regisseur der bahnbrechenden "Drifters" (1929), John Grierson, hat seit vielen Jahren die Entwicklung des Films als Journalist beobachtet und kommentiert, so in den dreissiger Jahren als Kritiker des "Cinema Quarterly" (später "World Film News"), dem auch der Beitrag in diesem Heft entnommen ist.

Siegfried Kracauer war von 1920 bis 1933 Redakteur und Kritiker der "Frankfurter Zeitung", 1933 emigrierte er nach Paris, von wo er 1940 in die Vereinigten Staaten ging. Sein Buch "From Caligari to Hitler" bildet nicht nur die profundeste bisherige Geschichte des deutschen Films, sondern zugleich das erste Muster einer psychologischen Methode der Filmgeschichtsschreibung. Unser erster Hauptaufsatz ist wesentlich an der Methode und den Aussagen des Buches orientiert. Dass acht Jahre nach seinem Erscheinen immer noch keine deutsche Ausgabe existiert, gehört in die lange Reihe charakteristischer Fehlleistungen unserer "öffentlichen Meinung".

Peter Hanke, der Autor unserer "Thälmann"- Kritik, ist Student in Freiburg.

Unser Beitrag "Filmkunst im Präsens" ist zuerst, leicht gekürzt, im "Monat" (Dezember 1955) erschienen, "Von Caligari bis Canaris" in den "Frankfurter Heften" (Januar 1956). Für die Fotos zu dem Neorealismus-Aufsatz danken wir der Redaktion des "Monat".


Filmkritiken

Kampf der Künste
OTHELLO - Produktion: J. Derode, Giorgio, Papi - Regie: Orson Welles - Buch: Orson Welles, nach dem gleichnamigen Trauerspiel von William Shakespeare - Kamera: A. Brizzi, A.-G. Fanto, T. Fusi - Musik: F. Lavagnino, Alberto Barboris - Darsteller: Orson Welles, Micheál MacLiammóir, Suzanne Cloutier, Robert Coote, Doris Dowling - Marokko 1951

Orson Welles meint keineswegs, dass er besonders dazu berufen sei, Shakespeare zu verfilmen, er fragt sich vielmehr, ob eine vollkommene Verbindung zwischen Shakespeare und der Leinwand überhaupt möglich sei, und am allerwenigsten ist er der Ansicht, mit seinem "Macbeth" und seinem Öthello" etwas Vollendetes geschaffen zu haben. Da Welles solche nüchternen theoretischen Einsichten in das eigene Filmschaffen beweist, sollten diejenigen Kritiker doch etwas vorsichtiger werden, die allzu beflissen von dem terriblen Knaben sprechen, der in seinem Grössenwahn so befangen sei, dass er mit rücksichtslos grosszügiger Geste eine Bildfolge hinwerfe, übers Knie breche, um dann überzeugt zu sein, einen Geniedonner von sich gegeben zu haben. Der kuriose Mythos, der sich um Welles gebildet hat, scheint nicht nur die Gemüter derer zu vernebeln, die sich damit zufrieden geben, über seine Begleiterinnen und Krawatten auf dem Laufenden gehalten zu werden.
Die Entstehungsgeschichte des Öthello" ist die klassische Geschichte der Expedition eines unabhängigen Produzenten und Regisseurs durch den Finanzierungsdschungel. "Wäre ich ein Maler, hätte ich vielleicht eine Weile zu hungern, aber ich würde Papier oder Leinwand finden, oder eben eine Wand, um mich auszudrücken. Da ich aber Filmregisseur in einer kommerziellen Welt bin und nicht beim Dokumentar- oder Avantgardefilm, brauche ich eine Million Dollar, um einen Film zu machen." (Welles) - Rechnen wir die tatsächlichen Drehtage des Öthello" zusammen, so erhalten wir etwa einen Monat, die übliche Spanne also für einen industriell hergestellten
Neunzig-Minuten-Film. Die Zeit jedoch, die zwischen der ersten und der letzten Aufnahme lag, betrug vier Jahre. Dazwischen mehr Jagd nach Geld und resignierte Abkehr vom Projekt als Filmkunst. Das Unglaubliche nun ist, dass wir es dem schliesslich doch beendeten Werk kaum ansehen, welche ausserkünstlerischen Manipulationen nötig waren, um es zu schaffen: Öthello" gehört keineswegs zu den Filmen, deren Bedeutung sich in Wahrheit darin erschöpft, dass sie trotz aller Hindernisse gedreht wurden; Öthello" ist ein grandioser Film in sich, eine Leinwand-Interpretation Shakespeares von abseitiger Faszination, das Werk eines orgiastisch begabten Film-Künstlers; er lässt uns daran zweifeln, dass Genie und Film sich, wie behauptet wurde, ausschliessen. Es müsste lehrreich sein, den Öthello" und den "Julius Caesar" (1953) von Joseph L. Mankiewicz im Abstand von wenigen Tagen zu sehen, um sie intensiv miteinander vergleichen zu können; denn aus ihnen sprechen zwei wesentlich unterschiedliche Auffassungen, wie Shakespeare zu verfilmen sei. (Anregung für die Studiotheater!) Mankiewicz' Ziel war es, Text und dramatische Konstruktion so direkt und ungebrochen wie irgend möglich auf die Leinwand zu retten, dabei aber auch dem Film so wenig wie möglich Unrecht zu tun. Diese Konzeption scheint paradox, doch es gelang Mankiewicz in der Tat, einen Kamerastil zu entwickeln, der durchaus filmgerecht wirkt, ohne dabei den rhythmischen Fluss des shakespeareschen Verses zu zerstören. Dazu kam, dass Mankiewicz eine Darstellerauswahl treffen konnte, die in ihrer Vorzüglichkeit im Einzelnen wie in ihrer scheinbar heterogenen Zusammensetzung (von John Gielgud als Cassius bis Marien Brando als Marc Anton) zumindest die Chance einer einmaligen Interpretation bot. Da Mankiewicz nur dann bereit war, sich ein Misslingen vorwerfen zu lassen, wenn ihm nachzuweisen gewesen wäre, er habe Shakespeare verfehlt, kam alles auf eine explosive, "moderne" Inszenierung an. Da ihm die gelang, wurde "Julius Caesar" auch ein bemerkenswerter Film.
Welles, dem leidenschaftlichen Verfechter des filmischen Dichtens gegenüber dem Drama, das er adaptiert, kam es in erster Linie darauf an (musste es darauf ankommen), auf keinen Fall den Film zu verfehlen. "Ich meine", sagt er, "Verdi und Boito waren vollkommen berechtigt, Shakespeare zu verändern, um ihn in eine andere Kunstform zu verwandeln; und da ich annehme, dass der Film eine Kunstform ist, zog ich den Schluss, dass man einen Klassiker frei und kraftvoll in einen Film verwandeln kann." Beim "Julius Caesar" würden wir uns langweilen, liessen wir ihn ohne Ton ablaufen - so wesentlich ist hier der meisterlich vollendet (John Gielgud) oder aufregend eigenwillig (Brando) gesprochene shakespearesche Text. Der Öthello" als Stummfilm wäre alles andere als langweilig, im Gegenteil, der Genuss wäre reiner. Das soll nicht heissen, der Text in Öthello" sei überflüssig; das heisst: dieser Film ist bei einmaligem Sehen in allen seinen Schichten ästhetisch einfach nicht zu apperzipieren.
Welles reisst das Drama nicht etwa, wie man vermuten möchte, wild auseinander, um es dann selbstherrlich filmisch neu zu montieren. Es ist vielmehr erstaunlich, wie weit er sich an Shakespeare hält. Die Kürzungen und Umstellungen sind einzig darauf berechnet, das schon intensiv subjektive Erleben eines Einzelnen, des Othello, noch mehr zu intensivieren. (Von allen Trauerspielen Shakespeares nähert sich Öthello" am stärksten dem Charakter einer absoluten Tragödie.) Auf die so beibehaltene Szenenfolge und den Text schleudert Welles dann aber seinen tollen, massiven Wirbel verwegen komponierter, hypnotisierender, brillanter, unvergesslicher Bilder. Dabei ist nicht zu übersehen, bei welchen Meistern dieser hochintelligente cinéaste in die Lehre gegangen ist, von Eisenstein über Dreyer bis zu den Neoveristen. Ihm darauf Eklektizismus nachzusagen, ist ebenso instinktlos, wie einem Romancier allein daraus einen Vorwurf zu machen, dass er an James Joyce oder Hemingway nicht achtlos vorübergegangen sei. Denn: der Rhythmus dieses atemlosen, unwahrscheinlich dichten und feinmaschigen, fürs erste unentwirrbaren Bildteppichs, den er über das Drama wirft, ist original und kühn, ist ganz Orson Welles.
Dieser Stil hat natürlich seine Folgen (ich glaube nicht, Nachteile sagen zu müssen): auf den ersten Blick scheint alles zwar erregend, aber konfus. Es ist nicht zu leugnen, dass man lange gar nicht wissen dürfte, worum es eigentlich geht, wenn man das Stück nicht kennt. Beim zweiten, dritten Sehen aber wird der Beschauer staunend feststellen, mit welch harter, scharfsinniger Konsequenz hier Einstellung für Einstellung der tragische Faden abspult, die Charaktere entfaltet werden, Dialoge und Monologe fallen. Mit Ausnahme des Teiles vor dem (gesprochenen) Vorspann prallen im Öthello" zwei Künste mit aller Wucht ständig aufeinander, und keine gibt auch nur für einen Augenblick soviel an die andere ab, dass mm sagen könnte, dies sei Theater, jenes aber Film. Drama und Film halten sich in ungeheurer Spannung die Waage. Diese Spannung reisst an den Nerven des Zuschauers wie die hartnäckig wiederkehrenden dissonanten Tonfiguren der Begleitmusik aus Zupfinstrumenten und klagenden Chören.
Welles hat den Film in Venedig und Marokko (für Zypern) in natürlicher oder Landschaft und natürlichen kalt-steinernen Bauten aufgenommen. Noch in keinem Shakespeare-Film, weder bei Olivier, noch bei Mankiewicz oder Castellani, hat es eine so veristische Kulisse gegeben, die eigenartigerweise zugleich so theatralisch irreal wirkte wie diese. Die Personen bewegen sich nämlich so weitläufig durch geräumige Paläste und ausladende mittelalterliche Bastionen, sie wechseln stellenweise ihre Dialoge so unbekümmert laut und über ungewohnte Entfernungen hin, dass der naturalistische Hintergrund wieder zur elisabethanischen Bühne zusammenzuschrumpfen scheint, auf der man durch primitiven Tafelwechsel Zeiten und Räume übersprang. Auch in der Kulisse das Oszillieren zwischen Drama und Film.
Welles als Othello ist überragend: schwarzer Gentleman, der sich vergeblich in dem gesellschaftlich überorganisierten weissen Dschungel zu assimilieren sucht (zu weit hergeholte Parallele: Der Neger in Lattuadas "Senza Pietà"?), so dass er, schon der billigsten Intrige zum Opfer fallend, sich, den vertrauensselig Liebenden, und Desdemona, die keusche Geliebte, vernichtet. Beim Jago des Micheál Mac Liammóir mag man die jahrelange Schulung in englisch-irischer Bühnentradition spüren, seine Fratze zwischen den Stäben des Hungerkäfigs zu Beginn des Films verspricht mehr, als sein routiniertes Spiel im Folgenden hält. Suzanne Coutiers Desdemona ist leider so blass wie ihr oxydiertes Haar. Zu entscheiden, welche Methode die "richtigere" sei, die von Mankiewicz oder die von
Welles, ist, so scheint mir, viel eher Sache unseres Temperaments als Sache eines allgemeinen Massstabs. Festzuhalten ist nur, dass es sich in beiden Fällen im Grunde um "Kunst-über-Kunst-Filme" handelt. Film und nur Film wäre erst dann möglich, wenn der Regisseur über das Drama auf die Quellen zurückgriffe, die auch Shakespeare benutzte und von da ausgehend sein Originalszenario schriebe. Er würde dann den Dialog kaum in fünffüssigen Jamben abfassen. Nicht umsonst ist auch in Orson Welles' Öthello" die beste Passage die dem Shakespeare-Drama vorgesetzte "fiktive" Ouvertüre: die Bahren mit den Leichnamen Othellos und seiner Gattin werden von der zerklüfteten Festungssilhouette im makabren Trauermarsch zu Grabe getragen, während Soldaten den Jago einem Affen gleich in einen Käfig sperren, den sie am höchsten Turm der Bastion hochwinden. Eine Montage wie sie in dieser genial gesetzten optischen Endgültigkeit nur noch Eisenstein hätte entwerfen können.       Theodor Kotulla
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Es regnet nicht nur sonntags
THE END OF THE AFFAIR (DAS ENDE EINER AFFÄRE) - Produktion: Coronado - Regie: Edward Dmytryk - Buch: Lenore Coffee, nach dem gleichnamigen Roman von Graham Greene - Kamera: Wilkie Cooper - Musik: Benjamin Frankel - Darsteller: Deborah Kerr, Van Johnson, Peter Cushing, John Mills, Stephen Murray - England 1954

Der Film war nicht besonders gut, und stellenweise war es sogar quälend, mitansehen zu müssen, wie Situationen, die für mich echtes Erleben bedeutet hatten, in die stereotypen Schablonen der Leinwand umgefälscht worden waren. Ich wünschte, ich wäre mit Sarah anderswo hingegangen. Anfangs hatte ich zu ihr gesagt: "Wissen Sie, das ist gar nicht das, was ich geschrieben habe", aber ich konnte diese Feststellung nicht unausgesetzt wiederholen _... (Der Schriftsteller Maurice Bendrix in Graham Greenes Roman "Das Ende einer Affäre")
Wie lange noch werden amerikanische und englische Produzenten und Regisseure der behäbigen Meinung sein, nichts sei einfacher, als einen Roman von Graham Greene auf die Leinwand zu transponieren - und wie lange noch werden ahnungslose Kritiker sie darob loben? Soweit ich sehe, sind mindestens "Zwiespalt der Seele", "Das Attentat", "Brighton Rock - Am Abgrund des Lebens", "Die Kraft und die Herrlichkeit" (von John Ford), "Das Herz aller Dinge" (George More O'Ferrall) und schliesslich von Edward Dmytryk "Das Ende einer Affäre" verfilmt worden. Die Ergebnisse rangieren zwischen der Sterilisation der Vorlage und der völligen Geschlechtsumwandlung. (Von Fords "Befehl des Gewissens" konnte ein Kritiker schreiben, das sei "ein Film, der Franco gefallen müsste".) Mehr Glück hatten die Short Stories, nach denen Carol Reed "Der dritte Mann" und "The Fallen Idol" ("Kleines Herz in Not")' drehte.
Besonders die drei letzten Romane von Greene waren dazu angetan, die satte Selbstgerechtigkeit allzu vieler Christen zu erschüttern - soweit sie überhaupt noch zu beunruhigen waren. Nichts davon in den filmischen Adaptationen. Durch sie werden intelligente Nichtkatholiken sich auch kaum zu einem Gespräch anregen lassen, hier stehen sie plötzlich vor einer Mauer, von der herab Plakate sie in billigen Schlagzeilen zur Konversion auffordern. -
In Greenes "Das Ende einer Affäre" verfällt Sarah, Gattin des höheren Staatsbeamten Henry Miles, bei ihrem ständigen Wechsel ausserehelicher Liebhaber auf den Schriftsteller Maurice Bendrix. Aus der beabsichtigten kurzen Affäre wird eine Liebe, die über fünf Jahre währt, ohne an Intensität zu verlieren. Bis in einer Bombennacht des Jahres 1944 die Explosion einer V 1 Bendrix, der das Zimmer verlassen hat, unter die Trümmer seiner Haustür wirft. Er ist nur ungefährlich verletzt und bewusstlos, doch Sarah hält ihn in ihrer ersten Verzweiflung für tot, und sie betet zu Gott, an den sie ebensowenig glaubt wie ihr Geliebter, sie werde Maurice für immer aufgeben, wenn er nur lebe. Von da an ist sie "vom Glauben befallen wie von einer Krankheit" und sie hält ihr "Gelübde" über zwei Jahre hin, bis sie an einer verschleppten Grippe stirbt. "Sarahs Moral besteht darin", schrieb Heinrich Böll in seiner Rezension des Buches ("Frankfurter Hefte", Mai 1952), "dass sie nach dem Gelübde einfach nicht mehr sündigen kann, weil sie glaubt, und ihre geringe Glaubenssicherheit wirkt eher hemmend als fördernd für die Sünde (ein starkes Argument gegen die Selbstsicherheit vieler Christen). Man muss es lesen, wie Sarah sich Bendrix auf dem Fussboden ihrer Wohnung hingibt, während ihr Gatte, der oben krank lag, die Treppe herunterkommt; dieselbe Sarah, nach deren Tod sich Wunder ereignen; man muss es lesen, um zu wissen, zwischen welch weit voneinander entfernten Polen sich die Spannung dieses Romans erstreckt." Und vorher hiess es bei Böll: Äber das alles ist nur der Inhalt, der eine ungeheure Provokation bedeutet: Provokation an die Christenheit, die sich noch nicht entschieden hat, ob sie sich moralisch restaurieren wird - oder ob sie ihre wankende moralische Position als ernsthaft erschüttert hinnehmen wird. Greenes ,The End of the Affair' bedeutet praktisch das Ende der Moral, zumindest das Ende der Moralisten _..." Womit Böll meint, dass es für den Menschen Situationen gibt, in denen die geltenden Normen der (christlichen) Moral versagen, in denen allein das Ärgernis des undurchschaubaren göttlichen Aktes der Gnade das Heil zu bringen vermag - wie im Fall der Sarah Miles, die plötzlich zu glauben beginnt.
Was wir von Böll zitierten: "Man muss es lesen", wiederholen wir nachdrücklicher noch angesichts des Films. Denn Greenes Unglück ist es, dass er nicht wie Bernanos seinen Robert Bresson, dass er nicht wie der Prozess der Jeanne d' Arc seinen Carl Dreyer gefunden hat. Ein Thema wie das Greenes könnte nur von einem Regisseur filmisch verwirklicht werden, der sich keine Einstellung aufdrängen lässt und keine abgibt. Und die furchtlosen Zeiten von "Crossfire" (1947) und "Give Us This Day" ("Haus der Sehnsucht", 1949), da Dmytryk von Paul Rotha in einem Atem mit Rossellini, Renoir, Flaherty, Chaplin genannt werden konnte, scheinen für immer vorbei zu sein. Seit er sich dem Kongressausschuss zur Untersuchung ünamerikanischer Umtriebe" beugte, ist er in Haltung und Stil dem herrschenden Konformismus verfallen.
Die Schönheitskorrekturen an der düster lastenden Welt Greenes werden so weit getrieben, bis der Kassenerfolg gesichert scheint. Sie beginnen bei äusseren Kleinigkeiten und enden im Herzen der Sache. Der Bendrix des Romans hat von Jugend an ein Bein etwas kürzer als das andere, und überhaupt stellt er sich nicht gerade als schöner und schon gar nicht als sympathischer Mann vor; er schüttet, rasend vor Eifersucht, seinen Hass über alle aus, die Sarah irgendwie nahestanden, selbst über so offensichtlich harmlose "Liebhaber" wie den atheistischen Wiesenprediger Smythe, und er verhindert raffiniert Sarahs christliches Begräbnis. Im Film (und hier trägt ebenso das Drehbuch von Lenore Coffee die Schuld wie die Wahl des wackeren Marinejunkers aus Dmytryks gehorsamsgläubiger "Caine Mutiny", Van Johnson, als Bendrix) haben wir einen blonden Jungen vor uns, der - würde es nicht gesagt, man bemerkte es nicht - ob einer ehrenvollen Kriegsverwundung (!) das Bein nachzieht. Da er, abgesehen von ein paar Rückblenden, den ganzen Film über eifersüchtig zu sein hat, erst auf den Gatten, dann auf Gott, weiss er nichts anderes zu tun, als weinerlich seinen Mund zu verziehen (indessen nie so, dass sein gutes Aussehen leidet) oder mit dem Zeigefinger nervös unter der Nase herzufahren. Nicht ein einziges Mal ein vitaler Ausbruch des Hasses oder der Leidenschaft, immer nur das beleidigte Maulen des Knaben, dem der Vater das Luftgewehr wegnahm, weil eine Fensterscheibe zu Bruch ging.
Eine im Sinne Greenes einfach nicht zu bewältigende Aufgabe hatte Deborah Kerr vor sich: in einem derart konventionell entworfenen Film. Man glaubt ihr weder die Hure aus Langeweile, noch später die Heilige. Greene war weise genug, Sarah nicht näher zu beschreiben. Sie erstand bei ihm mehr in den Reaktionen ihrer Mitmenschen als in eigener Körperhaftigkeit (ähnlich der Sonja in Dostojewskis "Schuld und Sühne"). In jedem Film von Max Ophüls hätte Deborah Kerrs ladylike Darstellung "gestimmt"; hier bleibt ihr nur das Verdienst, Peinlichkeiten taktvoll verhindert zu haben. Dmytryks ehrerbietig getragener "Realismus" (welch himmelweiter Abstand zum literarischen Verismus Greenes!) wird noch unterstrichen von einem penetrant rührseligen Klavierkonzert als Begleitmusik; nur einen schrillen Misston bringt die überdrehte Karikatur des Detektivs Parkis durch John Mills - nicht allein, weil Dmytryk ihn einen bowler statt des schlichten Huts tragen lässt _... Und welch ein glamour boy ist dieser Priester, von dem es im Buch heisst, er sei "hässlich, hager, grobschlächtig, mit einer Nase wie Torquemada"!
Verschwindend wenige Einstellungen erinnern vom Bild her an den alten Dmytryk: die Aussenaufnahmen einer londoner Vorortstrasse, über die Sarah zu ihrer Verabredung mit Smythe geht; die Szene mit Bendrix und Parkis im Taxi, die Siegesfeier am VE-Day _...
Die Welt Greenes ist mit seelischem Elend und Qual verhangen. Dmytryk meint dem ätmosphärisch" dadurch Rechnung zu tragen, dass er es - in Abwandlung des älteren Filmtitels - quasi "nicht nur sonntags regnen" lässt: stets regnet es entweder, oder es sieht so aus, als habe es eben geregnet oder werde es gleich tun. Die inneren Kämpfe der Personen auf der Leinwand jedoch dringen uns nicht einmal bis auf die Haut, wie allenfalls der Regen. Dabei müssten sie ins Herz gehen.
Von den "weit voneinander entfernten Polen", zwischen denen sich die Spannung erstreckte, ist im Film nichts mehr zu spüren. Weder lebt diese Frau hemmungslos, noch ereignen sich Wunder. Überhaupt wird die Zeit nach Sarahs Tod, etwa ein Drittel des Romans also, unterschlagen. Dafür tauchen zusätzliche Szenen und Dialoge auf, die den Film so zungenfertig machen, als sei er auf eine Parodierung Greenes aus ("Ich will nur deine Liebe, Er (Gott) will dein Leben") und die ihn ausserdem verfälschen. Im Roman stirbt eine Heilige, aber die Menschen um sie herum begreifen nicht oder wollen nicht begreifen - am allerwenigsten Henry oder Bendrix (vielleicht Smythe?). Bendrix bittet in den Schlussworten des Romans Gott, den es für ihn gar nicht gibt, ironisch und müde darum, ihn nicht weiter, wie einst durch Sarah, zu behelligen. Im Film glaubt Henry sowieso an Gott, und Bendrix faltet zum guten Schluss die Hände, nachdem er bloss Sarahs letzten Brief gelesen hat (der mit dem des Romans textlich wieder mal nicht übereinstimmt).
Der kommerzielle Film meint, er brauche das Happy End. Im Film mit der Spitzmarke "religiös" gibt es das metaphysische Happy End. So geht man der unbequemen Frage aus dem Weg, warum es Menschen gibt, die nicht glauben, obwohl es doch Heilige und Wunder gibt. Und drückt sich damit vor der Wirklichkeit.       Theodor Kotulla
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Pankower Legende
ERNST THÄLMANN (Zweiter Teil) - FÜHRER SEINER KLASSE - Produktion: Defa - Regie: Kurt Maetzig - Buch: Willi Bredel, Michael Tschesno-Hell - Kamera: Karl Plintzner, Horst Brandt - Musik: Wilhelm Neef - Darsteller: Günther Simon, Hans-Peter Minetti, Karla Runkehl, Paul R. Henker, Eberhard Kratz, Werner Peters - Deutschland (Ost) 1955.

Heimatland, reck' Deine Glieder,
kühn und beflaggt ist das Jahr.
Breit in den Schultern steht wieder
Thälmann vor uns, wie er war.
(Aus dem Thälmann-Lied von Kuba)

Totalitäre Staatsformen haben ein problematisches Verhältnis zur historischen Vergangenheit. Der jeweilige historische Unterbau gilt als ausschliessliches Ordnungsprinzip und enthält einen vollständigen Normenkatalog des privaten und öffentlichen Handelns. Nun ist aber für die in der Bewusstseinsentwicklung schwerfällige "Masse" die Vergangenheit immer noch eine Art Legitimierungsinstanz, und die als verbindlich gesetzten Leitbilder gewinnen an Autorität, wenn sie aus der Tradition abgeleitet werden können. Also versucht man aus der Geschichte ein glänzend makelloses Bild der eigenen politischen Vergangenheit herauszuschälen.
Unter diesen Aspekten bemüht sich das "Drehkollektiv" des Thälmann-Films, einen Abriss des politischen Geschehens vom beginnenden Verfall der Weimarer Republik bis zum Zusammenbruch der Naziherrschaft zu geben. Da ist nichts mehr zu sehen von der radikalen und permanent durchgehaltenen Ablehnung, mit der die KP der Republik als dem Äusdruck der bourgeoisen Herrschaftsordnung" gegenübertrat. Im Gegenteil: die Kommunisten erscheinen als einzige Gruppe, die entschlossen die demokratische Staatsverfassung gegen den reaktionären Terror verteidigt. So wird bei der Darstellung der Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932 Hitler als Kandidat schlicht unterschlagen. Dadurch entsteht der Eindruck, als ob Hindenburg der Repräsentant der anti-demokratischen Reaktion gewesen sei, dem Thälmann als Vertreter des rechtsstaatlichen Prinzips gegenübergestanden hätte. - Der wilde Streik in den berliner Verkehrsbetrieben im November 1932 wird als Erfolg der kommunistischen Bemühungen um eine Aktionseinheit der Arbeiter gross herausgebracht. Nun wurde aber dieser Streik, der sich gegen den SPD-Magistrat von Berlin richtete, von der KP zusammen mit den Nazis gegen die Gewerkschaft organisiert. Natürlich erscheint der anrüchige Bundesgenosse nicht im Bild. - In besonders radikaler Verzerrung ist die Rolle der SPD-Führung im Weimarer Staat gezeichnet. Die Männer im sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsvorstand treten als Handlanger der Unternehmerinteressen auf. Sie, Tarnow und Severing, sind unentschlossen und feige und blind für die heraufkommende Gefahr. Die immer wiederholten Angebote, mit den Kommunisten eine Einheitsfront gegen die Nazis zu bilden, lehnen sie ungeprüft ab. Der historische Sachverhalt gleicht dieser Darstellung mitnichten. Das deutsche ZK übernahm damals die von Stalin formulierte "Sozialfaschismus"-These. Danach war die Sozialdemokratie der gemässigte Flügel des Faschismus, Hauptstütze der Bourgeois-Herrschaft und Hauptfeind des revolutionären Proletariats. Unter diesem Motto richtete die KPD die Spitze ihrer agitatorischen Hetze gegen die SPD als staatstragender Partei. Hass und Misstrauen, auf diese Weise erzeugt, hinderten dann die SPD daran, im entscheidenden Krisenmoment am 20. Juli 1932 beim Staatsstreich in Preussen und später am 30. Januar 1933 die kommunistischen Angebote, gemeinsam den Generalstreik auszurufen, ernsthaft zu prüfen.
Nun setzt sich dieser Film - neben der möglichst unauffälligen Wahrheitskorrektur - noch andere Ziele. Eines davon liegt darin, dem Akteur im Klassenkampf ein erzieherisches Modell der Gesellschaft als praktikablen Orientierungsmassstab an die Hand zu geben.
Dieses Modell reflektiert sich in den gezeigten Handlungs- und Bewusstseinsträgern. Beginnen wir mit der Zentralfigur. Ernst Thälmann war und ist auch heute noch der weitaus populärste Mann in der Führungshierarchie der KP in Deutschland. Ein ausgeprägt vitaler Charakter mit revolutionärem Elan und ungebrochener Tatkraft, verfügte er dank seiner lupenreinen proletarischen Herkunft über einen sicheren Instinkt im Umgang mit seinen Klassegenossen. Er war ein guter Volkstribun. Zum Parteiführer fehlten ihm der Wissenshorizont und die theoretische Begabung. Seine Artikel und Broschüren, die wesentlich zur Begründung seiner Autorität in der Partei beitrugen, wurden zum grösseren Teil von anderen geschrieben. So führte sein Sekretär, der Redakteur Paul Dietrich, den Beinamen "Teddys Füllfederhalter". Aus dieser Gestalt formen nun die Drehbuchautoren den Mythos des grossen Klassenführers. Es ist erstaunlich, wie wenig revolutionäre Züge das Heldenporträt dann noch aufweist. Der hier gezeigte Thälmann entspricht in seinem äusseren Habitus und seinen Tugenden durchaus dem Ideal des guten Bürgers. Er ist ein rechtschaffener Mensch von vertrauenerweckender Biederkeit, mit einem wohlabgewogenen Gefühl für Mass und Risiko und von stolzer Würde. Von Leidenschaften, Hass, fanatischer Ideenbesessenheit und vitalen Impulsen ist kaum etwas zu spüren.
Günther Simon spielt den gereiften Helden steif und monoton. Die elf Jahre währende Kerkerhaft hinterlässt kaum Spuren in seinem Gesicht. Mit unbewegtem Gleichmut sitzt er gemessen und ernst (und sauber rasiert) in seiner Zelle und schreibt wie ein geschlagener General seine Memoiren. - Der erhabenen Führergestalt sind als engste Mitarbeiter und Vertraute eine Reihe fiktiver Figuren beigeordnet, die innerhalb des Lehrmodells einen festen Funktionswert haben. Fiete und Anne Jansen sind so etwas wie eine Studie zum sozialistischen Menschenbild. Sie repräsentieren die Moral und den Erscheinungstyp des vorbildlichen Klassenkämpfers. - Eine sehr wesentliche erzieherische Aufgabe als Demonstrationsobjekt fällt dem SPD-Genossen Dirhagen zu. In beharrlicher Bewusstseinsentwicklung sagt er sich von seinem verräterischen Partei-Chef Tarnow los und findet den Weg zur Zusammenarbeit mit den Klassenbrüdern in der KP. In der vorletzten Einstellung reicht er sich brüderlich mit Fiete Jansen die Hand: symbolisch der Gründungsakt der SED. Dirhagen (Paul R. Henker) und Anne Jansen (Karla Runkehl) besitzen als Figuren Eigensubstanz und Plastizität. Auch Fiete (Hans-Peter Minetti) hat noch so etwas wie körperhaften Umriss. Alle anderen Darsteller sind entweder als bedeutungslose Randfiguren blasse, ausdruckslose Schatten, oder sie sind schematisierte Typen fortschrittlicher beziehungsweise reaktionärer Verhaltensweisen in der Gesellschaft. Lediglich zwei SS-Typen, Quadde und Hartrein, treffen den bösartigen Charakter der Gattung des Naziunterführers.
Das filmische Zeitpanorama soll seine Einheit und seine sinngebende Mitte in der Figur Thälmanns finden. Es fragt sich nun, ob die dramaturgische Konzeption trägt, das heisst, ob man Thälmann genügend Schwerkraft verliehen hat, um die auseinanderstrebenden Teile zu binden und zu einem klar strukturierten Gefüge zu ordnen. Schon im ersten Filmabschnitt, als Teddy noch in fieberhafter Aktivität an allen Knotenpunkten der Handlung entscheidend eingreift, ist die Verknüpfung der nur durch die chronologische Abfolge verbundenen Einzelgeschehnisse zu einem überschaubaren und vollständigen Muster nur unvollkommen bewältigt. Nachdem er dann im März 1933 hinter den Gittern des SS-Gefängnisses verschwindet, ist mit ihm gleichsam der Kristallisationskern aus dem Handlungsgemenge herausgezogen. Jetzt machen sich die einzelnen Episoden, die zusammengesetzt ein geschlossenes Mosaik ergeben sollen, vollends selbständig und fallen auseinander. Und diese Episoden wiederum sind nur bruchstückhafte Ereignisfetzen, die ihren Sinn nicht in sich selbst tragen können. Denn kein Gegenstand, kein Vorgang und kein Ort erhält im Bild einen eigenen, allein aus seiner Befindlichkeit hervorgehenden Ausdruckswert. Alles wird Mittel, und der übergeordnete Zweck ist die Bestimmung zum Anschauungsmaterial für die Schulung in Parteigeschichte und Doktrin. Da bleibt nichts offen, da wird alles ausgespielt, so und nicht anders liegt die Frage.
Ist das Thema nun filmgerecht abgehandelt, wenn man die wichtigsten Ereignisse jener Jahre in ihrer Chronologie abspielt? Aus einem solchen Vorgehen ergibt sich notwendig eine immense Fülle von Details und eine Zersplitterung der Handlung in viele nur locker zusammenhängende Aktionsbilder, die eine dynamische Entwicklung des Stoffes ausschliessen. Die Folge ist eine gemessene Langeweile, die sich durch den Mangel an filmischer Qualität noch steigert. Die Kamera wird als stationäres Gerät benutzt: die Schauspieler treten in den Aufnahmewinkel, spielen ihren Passus herunter und gehen aus dem Bild. Die Montage ist so unbeweglich, als hätte man eine Reihe von Standfotos aneinandergeklebt. Der dokumentarische Wert der Zeitspiegelung wird allein schon durch die knallig-bunten Farben zunichte gemacht. Die Farbenpracht, der monumentalische Aufbau der Massenszenen (Reichstag) ist rückständigste Opernregie. Der Dialog bewegt sich in der gravitätischen Sprache von Kongressresolutionen. Der erste, vor anderthalb Jahren gedrehte Teil des Thälmann-Films ("Sohn seiner Klasse") zeichnete sich noch durch die Sicherheit der Milieuwiedergabe und durch optische Dichte bestimmter Situationen aus. Nachklänge davon sind auch im zweiten Teil noch spürbar. So ist beispielsweise die kommunistische Widerstandsarbeit im Dritten Reich in wenigen Bildern knapp und treffsicher eingefangen. Aber sowohl dramaturgisch wie bildlich ist der zweite Teil entschieden lahmer als der an sich schon lahme erste Teil. Es sollte uns nachdenklich stimmen, dass dieser Film, dem wir bestenfalls mit pietätvoll gelangweilter Geduld begegnen können, in der DDR grosse Teile des Publikums durchaus anspricht. Dieses Publikum akzeptiert die Legende als authentisches Zeitdokument und empfindet es als künstlerischen Ausdruck unumstrittener weltanschaulicher Werte.       Peter Hanke
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Die schrecklichen Eltern von Amsterdam
Ciske de Rat (Ciske - Ein Kind braucht Liebe) - Regie: Wolfgang Staudte - Niederlande und Deutschland (West) 1955

Nach den kassenfüllenden Kinderstars, die in den letzten Monaten von den Leinwänden herab mit traurigen Augen nach einem verständnisvollen Babysitter suchten, bemüht sich Wolfgang Staudtes "Ciske" unmissverständlich um Abstand vom modischen Kindergarten-Idol. - Nicht sonderlich originell ist die Story: wieder einmal geht es um das unverstandene Hurenkind und Umweltopfer; Rettung bringen der Tod der entarteten Mutter, die Jugendfürsorge, eine schwere Krankheit und die Eingewöhnung ins Armund-doch-ehrlich-Milieu der Buntkarierten. Ein altes Übel des Drehbuchautors Staudte: mangelnde Konzentration einer weitläufigen Handlung (nach einem Roman von Piet Bakker), in der die Fülle überraschender Ereignisse die Identifizierungskraft des Zuschauers allzubald verbraucht. Bedenklich ist die schwache Motivation des Problemkindes Ciske - hier wird kräftig schwarz-weiss gemalt, bis auch der Sperrsitz die lockere und verantwortungslose Mutter als Wurzel allen Übels akzeptiert. Dem anämischen Klischee dieser zigarettentollen Halbweltdame stehen die passabel gezeichneten Gestalten von Lehrer und Polizist gegenüber. Gelungener ist jedoch die Figur des Geistlichen, der uns endlich einmal einen Dialog ohne kirchenmusikalische Crescendos auf dem Tonstreifen und eine schlichte, glaubhafte Priestergestalt beschert. - Überhaupt werden die Unebenheiten des Drehbuchs weitgehend korrigiert durch vorzügliche Details und durch die Darsteller (oder die Darsteller-Regie), die sich, einmal aus ihren Klischees erlöst, als subtile und differenzierte Charaktere entpuppen: Berta Drews, Günther Lüders, Heli Finkenzeller, Hermann Speelmanns, dazu die Holländer Henrik Brusse, Alexander Kerst und vor allem Dick van der Velde als Ciske, der sogar jenen Wolkenbruch guter Gefühle zu vermeiden weiss, der sonst zum Happy End auf die kleinen malträtierten Helden herabprasselt. - Die Gestaltung bietet einen gelungenen Bummel durch diverse Kapitel Filmgeschichte. Wolfgang Staudte ist dabei ein Cicerone ersten Ranges; er ist wohl überhaupt der vielseitigste Eklektiker unter den heutigen Regisseuren, der einzige, der Pabst und Eisenstein, Murnau und den Expressionismus in sich aufgenommen hat.       -pp
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"Bild" im Film
ALIBI - Regie: Alfred Weidenmann - Deutschland (West) 1955

Soviel Treffsicherheit im Titel ist selten dagewesen. Älibi" heisst der Film, und genau darum handelt es sich: um ein moralisches Alibi nämlich für das hamburger Sensationsblatt "Bild" und seinen Verleger. Produzent F. A. Mainz hat es im Verein mit Drehbuchautor Herbert Reinecker und dem Regisseur Alfred Weidenmann geliefert. Natürlich heisst "Bild" nicht "Bild", sondern "Express" - so primitiv ist man ja nicht -, aber die Aufmachung des Blattes und der Redaktionsbetrieb, die auf der Leinwand vorgeführt werden, lassen keinen Zweifel daran, wem hier ein filmisches Feigenblatt appliziert werden soll. Nein, primitiv ist man gewiss nicht. Die Produzenten sind weit davon entfernt, eine glatte Lobpreisung der Sensationsmache aufzutischen. Im Gegenteil! Wie heisst es so schön bei Wilhelm Busch: "Die Selbstkritik hat viel für sich _..." Also zieht man gegen die menschliche Kontaktlosigkeit in der Massengesellschaft zu Felde, kritisiert das Profit- und Erfolgsstreben, das den Einzelnen weder rechts noch links sehen lässt, wenn er nur vorwärtskommt, teilt à la Cayatte ein paar Hiebe gegen die Schwurgerichtspraxis aus und glossiert schliesslich sogar die Techniken der Sensationsprozesse. Freilich nur soweit, dass die Sache interessant wird! Auch das Kinopublikum freut sich über einen reuigen Sünder nun einmal mehr, als über zehn Gerechte. O. E. Hasse demonstriert die Umkehr: Erfolgshungriger Reporter ohne Interesse für seine Mitmenschen auf der Suche nach Knüllern wird eines Tages widerstrebend auf einen jungen Mann aufmerksam, der infolge Indizienbeweises, aber vermutlich unschuldig, wegen Mordes verurteilt wird. Eine Lokalepisode, für die er anfangs nur zehn Zeilen auf der dritten Seite geben wollte, rührt plötzlich sein versteinertes Herz. Natürlich holt er den Armen mit einer grossen Schlagzeile und detektivischen Recherchen wieder aus dem Kittchen heraus. Die Quintessenz - Nahaufnahme! - des Chefreporters: "Wir sind nämlich die Einzigen, die für -jemand eintreten können, auch für den armseligsten Menschen, wenn er nicht mehr weiter weiss. Wenn er nirgendwo mehr recht bekommt, dann bleibt ihm immer noch ein Ausweg: ,Ich schreib an meine Zeitung!'" - So wird ausgerechnet eines der krassesten Symptome für die Entfremdung des Menschen in der technischen Massengesellschaft, die Pseudo-Intimität des Boulevardblatts, ihm hier als Heilmittel angeboten.       bgh
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Femme fatale
Teufel in Seide - Regie: Rolf Hansen - Deutschland (West) 1956

Das Bemühen um "Qualität" ist dem Film auf jedem Meter anzumerken: der tiefenscharfen Garutso-Plastorama-Fotografie (der stellenweise wirklich der Ausbruch aus der Bilderbogen - Zweidimensionalität deutscher Kamera-Routine gelingt), dem Einsatz von Filtern und Zeitlupe (Traumszene!), dem Drehbuch (Jochen Huth), das die gewohnte Kontinuität des Geschehnisablaufs zerstückelt und - manchmal auf recht hübsche Weise - neu zusammensetzt. Vor allem aber ist da Lilli Palmer: nach all den Hausmütterchen, blassen Backfischen und fleissigen Buhlerinnen endlich einmal eine Frau auf der deutschen Kinoleinwand, noch dazu eine, die spielen kann; neben ihr treten freilich die unfreiwillig-parodistischen Züge in Curd Jürgens' Auffassung von Männlichkeit noch mehr hervor - wie dieser über Sokrates bramarbasiert, das ist einfach ein Kabinettstück der Selbstpersiflage! - Dann aber die Geschichte: Was soll uns eigentlich dieser "Gesellschaftsroman" à la Ullstein, die belanglose Geschichte einer reichen Hysterikerin, die einen armen Musiker zum Manne nimmt und ihn durch ihren pathologischen Egoismus "seelisch" fast zugrunderichtet, ehe dieser Zuflucht sucht und findet bei einem blonden Seelchen? Und was soll uns die betuliche Schilderung des feinen Lebens der upper ten, in dem alles wo nicht edel, so doch im reinen Klima der Leidenschaften vor sich geht? Die Vorstellung, dass der Besitz vom herrschenden Zweck-Denken dispensiere, ist kleinbürgerliche Ideologie. An dieser hat der Film schliesslich auch teil, indem er Schicksal als unausweichliches darstellt, das sich dank vorgegebener seelischer Konstitution nur "vollendet". - So beantwortet der Film schliesslich nur die Frage, wohin der westdeutsche Film bestenfalls gelangen kann, wenn er auf seinem falschen Wege weiterfährt.       pat
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Ein Nazi-Film
Solange Du lebst - Regie: Harald Reinl - Deutschland (West) 1955

Ein Vorspanntext versichert eingangs, das Folgende sei eine völlig unpolitische Liebesgeschichte, der der spanische Bürgerkrieg nur als Hintergrund diene. Darauf erlebt dann ein schauderndes Publikum achtzig Minuten die Herrschaft der "Roten" (sprich: Republikaner), die in einem andalusischen Nest morden, saufen, nationalbewusste Mädchen anpöbeln, Sowjetsterne an der Mütze tragen und mit östlichem Akzent reden. Bis die "Befreier" anrücken, Francos Truppen und die blonden Helden der "Legion Condor": sie alle sprechen sauberes Hochdeutsch, und ihre weissen Hemden mit Krawatte heben sich vorteilhaft ab von den Lederjacken der "Roten". Sie rücken an, die Bevölkerung strömt jubelnd aus den Häusern, und vor den flatternden Bannern der Francisten schliessen nationaler Befreier-Grande und befreite Dorflehrerin einander in die Arme. - Was sich wirklich begab beim Einmarsch der Nationalisten in den "befreiten" Landesteilen, lese man nach bei Bernanos, bei Bruce Marshall, bei Koestler oder in Thelens "Insel des zweiten Gesichts". Dort erfährt man auch Zuverlässigeres über die Hintergründe des Bürgerkrieges, die dieser Pro-Franco-Film wohlweislich im Dunkeln lässt. Zur Verunglimpfung der Internationalen Brigade passt genau die Verklärung der "Legion Condor", die bekanntlich von Hitler nach Spanien entsandt wurde zur Erprobung der deutschen Waffen für den "richtigen" Krieg. - So kauft niemand dem Film die Versicherung des Vorspanns ab, ausser den Selbstkontrolleuren, die ihn - wenn auch zögernd - zuliessen und den ohnehin längst von allen guten Geistern verlassenen Prädikatisierern, die ihn - ohne zu zögern - "wertvoll" fanden. Dies ist sicher interessanter als der Film selbst, der so schludrig gemacht ist, dass das Publikum ihn kaum beachtet: dass es in dieser Bundesrepublik bereits wieder möglich ist, einen offenkundigen Nazi-Film zu machen, ihn durch die Zensur zu bekommen und mit Steuerermässigung aufzuführen. - So wird täglich in westdeutschen Filmtheatern der Mord an Federico Garcia Lorca wiederholt!       pat
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