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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 51, Oktober-Dezember 1966

Inhalt
Münchner Kurzfilme
Berlinale
Brief aus den Niederlanden
Warum nicht gleich so ?
Abschied von gestern: Enno P.
DEFA '66
Der mexikanische Film
Mollymauk, der Wunderknabe
Schonzeit für Füchse
Der junge Törless
Die alles begehren


Münchner Kurzfilme

Kürzlich war im Rahmen einer Informationsreihe des frankfurter Filmstudios über neuere Filme auch eine Auswahl von> Kurzfilmen einer neuen münchner Gruppe zu sehen: Rudolf Thomes "Versöhnung" und "Stella", Max Zihlmanns "Frühstück in Rom", Klaus Lembkes "Duell".

Es sind Filme, denen man den Kampf mit den technischen Mitteln noch deutlich ansieht: der Aufbau der Einstellungen, die Schauspielerführung, der Schnitt wirken unbeholfen dilettantisch. Die Mängel, die hier noch sichtbar sind, mögen durch Übung verschwinden, Erfahrung aber fehlt vor allem in der sorgfältigen Durcharbeitung der Themen.

Die Filme variieren das durch die Fixierung von Liebesbeziehungen entstehende Problem des Verlustes erotischer Spontaneität. Es liegt natürlich nahe, den Blick auf die institutionalisierte Form der Liebe, die Ehe, zu lenken. So ist es in "Frühstück in Rom" schon allein der Plan, eine Beziehung zu legalisieren, der zur Stagnation führt. Der zunehmend bitterer werdende Vorgeschmack eines hausbackenen Familienlebens macht auch die Gegenwart ungeniessbar. So sieht es jedenfalls "er", ein junger Filmkritiker, dessen Horizont nicht weit über den Schwabinger Stammtisch hinauszureichen scheint, wenn er seiner Freundin seine Ansichten vom nun angebrochenen Matriarchat und der damit aktuell gewordenen Pflicht seiner Zukünftigen, ihn zu ernähren, unterbreitet. Der sich in Zihlmans Film so auf der Höhe der Zeit glaubende und um Spontaneität besorgte junge Mann zeigt weder Witz in seinen Argumenten noch einen Funken Spontaneität in seinem Verhalten. Dass ihm etwas in der Ehe verlorengehen sollte, kann man sich nicht vorstellen. Entweder muss der Autor evident machen, was den Personen möglich ist, um überhaupt erst einmal Raum für das Argument zu gewinnen, dass sie etwas zu verlieren haben, oder er muss Reden und Verhalten konfrontieren und damit eine Karikatur entwerfen, in der der ehemals laute Nonkonformist als braver Konformist im Kreise seiner Lieben zu besichtigen ist.

Das, was die beiden in "Frühstück in Rom" befürchten, ist in "Versöhnung" eingetreten: ein ganzes langes Frühstück sitzt sich ein Ehepaar stumm gegenüber. Dieser Gruppe ist eine junge Graphikerin gegenübergestellt, die als moderner Mensch die Welt, die Männer und das Kind, das sie erwartet, betont lässig nimmt. Der seiner öden Ehe für kurze Zeit entfliehende Ehemann begegnet ihr auf dem Oktoberfest, fühlt sich aber ob ihrer Emanzipation ziemlich hilflos und kehrt brav zurück ins Heim, wo ihm der neue Büstenhalter seiner Frau Gelegenheit gibt, die normalen Beziehungen wieder aufzunehmen. Das Thema ist hier nicht, wie in "Frühstück in Rom", nur verbal angegeben, sondern auch zu einer bildlichen Konfrontation ausgearbeitet, jedoch ist diese Konfrontation noch zu schematisch. Mag es angehen, die Lässigkeit des jungen Mädchens - obwohl diese eher Ausdruck ihrer Dummheit denn ihrer Aufgeklärtheit ist - der konventionellen Bravheit des Ehelebens gegenüberzustellen, so wird doch die Konventionalität selbst nur durch ein einziges Argument, nämlich die Stummheit der Ehepartner, belegt. Es bedarf einer besonderen Kunst, um Stummheit beredt und Langeweile interessant zu machen. Es reicht nicht, dass der Autor die ganze Zeit mit zu Tische sitzt, um das Anschweigen zu beobachten. Wenn er dieser Situation Objektivität geben will, muss er mehr sagen; z.B. kann er den Weg der gesellschaftlichen oder individuellen Genese einschlagen oder er kann den subjektiv beobachtenden Standpunkt eines der beiden während der Frühstückspause einnehmen. Beides lässt sich an LA NOTTE studieren. Um vom Klischee wegzukommen, hilft nur die Konkretion, das heisst, man muss sich in die Komplexität der Themen einlassen, die man so unbefangen anschneidet.

Den Vorwurf der Äusserlichkeit kann man auch "Duell" von Klaus Lembke nicht ersparen. Wieder einmal ist eine junge, gerade etwas stagnierende Ehe der Ausgangspunkt. Als Wiederbelebungsmittel eröffnet die Frau ein Versteckspiel durch Nachtlokale. Am Ende des Räuber-Gendarm-Spiels zeigt sich, dass der kleine Kampf erotisch stimulierend wirkte, und so sinkt man sich wieder in die Arme. Dem Film kann man keine Unstimmigkeit in der Themengestaltung nachsagen, nur taugt leider das Thema selbst nicht viel. Was für die beiden sicher sehr amüsant war, ist für den Zuschauer, der keinen Anlass hat, an den beiden oder an Nachtlokalen ein besonderes Interesse zu nehmen, herzlich langweilig. Eine immanente Spannung der Bewegung wird nur erreicht, wenn man, wie z.B. Griffith, sie dramatisiert.

Etwas mehr Kunstfertigkeit in der Erzeugung dramatischer Effekte zeigt schon "Stella". Eifersüchtige Missstimmung beherrscht einen jungen Mann, dessen Freundin spät nach Hause zurückkehrt. Der Eindruck, dass er zu Recht in dieser Stimmung ist, wird eine Weile aufrechterhalten, bis in einer kleinen, psychologisch gut ausgedachten Wende sich die Untreue des Mädchens als fingiert und als Reaktion auf die des Mannes erweist. Der junge Mann sucht sich aus der Situation zu retten, indem er seiner Freundin das Stellamotiv als praktikabel schmackhaft zu machen sucht, doch als sie die ersten Schritte unternimmt, um sich mit ihrer Rivalin über dies Problem zu beraten, wird ihm ob der Leben werdenden Literatur bange. Diese kleine Geschichte hat genug Spannungspunkte in sich, sie bedarf nicht der besonderen Vorbereitungen den Spielfilms und lässt sich als Episode gut in einem Kurzfilm realisieren. Arbeiten müsste man hier nur an den Dialogen, der psychischen Beweglichkeit der Schauspieler und an der Dramatisierung der Montage, damit sich die dem Film noch anhaftende Schwerfälligkeit verliert.

Es waren offenbar nicht die besten Filme, die die Münchner nach Frankfurt geschickt hatten. Den Dokumentarfilmen von Nestler sagt man weit bessere Qualität nach, und auch der im Beiprogramm zu "Schonzeit für Füchse" gezeigte Film "Kleine Front" von Klaus Lembke ist interessanter. Drei junge Männer suchen mit den vierundzwanzig Stunden des Tages auf möglichst unkonventionelle Art fertigzuwerden und sind in diesem Versuch immer wieder von der Tendenz zum Zeitstillstand und damit der Langeweile bedroht. Dieser Wechsel von Plänemachen, Aktion und Dahinbrüten ist dem Film gelungen. Das unlustige Herumblättern in Zeitschriften, das Herumstehen in der Landschaft und dagegen die kurzatmigen Aktionen eines versuchten Forellendiebstahls, des Beschaffens von Mädchen für den Abend - dies alles macht den Tag zu einer Anstrengung, die der der entfremdeten Arbeit gleichkommt.

Es ist nur logisch, dass das Kino als zerstreuendes Ersatzleben zum festen Inventar solch mühsamer, unbefriedigender Tage gehört. Um dieses Thema auszubauen und zu vertiefen, würde es sich lohnen, von "Kleine Front" ausgehend einen Spielfilm zu drehen.       Dietlind Reck
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Berlinale

Den Film, den ich ohne Einschränkung als den besten des ganzen Festivals bezeichnen möchte - es reichte ihm bei der Jury leider nur zu Regiepreis und Silbernem Bären - ist Spaniens LA CAZA ("Die Jagd") von Carlos Saura. Auf einem von Schanzen und Schützengräben aus dem Bürgerkrieg durchzogenen Gelände gehen José, Paco und Luis in Begleitung von Pacos Schwager Enrique auf die Hasenjagd. Die drei Männer sind alte Freunde aus dem Bürgerkrieg, verbunden durch Erinnerungen, gemeinsame Geschäfte und grosse Worte, an die sie nicht glauben. Der um eine Generation jüngere Enrique steht ausserhalb dieser Gemeinschaft, ein neutraler Beobachter, der den Bürgerkrieg nur aus der Erzählung kennt und mit einem kleinen Mädchen Twist tanzt.

Der Tag fängt gut an, die Freundschaft ist herzlich. Doch je höher die Sonne steigt, je schärfer die Schatten der Grasbüschel und Steine die karstige Landschaft zeichnen, um so mehr steigt die Spannung. Die Unterhaltung der Männer wird, unmerklich zuerst, schärfer, kreist immer wieder um das Thema Bürgerkrieg, ohne es wirklich zu berühren; die Stimmung wird unerträglicher, von Sequenz zu Sequenz atmen die Bilder mehr Brutalität und Hass. Der erste Teil des Films kulminiert in einer wilden Schiesserei auf die Hasen. In gleichgültigen, kalt wissenschaftlichen Bildern aufgenommen, die immer schneller geschnitten sind, sieht man sie fallen, aufzucken, sterben. Doch die Entladung war nur scheinbar, ein Wetterleuchten, noch kein Gewitter. Die Handlung wird jetzt aktionsärmer, die innere Spannung grösser. Die Worte werden aggressiver, die Münder verbissener, die Falten in den Gesichtern der Männer schärfer. In der Hitze des Mittags schmilzt die Freundschaft. Die fast unerträgliche Spannung entlädt sich in einer Schiesserei der Männer aufeinander. Die Hasenjagd wird zur Menschenjagd. Die drei Männer erschiessen sich gegenseitig, der Junge hastet davon, ein Mitwisser jetzt, sein entsetztes Gesicht bleibt auf der Leinwand als Stehkader aus dem Laufen heraus, mit aufgerissenen Augen.

Ein Kammerspiel, in Form einer klassischen Tragödie, chronologisch erzählt. Es gelingt Saura mit geringsten Mitteln - Grossaufnahmen, äusserst rhythmischen Schnitten, Bildern von Nebensächlichem - eine Spannung zu erzeugen, die sich auf den Betrachter überträgt. Er weckt in ihm eine klare kühl geistige Anspannung - nicht die äusserliche Spannung des Krimis -, die es ihm möglich macht, weit über das gefühlsmässige Miterleben hinaus, das Geschehen geistig zu erfahren. Ein konsequenter Film in Form und Inhalt, von dem Buñuel sagte, dass er genau das weiterführe, was er selbst anstrebe.

Auch in Deutschlands Beitrag "Schonzeit für Füchse" von Peter Schamoni wurde scharf geschossen, allerdings nur auf Fasane und Hasen, denn die Füchse, die jungen Leute, will man lebend haben. So wird man denn Zeuge einer langatmigen Jagd auf die Jungen, die noch Ideale - aber welche eigentlich - haben, die es zu erhalten gälte, zwar nicht mehr so zornig wie in den fünfziger Jahren, aber immerhin ohne Krawatte, mit dem Schreibtisch voller Papiere und den Büchern auf dem Boden, bis der eine, zur Strecke gebracht von einer Sekretärin, sich resignierend ins Bürgerliche fügt, der andere nach Australien flieht, wo das Leben noch frei, der Zwang zur Anpassung, scheint 's, noch nicht so gross ist. Die anderen, die Jäger, das sind die Alten, die Wohlsituierten, die, ob reich, ob Mittelstand, Bäuche haben, die Bücher im Schrank bzw. das EK im Wäschefach. Sie wissen schon im voraus, dass sie Sieger sein werden, denn die Welt ist rund, und der Gummibaum neben dem Radio muss allemal jede Woche neu abgestaubt werden. Ein wichtiges Thema also: Zeit der Anpassung, des Erwachsenwerdens, leider vertan von Schamoni. Im Bemühen, verständlich zu sein, bleibt er am Oberflächlichen haften, versucht nie den ursächlichen Zusammenhang aufzuzeigen, benutzt Klischees. Zudem behandelt er ausgerechnet das Thema des Aufbegehrens gegen Konventionen so konventionell, dass man aus dem Gähnen nicht herauskommt.

Ein ganz anderer Film über die Jugend ist Godards MASCULIN - FEMININ. In 15 Kapiteln zeigt er sie, zwei Jungen und drei Mädchen, im Bistro, im Waschsalon, im Kino, im Bett, beobachtet sie beim Plakatekleben, Zeitunglesen, Essen ,fragt sie aus, beharrlich bohrend, über Sozialismus, Sex, Liebe, Pille, American way of life. Und sie agieren und antworten frei, unbekümmert, spontan zwischen den Requisiten ihres Zeitalters, dem Dekor ihres Lebensstils; schicke junge Leute mit einem gehörigen Mass an Grosssprecherei - gewandt im Bedienen von Automaten - die die Welt akzeptieren, ohne zu fragen. Sie haben sich mit ihr zusammengetan, noch bevor sie in die Verlegenheit kamen, einen Kompromiss schliessen, sich für oder gegen sie entscheiden zu müssen. Infantile Erwachsene, deren Mund die Klischees entsprudeln, wie Cola den Automaten. Selbst ihre gelegentliche Prahlerei ist äusserlich, eine Masche, nicht Ausdruck irgendeiner Unsicherheit. Sie kennen nicht die Schwierigkeiten der acht Jahre Älteren, lassen alle Fünfe gerade sein wie Schamonis Erwachsene. Weil es im Moment Mode ist, kleben sie Plakate für die Kommunisten und malen ,Paix au Vietnam' an ein amerikanisches Militärauto. Es wird sich legen, von einem gewissen Alter an wirkt Engagement lächerlich. Eine interessante, frische Studie, Beobachtungen aus der Welt einer bestimmten Schicht von jungen Leuten, glaubhafte Schilderung eines sei 's auch fiktiven Lebensgefühls, das Godard fasziniert, ihn interessiert, das er erfassen will mit seinen beharrlichen Fragen. Ein Dokument fast, in dem er aufzeichnen will, wie die Ereignisse der Welt um sie herum auf diese kleine Gruppe wirken.

Leider hat sich Godard nicht mit dem blossen Beobachten begnügt. Das Aufzeichnen einer vielleicht erfundenen Lebensweise genügt ihm nicht, er verbindet es mit einer Geschichte, die seine eigene Lebenshaltung bestätigt; und so kommt er denn, der ewige Godard'sche Narr: Paul, der als einziger der Fünf Skepsis kennt, ein leises Misstrauen gegenüber der Welt entwickelt. Paul, der, als er in einem Bistro einen Mann beobachtet, der nach dem Palais des Sports fragt, die Bedienung genau das gleiche fragt und die Frage seines Freundes nach dem Sinn seines Tuns mit: "Ich will mich in seine Lage versetzen" beantwortet; Paul, der in einem Meinungsforschungsinstitut arbeitet und doch glaubt, dass die Leute nicht ehrlich antworten können, weil sie durch die Fragen festgelegt werden; Paul, der in einem Liebesgedicht an Madeleine von sich selber als einer Caravelle spricht, die eine Boeing 727 ruft. Diesen Paul lässt Godard zufällig aus dem Fenster stürzen. Den Versuch, durch Fragen und Beobachtungen hinter eine bestimmte Lebenshaltung zu schauen, den er mit so viel Geduld und Beharrlichkeit, ja fast verliebt in diese Generation begonnen hat, bricht Godard ab: Pauls Tod machte jede Diskussion überflüssig, alle vorherigen Fragen sinnlos. Gefangen im eigenen Fatalismus, mauert er seinen Film schnell zu, anstatt ihn, seiner Anlage gemäss, frei und offen in den Raum zu stellen. Er will diese jungen Leute gar nicht verstehen, so ausdauernd seine Kamera sie auch beobachtet, er will sie nur benutzen, um seine eigene Lebenshaltung zu bestätigen, nicht um ihre herauszufinden. Ein interessanter Film, anregend und unterhaltsam zu sehen, aber eigentlich unehrlich, voreingenommen.

Da scheint mir LES COEURS VERTS ("Grüne Herzen") von Edouard Luntz, ein Film über die Jugendlichen, die Banden bilden, Blue Jeans, Blousons und lange Haare tragen, aufrichtiger. Nach einer wahren Begebenheit erzählt er die Geschichte zweier Jungen aus einer solchen Bande. Zim, der Intelligentere von beiden, merkt, nachdem er für alle im Gefängnis sass, dass er im Ernstfall nur auf sich selbst rechnen kann, sucht sich Arbeit und kommt nach einigen Schwierigkeiten zu geordneten bürgerlichen Verhältnissen. Der andere, zu labil und unreflektiert, wird erneut straffällig. Ein achtbares Dokument - mag man auch über die Moral anderer Meinung sein -, mit Laiendarstellern fesselnd und glaubwürdig in Szene gesetzt.

Noch andere Filme beschäftigten sich auf dieser Berlinale mit der Jugend. Silvio Narizzano erzählt in seiner unterhaltsamen Komödie GEORGY GIRL, Englands Beitrag, die Geschichte eines hässlichen Mädchens, das das Kind ihrer Schwester adoptiert, eine Zeitlang mit ihrem Schwager zusammenlebt und am Ende einen reichen Mann heiratet, der eigentlich etwas anderes erwartet hat als eine treusorgende Mutter. Ein sehr vergnüglicher Film, besonders durch die ausserordentliche begabte Lynn Redgrave in der Titelrolle.

Godard wollte durch MASCULIN - FEMININ, "den Film über die Jugend, die Jugend des Kinos widerfinden". Florestano Vancini hat die Hoffnung, etwas von der Jugend wiederzufinden, längst aufgegeben. In seinem Film LE STAGIONI DEL NOSTRO AMORE ("Jahreszeiten unserer Liebe"), Italiens Beitrag, zeigt er einen Journalisten, der, nachdem ihn seine junge Geliebte verlassen hat und seine Frau seine Launen nicht länger erträgt, sich auf die Suche nach seiner verlorenen Jugend in seine Vaterstadt begibt. Doch die Freunde sind alt geworden, die Erinnerungen und die neuen Bilder passen nicht mehr zueinander. So fährt er denn, wieder einmal, über regennasse Strassen, vorbei an kahlen Bäumen. Ein weinerlicher, sentimentaler Film, in dem der Regisseur dem, was er für unwiederbringlich hält, in symbolträchtigen Bildern nachtrauert.

George Axelrod zeigt in seiner "Popkomödie in schwarz und rosa" LORD LOVE A DUCK ("Mollymauk, der Wunderknabe") einen einfallsreichen jungen Mann, der mit Hilfe von ,Hypnose' geheimste Wünsche herausfindet und durch seinen Drang, diese möglichst vollendet zu erfüllen, schliesslich ins Irrenhaus kommt. In seinem Bemühen, den Collegebetrieb, Beach-Parties, eine gewisse Sorte von Filmregisseuren und alle Auswüchse des American way of life auf die Schippe zu nehmen, übertreibt er fast alles so sehr, dass man sich nahezu totlacht, statt sich betroffen zu fühlen. Vor lauter Überzeichnungen wird die Parodie zum Selbstzweck, die Gags überschlagen sich und enden durch ihre immer wieder ähnliche Zusammensetzung im Leerlauf.

Auch der Krieg war komisch dieses Jahr, jedenfalls in Rappeneaus VIE DE CHATEAU ("Wie Gott in Frankreich"). Er wird in einem französischen Landschloss kurz vor der Invasion der Amerikaner zwischen einem deutschen Besatzungsoffizier, einem Angehörigen der Resistance und dem Schlossherrn hauptsächlich um den Platz in Cathérine Deneuves Bett geführt. Der wirkliche Krieg, der gegen Ende des Films in Gestalt von Panzern und Flugzeugen hereinbricht, wirkt nach all dem vorangegangenen Klamauk so befremdlich, so sehr als Stilbruch, dass man nur noch konsterniert, nicht erschreckt, den Kopf schüttelt. Nur eine Szene im Film war wirklich so makaber, dass das Lachen im Halse steckenblieb: ein deutscher Offizier schimpft aus vollem Herzen, da trifft ihn eine Granate; wo er stand gähnt ein Trichter.

Mit CUL DE SAC ("Wenn Katelbach kommt") trug Polanski grossen Preis und goldenen Bären für seinen Film über zwei Verbrecher davon, die auf einem einsamen, am Meer gelegenen Schloss ankommen und die Bewohner, einen ältlichen Fabrikanten und seine junge hübsche Frau, unterjochen. Ein simples Gangsterfilmthema also oder eine Situation von Beckett? Dazu erklärte Polanski: "Ich wollte zwei Arten von Leuten zeigen, die Gangster und ein Ehepaar. Beide wissen am Anfang nicht, was geschehen wird. Eigentlich eine Klischeesituation. Hätte ich einen Film nach dem üblichen Schema machen wollen, ich hätte zuerst das Ehepaar gezeigt, es dem Publikum sympathisch gemacht, dann die Gangster ankommen lassen. Ich machte es gerade umgekehrt, zeigte zuerst die Verbrecher und beschrieb keine Person besonders sympathisch. In Wirklichkeit ist es doch so, dass nichts richtig unter unserer Kontrolle ist, man weiss nie genau, was im nächsten Moment geschehen wird. So ist es auch in meinem Film, ich mache das nicht, um zu überraschen, es passiert halt so. That 's life and that 's what I was up to." Und genau da liegt der Fehler des Films. Um darzutun, dass man im Leben nie genau weiss, wie es weitergehen wird, kann man den Spiess nicht einfach herumdrehen und nun immer das Gegenteil dessen passieren lassen, was dem Klischee nach sich ereignen müsste. Die fortwährende Überraschung wird, als Prinzip angewandt, selbst zum Klischee, ebenso voraussehbar wie die übliche Szenenfolge. Da Polanski diese Umkehrung in seinem Film fast immer benutzt, durchschaut das Publikum das System sehr bald, das ursprünglich Unerwartete wird voraussehbar, ja wahrscheinlich. So wird der Film trotz des grossartigen Lionel Stander als Gangster, trotz einiger ganz köstlicher Szenen auf die Dauer ermüdend, langweilig und kommt im Endeffekt über die üblichen Filme dieser Art nicht hinaus.       Alja Naliwaiko
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Brief aus den Niederlanden

Es hat den Anschein, als seien für die niederländische Spielfilmproduktion einige unfruchtbare Jahre vorbei. Der Ruhm, mit dem Dokumentaristen wie Haanstra, Huguenot van der Linden oder van der Horst Holland bedeckten, ging vor einigen Jahren fast ganz verloren. Haanstra, seit Jahren in der Jury der Oberhausener Kurzfilmtage, erreichte seinen Höhepunkt mit GLAS (1958), einem sicherlich schönen und hervorragend montierten Dokumentarfilm über die Glasproduktion. Wie veraltet dieser Streifen jedoch jetzt schon ist, sah man in einer der Retrospektiven der letzten Oberhausener Kurzfilmtage. Haanstras Spielfilm FANFARE wurde ein Misserfolg. Mit dem auch in deutschen Kinos gezeigten Kurzfilm ZOO wagte er sich an eine zu jener Zeit in Holland noch wenig gebräuchliche Arbeitsweise: Reaktionen von Menschen und Tieren in einem Zoo wurden von ihm mit der candid camera festgehalten; der Film enthielt einige lustige Szenen, die aber mit der Montage leicht zu erzielen sind. Ebenfalls mit der versteckten Kamera wurde ALLEMAN ("12 Millionen") gemacht. Auch er lief in Deutschland und sollte eine Studie verschiedener Aspekte aus dem Leben des holländischen Bürgers darstellen. Das Resultat fiel genauso nichtssagend wie bei ZOO aus. Die Dokumentarschule konnte auf internationaler Ebene nicht mehr mithalten und wurde vor allem durch die neuen Filmländer Polen und die Tschechoslowakei von ihrer führenden Stelle verdrängt. Was sich in der niederländischen Kunst schon so oft gezeigt hat, wurde auch beim Film immer deutlicher: es fehlten Überzeugung und Kraft, neue Wege einzuschlagen, das heisst, die Tradition blieb gewahrt. Die aus fast allen Filmen bekannten typisch holländischen Bilder und Themen kehrten immer wieder; die Evolution wurde ausgeschaltet. Das Meer, die Wolken, Schiffe und Windmühlen waren einige der Bilder, die sich in allen Dokumentarfilmen fanden und oft in einer ärgerlichen Weise als Klischeemetaphern verwendet wurden. Der Charakter der Filme wurde immer provinzieller.

Es war sehr kennzeichnend für die ungesunde Atmosphäre in der kleinen holländischen Filmwelt, dass unser grösster Dokumentarist, Joris Ivens, jahrzehntelang völlig totgeschwiegen wurde. Während seines ganzen Lebens ist er ein begeisterter Marxist gewesen, aber seine ständige und aufrichtig gemeinte Kritik an Missständen in der Welt machte ihm viele Feinde. Als Ivens gleich nach dem Zweiten Weltkrieg INDONESIA CALLING drehte, war in Holland sein Todesurteil gefällt. Im Hafen der australischen Küstenstadt Sidney filmte er den Boykott der Arbeiter gegen die niederländischen Militärversorgungsschiffe, die man für den Krieg gegen Indonesien einsetzte. Der Film wurde eine indirekte Anklage gegen die Kolonialpolitik der Regierung. Nachher hat sich herausgestellt, wie recht Ivens hatte, aber zu jener Zeit galt dieser Film als eine grobe Beleidigung des niederländischen Staates. Ivens besuchte sein Heimatland über zwanzig Jahre- nicht mehr. Hauptsächlich durch Anregungen der Redaktion der jungen Filmzeitschrift "skoop", die dem Leben und den Werken Ivens' eine ganze Nummer widmete, wurde der grosse Dokumentarist vor zwei Jahren in Holland wieder bekannt. Er folgte einer Einladung nach Rotterdam und Amsterdam und wurde von vielen stürmisch begrüsst, unter ihnen auch diejenigen der zumeist älteren Kritiker, die ihn und seine Arbeit jahrzehntelang totgeschwiegen hatten. Vor einigen Monaten hatte sein letzter Film Premiere: ROTTERDAM - EUROPOORT. Die Geschichte des Fliegenden Holländers, der nach Rotterdam zurückkehrt, war symbolisch für Ivens' eigene Heimfahrt. Dass er an Kampflust bis heute wenig eingebüsst hat, bewies seine Reportage über die Kriegssituation im südöstlichen Teil Asiens. Der Film "Erde und Himmel" (1965) zeigte die Lage einmal nicht aus südvietnamesischer, sondern aus nordvietnamesischer, also kommunistischer Sicht.

Holland verfügte zwar über einige gute Dokumentaristen, gleichzeitig jedoch wurde der Spielfilm völlig vernachlässigt. Das hatte verschiedene Gründe. Mangel an Talent war vielleicht nicht einmal der wichtigste, wohl aber Mangel an Geld, an Schauspielern - es wurde zu viel Theater gespielt -, Schwierigkeiten beim Vertrieb im Ausland und vor allem Mangel an technischem Personal. Der Spielfilm der ,älteren' Generation der letzten Jahre hatte im Durchschnitt so gut wie überhaupt keine Bedeutung. Daran konnte auch die Hilfe international renommierter Kräfte wenig ändern. Vor einigen Jahren versuchte man es mit Raoul Coutard; in diesem Jahr verpflichtete Fons Rademakers für seinen Film DE DANS TAN VAN DE REIGER ("Der Tanz des Reihers") Alain Resnais' Kameramann Sacha Vierny. Beide Male war das Resultat nur mittelmässig. Wie schlecht es um den holländischen Film bestellt war, konnte man im letzten Jahr in Deutschland sehen, als dort Brusses MENSEN VAN MORGEN ("Menschen von morgen") anlief.

Soweit der Pessimismus. Seit kurzem allerdings besteht Grund zum Optimismus. Es gibt in unserem Land einige junge Regisseure, die dem Spielfilm einen internationalen Charakter gegeben haben, vor allem, was die Form betrifft. Die älteren Filmkritiker sind bis jetzt noch nicht überzeugt von der Qualität dieser Jungen Welle' und nehmen in ihrem Misstrauen eine abwartende und oft abweisende Haltung ein. Frans Weisz überraschte mit einigen Kurzfilmen, darunter seine auch in Deutschland gezeigte Diplomarbeit der Filmakademie in Rom, eine Episode aus dem Film "Helden von gestern und morgen", dessen andere beide Teile von zwei Italienern stammen. Jan Vrijman gründete nach seinem vielfach preisgekrönten Film über den Maler Karel Appel eine eigene Produktionsgesellschaft, um jungen Talenten eine Chance zu geben.

Wichtigster Vertreter der jungen Generation ist Pim de la Parra. Sein Kurzspielfilm AAH _... TAMARA hatte bei den letzten Oberhausener Kurzfilmtagen grossen Erfolg. AAH _... TAMARA ist die Geschichte eines Mädchens, das als Hostess auf einem der Rundfahrtboote auf den Kanälen von Amsterdam arbeitet. Mit Freunden inszeniert sie einen Überfall auf das Boot, und selbstverständlich wird sie von dem Kapitän sofort entlassen. Parallel dazu läuft die Geschichte des Pim de la Parra selbst, der versucht, dieses Mädchen (Tamara) als Hauptdarstellerin für seinen Film zu gewinnen. Zum Schluss müssen beide einsehen, dass sowohl die Arbeit auf dem Schiff als auch der Film ein Misserfolg geworden sind. Diese Komödie wurde Joris Ivens gewidmet, der einmal kurz im Bild erscheint. In diesem ersten Film konnte Regisseur Pim de la Parra Einflüsse nicht vermeiden. Der Stil erinnert sehr an Godard, an Lester und an die amerikanischen Komödien. De la Parra ist jemand, der für und mit dem Film lebt. Alles in AAH _... TAMARA ist Film. So treten neben Joris Ivens die Regisseure Fons Rademakers und Frans Weisz auf. Im Zimmer eines Freundes von Tamara hängt ein Plakat eines Films von Frans Weisz; der Freund liest "skoop"; ,skoop' steht auch auf einer Flasche Limonade. Weil Tamara viele Freunde hat, schreibt jemand auf ein Plakat von Haanstra ALLEMAN (wörtlich: jedermann): ,Tamara danst met Alleman'. De la Parra selbst erscheint auf einer Party, wo er wie eine der komischen Figuren aus den slapsticks mit seiner Kamera herumhüpft. In den Kanalszenen wird dieser 29 Minuten dauernde Film manchmal ein wenig langweilig. Kameramann Gerard Vandenbergh hat aber dafür gesorgt, dass man sich dennoch gut amüsiert. Mit der Handkamera macht er gleitende Schwenks, die gewiss zu den schönsten, jedoch nicht zu den interessantesten Stellen des Films gerechnet werden müssen.

De la Parras zweiter Film HEART BEAT FRESCO wurde vom Auswahlausschuss der letzten Oberhausener Festspiele aus dem holländischen Programm genommen, anscheinend, weil die Brüste der beiden Hauptdarstellerinnen zu gross waren und zu oft nackt gezeigt wurden. Der Anti-Held dieses Films, ein junger Maler, muss - nach den Worten des Regisseurs - feststellen, dass es für einen Menschen unmöglich ist, allein zu leben. Der Maler benimmt sich gleichgültig und täppisch, solange seine Freundin nicht bei ihm ist. Nur in ihrer Anwesenheit reagiert er normal. Dieser Film, der nur zehn Minuten dauert, besitzt grössere Einheit als AAH _... TAMARA. De la Parra sucht bewusst nach einem neuen Stil, ohne dabei frühere Filmgattungen zu vergessen. Deshalb sind seine Filme auch keine esoterischen Stilexperimente. Es ist ihm viel daran gelegen, dass das Publikum sich einige Stunden amüsiert. Grosse Probleme meidet er deshalb in seinen meist komischen Filmen.

Die Stärke von HEART BEAT FRESCO liegt im Bild. Einen Dialog gibt es nicht. Die Funktion des Klaviers in den Stummfilmen wird hier von der Musik Monteverdis übernommen. Im Gegensatz zu AAH _... TAMARA sind die Einstellungen in HEART BEAT FRESCO ziemlich statisch. Die Liebesszenen erinnern stark an den Anfang von UNE FEMME MARIEE. Die Vorliebe de la Parras gilt dem medium close-up. Nach jeder Einstellung folgt ein black-out, was dem Film den Stakkato-Rhythmus des Herzklopfens (heart beat) verleiht. Die Gags sind zu einer Einheit verarbeitet.

Der Film wurde in einem Tag aufgenommen und geschnitten und kostete insgesamt nur etwa 2.500 DM. Damit wollte der Regisseur beweisen, dass es durchaus möglich ist, in kurzer Zeit mit wenig Geld einen guten Film zu machen.

Seit einiger Zeit arbeitet de la Parra zusammen mit dem ebenfalls jungen Wim Verstappen. Beide sind aus der Filmzeitschrift "skoop" hervorgegangen. Nach einem Streit mit einigen Lehrern der Filmakademie in Amsterdam musste de la Parra die Schule verlassen. Mit Verstappen gründete er die Produktionsgesellschaft "Scorpio-Films". Davon konnten bis jetzt schon zwei junge Talente profitieren: Mattijn Seip und Rene Daalder. Seip drehte im Vorjahr SCHERMERHOORN, der wie sein erster Film IJDIJK durch das Ministerium für Erziehung verboten wurde. Angeblich stelle er das homosexuelle Verhältnis zwischen einem älteren Mann (dreissig Jahre) und einem Jungen zu freimütig dar. Diese Behauptung der oft sehr kleinlichen Kommission ist falsch, weil das zentrale Thema des Films auf ganz etwas anderes hinweist. Es ist der ständige Kampf zwischen Jugend und Alter. Eine Gruppe Jugendlicher hat ihre eigenen Gesetze und Gebräuche. So ist es für ältere Leute nur unter bestimmten Bedingungen - und selbst dann nur als Aussenseiter- möglich, in diese Welt einzudringen. In den wenigen Szenen zwischen Mann und Jungen ist das Bild verschwommen und gewinnt dadurch surrealistischen Charakter.

Auch BODY AND SOUL von Rene Daalder wurde von der Kritik gut aufgenommen. Und von noch einem Film ist zu sprechen: UN PRINTEMPS EN HOLLANDE - EEN OCHTEND VAN ZES WEKEN wurde von Nikolai van der Heyde, einem der Redaktionsmitglieder von "skoop" gedreht. Damit sind jetzt fast alle an der Gründung jener Zeitschrift beteiligten Redakteure aktiv im Film beschäftigt. Man findet bei ihnen fast die gleiche Entwicklung wie bei den "Cahiers", als dort Godard, Chabrol, Rivette, Rohmer und Truffaut vor einigen Jahren anfingen, Filme zu machen, die einen völlig neuen Weg einschlugen. Das ist aber nicht die einzige Übereinstimmung zwischen den jungen holländischen Filmleuten und ihren französischen Kollegen. Ihre Vorliebe gilt den gleichen Filmen (Hitchcock, amerikanische Komödie, slapstick, Western u. a.), was wieder zur Folge hat, dass ihre Filme einander formal sehr verwandt sind. So auch van der Heydes Film, der die Geschichte eines Autorennfahrers erzählt. Eine grosse Brauerei finanzierte den Film, der fast ohne Drehbuch gemacht wurde.

Gemäss dem Prinzip der jungen Regisseure kostete auch der vor einigen Wochen in Vorpremiere gezeigte erste abendfüllende Spielfilm von de la Parra/Verstappen nicht viel. Der mit einer E-clair 16 mm gedrehte Film DE MINDER GELUKKIGE TERUGKEER VAN JOSZEF KATUS NAAR HET LAND VAN REMBRANDT ("Die nicht besonders glückliche Rückkehr des Joszef Katús ins Land Rembrandts") dauert 96 Minuten. Wim Verstappen, der bis jetzt Produktionsleiter war, führte seine erste Regie, während Regisseur Pim de la Parra diesmal die Produktionsleitung übernahm. Auch er aber hat sehr viel Einfluss auf Form und Inhalt gehabt (das Drehbuch schrieben er und Verstappen gemeinsam). Die Story ist, wie in den vorhergehenden Produktionen von "Scorpio-Films", ziemlich unwirklich und absurd. Katús, früher aus Ungarn geflüchtet, kehrt nach einer Reise durch Marokko, die Tschechoslowakei, die DDR und Frankreich nach Amsterdam zurück. Dort sucht er vergebens den Kontakt mit seinen Freunden wiederherzustellen. Lediglich eine frühere Freundin, die er vom Bahnhof aus anruft, ist bereit, ihn aufzunehmen. Er wohnt dann in ihrem Zimmer und lebt auf ihre Kosten. Bei ihren Spaziergängen durch die Stadt verfolgt sie ständig ein nett aussehender Herr, von dem anfangs nicht klar wird, ob er ein neuer Liebhaber von Katús' Freundin ist, ein Beamter des Sicherheitsdienstes, ein Kriminalpolizist (Joszef ist unter anderem Rauschgifthändler) oder irgendetwas anderes.

Am 29. April, seinem Geburtstag, kehrt Katús nach Holland zurück, am 5. Mai, also einige Tage später, stirbt er auf der Strasse. Zwischen Ankunft und Ende liegen einige nationale holländische Feiertage: Geburtstag der Königin, der 1. Mai, Kirmes in Amsterdam, Tag der Befreiung und Totengedenktag. Joszef läuft ziellos durch Amsterdam, besucht alte Bekannte, u. a. eine frühere Freundin, die ein Kind von ihm hat. Sie besorgt ihm aus Mitleid eine kleine Rolle in einem Film über die Provos. Joszef weiss aber nichts über Provos zu erzählen, und so fällt diese Art des Geldverdienens schnell wieder weg. Er lernt ein jüdisches Mädchen kennen und besucht mit ihr ein Happening der Provos. Mit einem anderen Mädchen besucht er die Kirmes. Am Totengedenktag begegnet er dem jüdischen Mädchen wieder. Sie stehen zwischen tausenden von Leuten im Regen und hören sich die Gedenkreden an. Joszef, der eine Magenkrankheit hat, empfindet jeden Tag mehr Schmerzen. Am 5. Mai wird ihm diese Krankheit fatal. Er wird wieder einmal von dem Herrn verfolgt, über dessen Rolle der Zuschauer noch immer nichts Konkretes weiss. Joszef flüchtet in eine Seitenstrasse und greift seinen Verfolger plötzlich an. Dieser versetzt ihm einen Stoss in den Magen, worauf Katús tot zu Boden fällt. Dann erst hört man von der Kommentarstimme, dass der Verfolger ein Beamter des Sicherheitsdienstes war, der wissen wollte, was Katús in der DDR getrieben hatte.

Der Film, der in der Einladung angekündigt wurde als "endlich ein niederländischer Film, der kein Meisterwerk ist", wurde in zwei Monaten fertiggestellt. Ein anderer Satz aus der Einladung charakterisiert die Haltung von de la Parra / Verstappen gegenüber der Welt der alten mit Vorurteilen belasteten Kritiker: "Wir wollten einen Film machen, dessen Hässlichkeit dem Zahn der Zeit widerstehen kann. Wir glauben, das mit Erfolg getan zu haben." Um die Hässlichkeit ist es allerdings nicht so schlimm bestellt. Durch diese und andere spöttischen Äusserungen jedoch haben sich de la Parra und noch einige junge Regisseure den Ruf erworben, eine Gruppe eigensinniger und arroganter Filmleute zu sein. In den Augen der jüngeren Generation sind aber die älteren Kritiker und Regisseure, die früher ihren Wert sicherlich gehabt haben, jetzt Vertreter einer arrivierten Gesellschaft ohne Evolution. Die Filme und Äusserungen dieser jungen Leute sind oft Provokationen gegen die Welt der erstarrten Künstler. Was sonst waren die Anfangsäusserungen der Oberhausener Gruppe?

Trotz deutlicher Übereinstimmung in ihrer Arbeitsweise zeigt Verstappen sich mit seinem Debüt doch ernsthafter (was nicht heissen soll besser) in der Behandlung der Geschichte, als de la Parra es in seinen früheren Filmen war. Mit diesem, einem Verehrer des weiblichen Aktes - siehe HEART BEAT FRESCO -, hat er natürlich viele Auffassungen gemein. Die auffälligste ist wahrscheinlich die Freude, das Publikum und die Kritiker zum Narren zu halten. Dafür haben sie aber seriöse Gründe. Sie verabscheuen nämlich den Illusionismus derjenigen Filme, die versuchen, die Realität nachzuahmen (die ,objektive Wirklichkeit' von Kracauer). Dem Publikum muss immer wieder bewusst gemacht werden, dass es im Kinosaal sitzt und nicht mitten in der Wirklichkeit steht, wenn es sich einen Film ansieht. Die Story ist nur eine fingierte Geschichte. Die Identifikation Zuschauer - Bild, seit langem das Ideal der meisten Filmtheoretiker, muss durchbrochen werden. Jean-Luc Godard ist ein Meister in dieser Entfremdung. Pim de la Parra und Wim Verstappen versuchen es auf ihre Weise. In JOSZEF KATUS sieht man die Spieler häufig während und am Ende einer Szene in die Kamera schauen und lachen, auch dort, wo der Inhalt der geraden abgelaufenen Szene vielleicht tiefernst ist. Ein schönes Beispiel dieser Verfremdung ist der Augenblick, wo der Sicherheitsbeamte in einer verzerrten Nahaufnahme erscheint, und sich über die Tatsache, dass er im ganzen Film kein einziges Wort sagen darf, beklagt. Ein anderes Beispiel: Katús steigt in die Strassenbahn; die Kamera folgt ihm. Er hat aber kein Geld, um einen Schein zu lösen, und darauf sagt er zum Schaffner: "Der Kameramann wird schon für mich bezahlen." Auf dieser Weise muss jedem Zuschauer klar werden, dass es sich hier nicht um die Wirklichkeit, sondern lediglich um ein Spiel handelt.

Die Schauspieler in den Filmen de la Parras und Verstappens haben eine autonome Rolle. Obwohl für das Publikum von Anfang an der wichtigste Massstab für die Qualität eines Films, war der Schauspieler in Filmkreisen oft nicht mehr als eine Marionette. Szenen wurden häufig bis zu zehnmal wiederholt. Bei den niedrigen Budgets der "Scorpio-Films" sind so viele Wiederholungen ausgeschlossen, und so wurde aus der Not eine Tugend. In JOSZEF KATUS wurden nur einige Szenen zweimal gedreht. Es wird einleuchten, dass bei dieser billigen Arbeitsmethode die Rolle des Schauspielers auf einmal sehr wichtig wird. In der Einladung war es folgendermassen formuliert: "Wo im Spielfilm bis jetzt die Kamera dem Spieler folgte, war dies nur sozusagen, denn in Wirklichkeit folgte der Schauspieler mehr oder weniger dem Weg, den der Kameramann ihm gewiesen hatte." Im Film von Verstappen ist es gerade umgekehrt. Der Kameramann Wim van Linden ist immer hinter den Leuten her, was zur Folge hatte, dass er alles aus der Hand drehen musste. Das Stativ wurde nur selten gebraucht. Auf diese Weise erreichte van der Linden oft eine sehr dynamische Atmosphäre. Einen renommierten Kameramann hatte Holland schon. Gerard Vandenbergh, der für seine Kameraführung in George Moorses Spielfilm "Zero in the Universe" bei den letzten Festspielen in Mannheim (1965) den ersten Preis bekam, arbeitet zur Zeit viel in Deutschland, u. a. mit Peter Lilienthal. Van der Linden ist auf dem Wege, sich einen guten Ruf zu erarbeiten, obwohl Vandenbergh immer noch mehr Fantasie und Abwechslung in die Bilder zu bringen weiss.

Die Story von Joszef Katús, ist einfach, obwohl man oft den Eindruck hat, dass die beiden Szenaristen zu viel behandeln wollten. Der Film ist seiner Form nach dualistisch; die gespielten Teile wechseln mit Dokumentarszenen ab, z. B. dem Geburtstag der Königin, dem Happening und der Kirmes. Vor dieser Kombination haben die meisten Theoretiker immer gewarnt, und man muss ihnen bestätigen, dass Versuche in dieser Richtung fast immer misslungen sind. Auch Verstappen hat das Problem nicht ganz gelöst. Trotz der hervorragenden Fotografie waren verschiedene Dokumentarszenen durch die langen Einstellungen oft ein wenig langweilig oder doch jedenfalls nicht so dynamisch und überzeugend wie die gespielten Teile. Die Tschechoslowakei ist im Augenblick eigentlich das einzige Land, wo man wie beispielsweise in Formans "Schwarzer Peter" eine Synthese von Spiel- und Dokumentarfilm gefunden und mit Erfolg angewendet hat.

Mit ihrem Film, der in einigen Wochen in den holländischen Kinos anläuft, haben Pim de la Parra und Wim Verstappen gezeigt, dass sie auf dem Wege sind, einen völlig eigenen Stil zu entwickeln, was für den Aufbau und die Entwicklung einer nationalen Spielfilmproduktion von grosser Bedeutung ist.       Pieter Beek
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Warum nicht gleich so ?

Was gut ist, kommt wieder, sagt so mancher Verleiher, und presst den kinematographischen Uraltschinken, den miesesten Western, den langweiligsten Edgar Wallace oder die aufgewärmte Nudelei farbiger und breitwandiger Betthaschereien noch einmal über die Leinwand des Kinos an der Ecke. Solches geschah häufig. Zu häufig.

Eine andere Manier des 'dejà vu' fand erst der Atlas-Filmverleih. In neuer Werbepackung, mit neuer (sprich: richtiger) Synchronisation kamen Filme auf den Markt, die man zwar vor Jahren schon einmal gesehen hatte; in der Atlas-Wiederaufführung kamen sie aber jetzt gerade recht, weil richtig.

Die anderen Verleiher schauten ein wenig verächtlich auf den Filmkunstgnom, der sich jedoch rasch entwickelte, mit einem einzigen Film (Ingmar Bergmans "Das Schweigen") den finanziellen Rückhalt für sein anspruchsvolles Programm fand.

Was die können, können wir schon lange, sagte sich daraufhin ein amerikanischer Filmverleih. United Artists bemerkte den Erfolg der Atlas mit ehemaligen United-Artists-Filmen, mit "Zwölf Uhr Mittags" und anderen. Sprach 's und tat 's.

Das Programm, das jetzt unter dem ein wenig esoterischen Titel "Filmothek" serviert wird, hat 's nicht nur in sich, sondern auch an sich. Nicht allein die Ware weist beachtliche Qualitäten (mit Ausnahmen) auf, sondern auch die Verpackung (mit Ausnahmen), soweit es die werbetechnischen Belange angeht. Auf dieser Seite überwand man eine Schwierigkeit, mit der alle amerikanisehen Verleiher kämpfen. Oder haben Sie schon einmal ein vernünftiges amerikanisches Filmplakat gesehen? Da prangten die Stars, das bildliche Motiv war uninteressant, die Farben bildeten ein buntes Gewäsch. Das war so bei MGM, bei Paramount, bei Universal, Centfox, Warner und Columbia. Dieses grafische Blablabla hatte seine gewichtigen Gründe. Juristische nämlich. Hollywood, das seine Grösse nicht zuletzt den Stars verdankt, räumt den Schauspielern Rechte ein, die auch von der ausländischen Vertretung der jeweiligen Firma gewahrt werden müssen. Textverpflichtungen werden erstellt, die nicht nur die Schlagzeilen für den Film vorschreiben, sondern auch die Schriftgrösse für die Nennung des ersten, zweiten, dritten usw. Stars bestimmen. Festgelegt wird nicht nur die Grösse der Namensnennung, sondern auch deren Farbe und die Position. So krabbelte Elke Sommer, vorerst als sechsrangige Fleischspeise verbraten, an die zweite Stelle der erwähnten Stars. Dass John Wayne und Rock Hudson die grössten und ersten sind, bekräftigen die Plakate seit Jahren.

Mit der "Filmothek" konnte sich United Artists von diesen Nennungsverpflichtungen lösen. Die grafische Sauce machte einer gelungenen Gestaltung Platz. Plakate entstanden, die man einem solchen Verleih nicht zugetraut hätte. Vergessen wir, dass derselbe Verleih auch James Bond mit Plakaten von anno-dazumal, Verzeihung: 1965, verkauft, wobei man allerdings berücksichtigen muss, dass das Publikum dieser Filme anders beschaffen ist, also auch anders beworben werden will und muss.

Legen wir das 'Mäntelchen' beiseite. Kommen wir zur Sache. Das Programm der "Filmothek" umfasst bisher drei Reihen: die Filmkomödie, den Aktionsfilm und den "aggressiven" Film. In allen Serien vermischt sich Bekanntes mit den sogenannten B-Produktionen; und das ist nicht einmal schlimm. Endlich hat ein Verleiher den Mut, nicht nur die bekannten Spitzen anzubieten, sondern ein geschlossenes Programm, das die ganze Skala einer Filmgattung umfasst. Jetzt erst kommt uns zu Bewusstsein, dass Budd Boetticher ein B-Filmregisseur (und kein schlechter) ist.

Jede Filmgattung ist noch einmal aufgeteilt worden. Der Aktionsfilm zeigt "Der Western", "Die Helden des Westens", "Cops and Gangsters" und "Aktion im Kostüm". Die Grundzüge des Western, seiner Helden und des Gangsterfilms sind bekannt.

Wer aber hat dem historischen Kostümfilm jemals Bedeutung zugemessen? Gerade auf diesem Gebiet liegt eine Aufgabe (und ein Interesse) des Verleihs, Pionierdienste zu leisten. Hier geht es nicht mehr um den unermüdlichen und unausstehlichen Cecil B. DeMille, sondern um Konsumware, die gelegentlich realistische, ja kritische Tendenzen aufweist. Besonders aber geht es um ein Genre, das in Deutschland Herrn Max und Herrn Moritz überlassen wird. "Der aggressive Film" verbindet Meisterwerke des amerikanischen Realismus mit Themen wie "Die Freiheit", "Das perfekte Verbrechen" und "Der heisse Krieg", die zwar nicht weniger realistisch sind, aber nicht so intelligent klingen. Hier versteckt sich ein "unvergleichbares Meisterwerk" (wie die Cahiers du Cinéma sagen würden) wie "Wege zum Ruhm" neben dem gemeinen Durchhaltereisser, "Lasst mich leben" neben dem delikaten "Frühstück in der Todeszelle". Wie schön und wie gut! Wer sagt denn, dass Film immer kritisch oder sogar aggressiv sein müsste?

"Die Filmkomödie" sammelt Billy Wilder und Frank Capra, Fernandel und Alec Guinness. Intelligenz ("Tom Jones") trifft die verwelkten "Lilien auf dem Felde". Wiederum: schön und gut (die Reihenfolge bestimmt der Leser!). Weniger schön ist allerdings, dass eine Filmgattung nicht berücksichtigt wurde, die kommerziell und film-publizistisch in Deutschland brachliegt. Wir meinen den Grusel-, Horror- oder Sonstwiefilm. Aber was nicht ist, kann noch werden. Gott schütze die Gänsehaut _... Und United Artists, die eine "Filmothek" gewagt hat. Der Wunsch "Mögen andere folgen" darf befolgt werden.       Alexander Fouquet
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Abschied von gestern: Enno P.

I. Notwendige Vorbemerkung

Patalas' Plädoyer für eine "ästhetische Linke" (FK 7/66) beginnt mit einem Zitat Berghahns, das einem von Berghahn und Patalas unterzeichneten programmatischen Aufsatz aus dem Jahre 1961 mit dem Titel "Gibt es eine linke Kritik" entstammt. Erstmals teilt nun Patalas mit, dass dieser Gedanke - und der zweite Teil der damaligen Arbeit - von Berghahn allein stammte. Diese Abkehr muss Gründe haben, die über das Andenken, das Pietät setzt, hinausgehen.

Sie hat Gründe, die mit Pietät nichts gemein haben. Sie soll eine Entwicklung vortäuschen, wo nur noch von offenem Bruch die Rede sein kann; ruft jenen zum Kronzeugen auf, der sich bis zuletzt dem widersetzt hatte, was nun in seinem Namen sanktioniert werden soll. Liest man Berghahns letzten grösseren Aufsatz "Zum Selbstverständnis der FILMKRITIK" (Heft 1/64), so wird deutlich, dass es sich bei diesem Artikel um den Versuch handelte, einem Trend innerhalb der FILMKRITIK Einhalt zu gebieten, der sich nach seinem Tod verstärkt und in Patalas' jetzigem Plädoyer seine theoretische Formulierung gefunden hat.

Berghahns Aufsatz, der zum "Selbstverständnis" aufrief, setzte den Mangel an Selbstverständnis voraus. Berghahns damalige Aufforderung zur Diskussion - zum Beispiel auch an die Redakteure des FILMSTUDIO, Zweitkritiken, dissenting opinions zu verfassen, um gewisse andere zu neutralisieren - kann heute, besser als damals, nur als der Versuch angesehen werden, nach Mitstreitern Ausschau zu halten, die sein Bemühen, aufzuhalten, was um sich zu greifen drohte, unterstützen sollten. Er hat das dann, schon auf dem Krankenbett, als seine Motivation einbekannt. Die Diskussion hatte begonnen - was Patalas heute verschweigt (FK 7/66). So erschienen zwei Kritiken in der FILMKRITIK an der FILMKRITIK (Heft 2/64 und 6/64). Allerdings war es noch Berghahn, unter dessen Ägide die Beiträge erschienen oder bestellt worden waren. Nachdem Patalas alleiniger Herausgeber und Redakteur geworden war, ist die Diskussion nicht fortgesetzt worden - er nennt das heute, treffend wie selten, "stillschweigend vertagt" (7/66-403).

Berghahn zeigte, wie sich das kritische Instrumentarium, die allgemeine Methode und Theorie dem jeweils Neuen anpassen muss, will sie nicht dogmatisch versteinern. Er legte dar, wie kritische Theorie, die ihre Bedingtheit innerhalb der Gesellschaft, in der sie entsteht, ebenso reflektiert, wie sie die der Objekte erkennt, sich zu deren Komplizen gegen den Produktionsapparat machen kann. Aber er warnte zugleich davor, die "Politik der Autoren" zum Selbstzweck werden zu lassen. Bei Beginn der Neuen Welle sei dies gerechtfertigt gewesen, weil damals "Absichten und Manifeste" ebenso schwer gewogen hätten wie Werke selbst. Nun aber sei diese Phase vorbei: "Ich fürchte, dass Revisionen notwendig sein werden, dass z.B. über Chabrol kaum noch zu reden sein wird, dass Godard bei weitem überschätzt wurde (seine beiden letzten Filme LES CARABINIERS und LE MEPRIS sind nicht nur misslungen, sondern fatal)." Auch über Resnais "wird genauer und kritischer zu diskutieren sein, gerade nach MURIEL." (Dem Leser von heute sei angeraten, die entsprechenden Kritiken in der "FILMKRITIK", die nach Berghahns Tod erschienen sind, nachzulesen. Und zwar nicht - das sei klargestellt -, um deren Autoren fehlende Übereinstimmung mit Berghahn anzukreiden, sondern nur, um die Berechtigung der von Patalas jetzt konstruierten Zeugenschaft Berghahns für sein Unternehmen nachzuprüfen.) Und dann lese man den letzten Absatz dieses Aufsatzes von Berghahn, man reflektiere das "ich meine _..." mit dem er beginnt, die Vorsicht, die sich darin ausdrückt, und sehe, was dann folgt: "Ich meine, dass die FILMKRITIK sich in den letzten Jahren allzusehr von formalen Erfindungen hat bestechen lassen und die Prüfung der (auf gewiss neue und interessante Weise dargestellten) Inhalte zu kurz gekommen ist". Und darauf eine Rechtfertignug dieser formalen Ausschweifungen: ein Meisterwerk versteckter Ironie und Kritik; verklausuliert schon, eingeigelt gleichsam, um sich Kredit zu schaffen, "Mitgehen" bei dem Gegener zu erreichen: sind sie schon zu stark? Und nun: "Nur scheint mir diese begrüssenswerte Erweiterung des Blickfeldes allmählich zuviel Faszination zu mobilisieren und zu wenig nüchternes Fragen, was denn die Neuerungen wirklich leisten oder verhindern. (Berghahn sieht sich hier schon selbst in die Defensive gedrängt, weil er abstrakt auf inhaltlichen Kriterien bestehen muss, losgelöst von formalen; dass er beides als einen wechselseitigen Prozess begriff, ist so unbestreitbar, dass es ihm auch Patalas bestätigen muss (7/66 S. 403).) Das könnte nicht nur dazu führen, dass den flinken Talenten, die nichts zu sagen haben, ausser, dass sie entschlossen sind, es interessant zu sagen, allzuviel Kredit eingeräumt wird, sondern auch noch jene unterschätzt werden, denen eine unzweideutige Wahrheit auf den Nägeln brennt, die sie unzweideutig aussprechen müssen, zum Beispiel einige junge Italiener."

Das ist der wirkliche Berghahn, der andere nur eine Erfindung Patalas'. Diese Zitate zeigen, wie sehr Berghahn kritisch dem gegenüberstand, was sich schon damals andeutete und nun seine volle Entfaltung gefunden hat. Die Revisionen, die er ankündigte - wie schneidend müssen die Sätze über Godard der heutigen FILMKRITIK in den Ohren klingen; wie bösartig genau trifft sie ein Satz wie der von den "flinken Talenten" - die Revisionen sind in der FILMKRITIK nie vollzogen worden. Es war schon damals zu spät. Aber für Berghahn noch nicht zu spät zu einem äussersten Schritt, den ihm wohl die Achtung vor der eigenen Vergangenheit und deren Unvereinbarkeit mit der Gegenwart, gegen die er sich heftig wandte, und einer Zukunft, an der teilzuhaben er nicht mehr wünschte, zuletzt gebot: Berghahn, schon von der tödlichen Krankheit gezeichnet, lässt Patalas seine Rücktrittsabsichten wissen. Es heisst, Patalas habe Berghahn gebeten, weiterhin als Herausgeber zu fungieren. Die Vorgänge, von denen man bisher nur andeutungsweise aus Kreisen der FILMKRITIK-Mitarbeiter hörte, liegen noch im Dunkel.

Sinn und Ziel dieser Arbeit ist es, sich mit der "ästhetischen Linken", "wie sie Patalas propagiert und er, Färber, Frieda Grafe und Linder praktizieren, kritisch auseinanderzusetzen. Dies setzte voraus, gegen Patalas' Versuche zu protestieren, den integren und aufrichtigen Gegner Berghahn als 'point d' honneur' dieses Unternehmens zu benutzen; das ist hier geschehen. Dem Andenken Wilfried Berghahns sind diese Aufzeichnungen gewidmet.

II. Linke Kritik und ästhetische Linke

Die ehemalige FILMKRITIK, so definiert Patalas, habe sich die "Entlarvung noch der feinsten Verästelungen ideologischer Implikationen auch und gerade in den gemeinhin für geistig und künstlerisch hochstehend geltenden Filmen" zur Aufgabe gemacht. Andererseits habe man versucht "für eine Filmkunst zu werben", die sich "Gesellschafts- und Ideologiekritik selbst zum Thema gemacht hatte". Die "Vision des ideologiefreien und -kritischen Kinos" habe um das Jahr 1950 "vor allem der italienische Neorealismus" geboten. Einer "allgemeinen künstlerischen Selbstbesinnung des Films stand" - zitiert Patalas in seinem Plädoyer aus - "die ideologische Bindung (der Filmproduktion) an das zurückgebliebene politische Bewusstsein der kleinbürgerlichen Massen als Haupthindernis entgegen". Der gegenwärtige Film habe sich davon befreit, und Aufgabe der derzeitigen Kritik sei es nun, darzustellen, wie sich diese "künstlerische Selbstbesinnung" vollziehe.

Nur für den oberflächlichen Blick sind derartige Versuche, die ästhetische Linke als historische Konsequenz aus der - nennen wir sie im folgenden zur besseren Unterscheidung: politischen - Linken (Kritik) zu ziehen, einsichtig; nur für jene, die mit dem Terminus 'links' jene verschwommenen Vorstellungen verbinden, die sich in dem fetischhaften Gebrauch des Wörtchens 'kleinbürgerlich' erschöpfen. Wenn auch der Ansatzpunkt von 'film 56', noch in den "gemeinhin für geistig und künstlerisch hochstehend geltenden Filmen" die "ideologischen Implikationen" zu entlarven, einer der zentralen Aspekte einer linken Filmkritik ist, so ist doch der Hintergrund, aus dem diese Intentionen hier ihre Bestimmung beziehen sollen, dubios. Denn diese ideologischen Implikationen des Films sind für Patalas ausschliesslich solche des Produktionsapparates und des Konsumtionsprozesses. Da sich beides, wechselseitig, am "zurückgebliebenen Bewusstsein der kleinbürgerlichen Massen" orientierte, habe es gegolten - argumentiert Patalas - die Produktionsbedingungen zu verändern, die solche Filme und dieses Kino hervorbrachten und begünstigten.

Sicher musste der Produktionsprozess verändert werden, damit sich der moderne Film der Gegenwart entfalten konnte. Sicher ist aber auch, dass Ideologie nicht nur und ausschliesslich an den Produktionsprozess gebunden ist. Zwar schlägt sich im Herstellungsprozess des Films auf Grund der Kapitalintensität am deutlichsten die reale Macht der jeweiligen Gesellschaft nieder; aber eine Veränderung dort hat unter den augenblicklichen Gegebenheiten lediglich den Sinn, rentabler, gewinnbringender zu arbeiten. Das herkömmliche Produktionsverfahren ist in einzelnen Fällen als überholt erkannt worden. Konsequenzen wurden freilich nur hier und dort gezogen. Einzelne, renommierte, Regisseure haben grössere Verfügungsgewalt über ihr Werk. Dass es sich dabei nicht um eine grundsätzliche, irreparable Veränderung handelt, zeigen die Fälle Le MEPRIS und MAJOR DUNDEE.

Es sind also Veränderungen im technischen Herstellungsprozess, die dem einzelnen Regisseur grössere Freiheiten gestatten, nicht aber grundsätzliche, radikale Veränderungen, die Ideologie eliminiert hätten. Sie hat sich verlagert, und je mehr die Konzeption des Films das Werk eines einzelnen ist, desto entscheidender wird es für eine linke Kritik, auch die Person des Filmschöpfers, die spezifische Eigenart seines Werkes auf ideologische Implikationen - noch in den feinsten Verästelungen - abzuklopfen und sie an Licht zu ziehen. Die falsche Alternative, der die ästhetische Linke ihre Existenz verdankt, beruht auf dem Gedanken, dass Film, je mehr er Kunst werde, desto weniger ideologisch sei. Jeder Film, der den Anspruch der Kunst gegenüber dem Apparat durchsetze, habe quasi in sich Ideologie überwunden. Wo sich ein ausgesprochen und offenbares ästhetisches Bewusstsein nicht kundgebe, werde am ideologischen Schleier mitgewoben. Diesen Kunstbegriff, vermeintlich ideologiefrei, versucht Patalas gegen die bisherige "politische Linke" abzusetzen. Und zwar zitiert er aus den "Frankfurter Beiträgen zur Soziologie" einen Passus, der "das Versagen der Sozialwissenschaft der avanciert modernen Kunst gegenüber" behauptet. (7/66-406) Wie allerdings aus dem Zitat und seiner völligen Unsinnigkeit im Zusammenhang von Patalas' Polemik gegen seine eigene frühere Position hervorgeht (und wie dann auch im Originalzusammenhang nachlesbar ist), richtet sich diese Passage gegen die Kunstkritik des Sozialistischen Realismus - ein toter Hund wird noch einmal gebeutelt. Neben der Nachlässigkeit, mit der hier die Gegner behandelt werden, ist doch aufschlussreich, wie Patalas sich einen Popanz aufbauen muss, gegen den er seine ästhetische Linke dann mühelos absetzen kann. Denn die Methode des Sozialistischen Realismus war nie von der politischen Linken der früheren FILMKRITIK praktiziert oder gefordert worden. Nie war sie, wie Patalas dann an anderer Stelle (S. 404) im offenen Widerspruch zu dieser eben zitierten zugeben musste, einseitig soziologisch orientiert. Vulgärsoziologie, die er heute seinen Gegnern unterstellen möchte, lag nicht deren Kritik zugrunde, wohl aber seinem jetzigen Versuch, die ästhetische Linke von der politischen zu trennen. Was anderes als Vulgärsoziologie ist die von jeder historischen Dialektik freie Behauptung, die "Vision" eines ideologiefreien Kinos sei nun, da der Kunstfilm die dubiosen kleinbürgerlichen Massen hinter sich gelassen habe, endlich verwirklicht? Die Frage, in welcher Beziehung denn diese Entwicklung des Films als Kunst zur Ideologie stehe (und zu welcher Ideologie) - diese entscheidende Frage wird natürlich gar nicht mehr gestellt. Es ist nämlich nicht "mit den besten Filmen der Nouvelle Vague vor allem die Forderung nach einer ästhetischen Methode für die Filmkritik unabweisbar geworden", wenn man, wie Patalas (und Grafe, Färber, Linder) darunter die (abstrakte) Negation der früheren versteht und, entgegen Patalas' ideologischen Rechtfertigungsversuchen, auch praktiziert. (Es ist dazu nur notwendig, sich die entsprechenden Kritiken zu AU HASARD BALTHASAR, GIULETTA, DEGLI SPIRITI, UNE FEMME MARIEE, LE BONHEUR und LA PEAU DOUCE anzusehen. Sich mit diesen en detail auseinanderzusetzen, ist hier nicht der Platz. Es geht einzig um Patalas' ideologische Rechtfertigung der dort praktizierten Methode. Gregor hat das erst neulich in seiner PIERROT LE FOU-Entgegnung überzeugend dargestellt; auch Hitzers Aufsatz über "Godard und seine Apologeten" in FILM trifft oft und am Beispiel genau diese Methode; schliesslich sei noch auf die Arbeit Hanks über Godard in hingewiesen.)

Der Weg, den die ehemalige linke Filmkritik zur ästhetischen Kritik beschreitet, wird aus Patalas' Ablehnung deutlich, "politische mit ästhetischen Massstäben zu kombinieren" (vergl. 7/66 S. 406) Er postuliert gegen die politische Linke, die dem "Inhalt" Dominanz zugestand, die Dominanz der Form in der ästhetischen Kritik. Wieder - und das ist ein bezeichnender, den ganzen Artikel bestimmender Grundsatz seiner Polemik - bedient sich Patalas der ideologischen Verteufelung der politischen Linken, gegen die sich sein "Plädoyer" ausschliesslich wendet. Sorgen um den Beifall von der falschen (rechten) Seite scheint er sich nicht mehr zu machen. Unverantwortlich wird der Formalismus seiner polemischen Methode, das schematische Hick-Hack seiner falschen Alternativen dort, wo er die Fehler der rechten (kulinarischen) Kritik mit den angeblichen Verfehlungen der politischen Linken gleichsetzt, um beide bequem des reaktionären Denkens überführen zu können. Und die ästhetische Linke steigt, ein mit allen Wassern der ideologiefreien Unschuld gewaschener Phönix, aus der Asche, die Patalas' "kritische" Brandschatzungen hinterlassen haben, in den luft- und begriffsleeren Raum. Patalas' ästhetische Kritik weigert sich, darin konsequent ihrem Epitheton ornans folgend, die Tatsache anzuerkennen, dass Form und Inhalt nicht auf die einfache Gleichung ihrer Identität gebracht werden können; dass Form wie Inhalt in verschiedenen (und zwar zeitlich verschiedenen) Traditionen stehen, so dass sie nur in den seltensten historischen Momenten in der Identität - auf die sie die ästhetische Linke allemal abziehen möchte - zusammenfallen; dass folglich gerade aus der komplexen Dialektik, wie und auf welche Weise die Vermittlung ästhetischer Momente mit denen des Inhalts, der Aussage, der Idee und der Ideologie zustandekommt, die dynamische Form des Werkes, seine widersprüchliche Bewegung in sich, hervorgeht. Das kann sich, beispielsweise, in einer avancierten Form ausdrücken, die einen sentimentalmythisierenden Inhalt (CITIZEN KANE) teils stilisiert (Brennweitenphilosophie etc.), teils ihn kritisch auflöst (Rückblende, Montage der Sequenzen); andererseits kann sich ein revolutionärer Inhalt (NAZARIN) in einer kruden, primitiven, einfachen Form ausdrücken, ohne dass damit dem Film sein 'Kunstcharakter' verloren ginge. Beides setzt aber bei der Kritik Kritik voraus, nicht einfühlende verstehende Beschreibung, die den harmonisierenden Schein des Kunstwerkes sucht, ihn findet und affirmativ hervorholt. Kritik, so verstanden, verlangt Entscheidungen, setzt eines gegen das andere, anstatt eines sich im anderen bestätigen zu lassen.

Berghahn, am Ende seines letzten Artikels, hatte sich noch in diesem Sinne entschieden, als er von "einigen jungen Italienern" sprach, "denen eine unzweideutige Wahrheit auf den Nägeln brennt, die sie unzweideutig aussprechen müssen." Die "unzweideutigen Wahrheiten", von denen er dort sprach, sind ästhetisch zu uninteressant, als dass man sie beachtete. Denn die ästhetische Linke, die mit einer linken Ästhetik nur die zwei gleichen Vokabeln ihres Namens gemein hat, will, nach dem Plädoyer ihres Staranwalts Patalas, "nicht so sehr die fertigen Ideen des Werkes in ihre Sprache übersetzen und auch nicht die in ihm angelegten Bedeutungen ausformulieren, sondern den Blick des Betrachters freilegen von fermentierten Auffassungen, die ihm den Zugang verstellen, und durch Vertiefung in die Struktur des Werkes seinen objektiven Gehalt erkennen und aktivieren - oder lahmlegen, je nach der erkannten Richtung. Indem die ästhetische Kritik" - und hier ist schon das schamhafte Feigenblatt der linken Kritik gefallen, - "nicht so sehr den ablösbaren Bedeutungen nachspürt als den Regeln, nach denen neue Bedeutungen ausgelöst werden, den Richtungen, die diese nehmen, indem sie nicht so sehr daran interessiert ist, jene Bedeutungen zu formulieren, als vielmehr daran, den Prozess zu aktivieren, der zu neuen Bedeutungen führt, ist sie auch" - Achtung, Salto mortale ohne Netz! - "politisch jenen voraus, die im Film Bestätigungen für ihre politischen und sonstigen Einsichten, und seien es die progressivsten, suchen."

Wir haben es hier also nicht nur mit einer ästhetischen Avantgarde zu tun, die recht ungeniert und ohne sich viel dabei zu denken ihre Lesefrüchte aus Adorno-Texten für den eigenen Hausgebrauch zurechtschnippelt, nein, diese ästhetische Vorhut ist auch politisch dem müden Haufen der sonstigen Linken weit voraus, der sich unablässig hinter ihr herschleppt. Es ist hier nicht der Platz, sich über Adornos ästhetische Anschauungen und die Methode seiner Kunstsoziologie kritisch zu verbreiten. Er selbst würde sich jedoch mit Gewissheit gegen jene Versuche zur Wehr setzen, Erkenntnisse und Folgerungen, gewonnen aus der Analyse "avancierter Werke" der Malerei, Musik und Literatur, derart unvermittelt und naiv auf den Film zu übertragen und sie zu Maximen einer heutigen Filmkritik zu machen. Es ist allerdings bezeichnend, dass die ästhetische Linke auf Gedanken des späten Adorno zurückgreift. Gerade in den letzten Arbeiten dieses Autors zu Fragen der modernen Kunst machen sich verstärkt Tendenzen bemerkbar, die den Kunstgehalt eines Werkes retten wollen und sei es um den Preis der vollständigen Negation des Verständnisses und des politischen Gehalts, den sie auf diese Weise aufzuspüren vermeinen. Dass der sozialkritische und politische Gehalt der Kunst gerade in solchen Werken vorhanden sei, die dessen zu entbehren scheinen, die sich aus den aktuellen Auseinandersetzungen monadologisch auf die Ausbildung ihrer ästhetischen Stimmigkeit zurückgezogen haben - diese Auffassung Adornos liegt dem oben zitierten Passus aus Patalas' Plädoyer zugrunde, die er übrigens schon einmal an Godards LES CARABINIERS zu verifizieren versuchte. So sehr hier Patalas die politische Überlegenheit der ästhetischen Kritik gegenüber der politischen Linken postuliert, so wenig hat bisher auch nur eine Kritik seiner ästhetischen Linken - gemeint sind Patalas, Grafe, Linder und Färber - diese Behauptung gerechtfertigt. Wollte man der ästhetischen Linken den Kredit einräumen, für den sie sich würdig erklärt, dann hiesse das, ihrer Meinung zu folgen, nach der Godard bisher keinen schlechten Film gedreht hat, nach der die letzten Filme der Varda, Bressons, Fellinis und Truffauts sowie Hitchcocks MARNIE sämtlich Meisterwerke sind, ohne Fehler, ohne Makel, ohne Widersprüche, ohne Ideologie. Der herkömmlichen linken Kritik glaubt die ästhetische voraus zu sein, weil sie "das Bewusstsein des Lesers nicht auf den "Stand" des eigenen bringen, sondern den Prozess der Bewusstseinsbildung beleben" will.

Ihr Interesse richtet sich deshalb vornehmlich auf die ästhetischen Strukturen der Werke, unterschlägt aber dabei, dass die ästhetischen Strukturen nur in Vermittlung mit einem konkreten Inhalt gesehen werden können. Bewusstseinsprozesse werden nicht, mechanisch ("Regeln, nach denen neue Bedeutungen ausgelöst werden" - Patalas), allein durch formale Leerformen und -formeln produziert und reproduziert, sondern zugleich und als konkrete Inhalte. Diese Vermittlung von Inhalt und Form, das Gegeneinander beider Momente, ihr widersprüchliches Auseinandertreten wie ihre Identität - die dialektische Bewegung der verschiedensten Momente eines Werkes wird von der ästhetischen Linken auf die pure Linearität der Form reduziert. Sie unterschlägt weniger die konkreten Inhalte, Intentionen und Zwecke der einzelnen Werke, als dass sie sie aus diesen eliminiert und zu Akzidenzien, die beliebig auswechselbar sind, erniedrigt. Nettelbeck hat das Dilemma bündig formuliert, als er glaubte, es dadurch überwunden zu haben: bei Godard sind die Formen die Inhalte, so meinte er. Genau dieses Tautologisieren ist auch hier gemeint, und die Frage, was denn nun diese Inhalte und wie sie beschaffen seien, haben nicht die sich unermüdlich selbst wiederholenden Kritiken zu Godard von Linder, Färber und Grafe beantwortet, sondern Gregor, der auf den Inhalten, die durch diese Formen vermittelt werden, unnachsichtig insistierte. Denn, was Patalas seinen Gegnern vorwirft: zwischen Inhalt und Form zu trennen, praktiziert auf sehr feinsinnige und spitzfindige Art seine ästhetische Linke: sie stellt den Inhalt als krudes, unkünstlerisches Material überhaupt nicht mehr in den Kreis ihrer Betrachtungen. Manchmal ist sie allerdings so offen wie Färber in seiner Kritik zu "Die Frau in der Düne" (FK 8/66), wo das Desinteresse am Inhalt mit der fremden Mentalität des (japanischen) Films begründet wird. Welchen Sinn es allerdings dann haben soll - wie er im folgenden fortfährt -, die ästhetischen Formen des Films zu betrachten, die nun quasi im luftleeren Raum der Abstraktion gesehen werden, entzieht sich seiner ansonsten recht hübschen Reflexion.

Um es noch einmal zu sagen: nicht das notwendige Interesse für die Form eines Films, für seine formalen Strukturen wird hier der ästhetischen Kritik vorgeworfen, sondern ihr Absehen vom inhaltlichen Sinnzusammenhang, von der Reflexion auf die gehaltlichen Momente des Films. Notwendigerweise muss sie, ihren Voraussetzungen getreu, vom "Inhalt" eines Films, seiner "Aussage" mehr und mehr absehen, weil die "fertigen Ideen des Werkes" (Patalas), sein offenes Engagement als das eigentlich ideologische Moment angesehen werden. Ideologie ist alles, was nicht Filmkunst ist; und je mehr sich der moderne Film "künstlerisch selbstbesinnt", je mehr der Stoff, der Inhalt, die Ideen des Films von seiner Form aufgezehrt werden - so doziert die ästhetische Linke -, umso mehr verschwindet Ideologie. Deshalb glaubt sie dort, wo sie auf Form im gegenwärtigen Film reflektieren kann, sich der Verlängerung kritischen Denkens ins Soziale, ins Ideologische entheben zu können. Sie hält sich sogar etwas zugute auf ihre eigene vermeintliche Ideologiefreiheit. Sie will den Leser nicht auf den "Stand" des eigenen politischen Bewusstseins bringen - sofern sie noch eines hat und dieses nicht im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. Vielmehr will sie, den ideologischen Auseinandersetzungen enthoben, wie sich der Bundeskanzler den parteilichen Streitigkeiten überlegen glaubt, (Dass etwa zur gleichen Zeit, in der Erhard das Ende der Nachkriegszeit verkündet, Patalas das Ende der linken Filmkritik ausruft, sollte denn doch zu denken geben) den "Prozess der Bewusstseinsbildung beleben", den "Blick des Betrachters freilegen von fermentierten Auffassungen, die ihm den Zugang verstellen", um durch solche meditative Vertiefung in die Struktur des Werkes dessen objektiven Gehalt zu erkennen und zu aktivieren: der Rückzug von der kritischen, fordernden Distanz, wie sie noch in "Gibt es eine linke Kritik?" formuliert war, zur vermittelnden, sich dem Werk immanent angleichenden und unterordnenden Betrachtung wird hier vollzogen. Betrachtung, Kunstbetrachtung - nicht von ungefähr wird man bei den Arbeiten der ästhetischen Linken an scholastische Exegesen theologischer Texte erinnert, wie ja auch die Verehrung, die vor allem Godard in diesen Kreisen geniesst, kultartige Züge angenommen hat. Romantische, esoterisch-elitäre Vorstellungen von der Stellung des Künstlers, seines Werkes und der Kritik hatte schon Vogel in seiner "Kritik an der FILMKRITIK" (FK, 6/64) festgestellt, während Delling (FK, 2/64) auf den esoterischen Jargon der Zeitschrift hinwies. Beides hat sich, mit dem Erstarken des Trends zur ästhetischen Linken, noch verstärkt, der Jargon sich bezeichnend verändert. Waren es früher weitgehend termini technici aus der soziologischen und marxistischen Theorie, so herrschen nun Begriffe aus dem semantischen, strukturalistischen Denken vor. Inwieweit das mit Patalas' Stolz, eine "Kulturzeitschrift" herauszugeben - womit er einmal den Formatwechsel begründete - zusammenhängen mag, inwiefern der Begriff der Kultur, auf den man so unreflektiert sich etwas einbildet, dafür verantwortlich ist, wäre noch zu untersuchen. Der Begriff der Utopie etwa, einer der zentralen Aspekte in Berghahns Argumentation und den wichtigsten motorischen Vorstellungen einer linken Ästhetik zuzurechnen, ist aus dem Blickfeld der ästhetischen Linken verschwunden. Durch die blinde Hypostasierung von Utopie in dem jeweils einzelnen neuen 'Meisterwerk' ist das historische Denken verloren gegangen. Die Immanenz ihrer Methode, die immer nur ins Werk hineinschaut, aber nie mehr heraus, ist so versteinert, dass noch nicht einmal auf andere Werke des gleichen Regisseurs ein Blick geworfen wird, um sich derart eine Korrektur des an einem Werk gewonnenen Urteils zu gestatten.

Im Gegensatz zur Objektivität und Apodiktizität, mit denen die ästhetische Linke ihre Urteile fällt, steht die nunmehr zugegebene Subjektivität, die diese Methode begründen und rechtfertigen soll: "Ob jemand bereit ist, einer neuen kritischen Argumentation zu folgen, hängt nicht nur von der Schlüssigkeit der Argumentation ab, sondern mehr noch davon, ob diese im Leser eine Disposition trifft." Nicht nur wird hier die ästhetische Linke wie ein neuer Modeartikel angepriesen - der sie, nebenbei, auch ist, nämlich: gesellschaftskritischer Eskapismus; vielmehr noch offenbart sich, neben der Unsicherheit Patalas', die irrationalistische Wurzel des Unternehmens. Er glaubt damit allerdings zwei lästige Fliegen mit einer Klappe geschlagen zu haben. Zum einen kann er jeden, der seiner Argumentation nicht folgen will (es gibt wenig Gründe, es zu tun), als indisponiert in die Ecke befehlen; zum anderen dürfen sich seine Mitstreiter wohlgefällig attestieren, sie hätten die richtige Disposition und das zeitadäquate Bewusstsein.

Was selbstironisch gebraucht worden war - und schon damit einen gewissen, wenn auch verleugneten, so doch durch Koketterie wiederum eingestandenen Wahrheitswert hatte -, trifft mit vollem Recht auf die gegenwärtige FILMKRITIK zu: sie ist gespalten in eine politische und eine ästhetische Linke. Die (ästhetische) Rechte will nicht mehr wissen, was die (politische) Linke tut und was sie als politische Linke getan hat. Und Patalas' "epitaph for an enemy", dem alten FILM einmal gesetzt, könnte heute über der FILMKRITIK stehen: "Die FILMKRITIK ist nicht mehr. Was künftighin unter diesem Titel erscheint, hat nichts mehr zu tun mit dem, was es bisher war oder hätte werden sollen, nach dem Willen ihrer Gründer."       Wolfram Schütte, F. W. Vöbel
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DEFA '66 Anatomie einer Krise

Am 17. Mai 1946 erhielt die DEFA als erstes deutsches Filmunternehmen nach dem Kriege eine Lizenz durch die sowjetische Besatzungsmacht. Zwei Jahrzehnte später, im Mai 1966, schrieb die Kritikerin Gisela Steineckert diesen leicht wehmütigen Glückwunsch:

Die DEFA hat ihren zwanzigsten Geburtstag. Wie schon anlässlich ihres fünfzehnten Geburtstages wollen wir auch diesmal nicht versäumen, uns wieder für dieselben Filme zu bedanken. Wir gratulieren also nochmals zu Meisterwerken wie "Der Untertan", "Affaire Blum", "Die Buntkarierten" und "Sterne". In der eben ablaufenden Retrospektive wurde die Liste um sehr viele Titel verlängert. Bei manchen handelt es sich aber nicht um filmische Meisterwerke, sondern um behandelte Themen. (Eulenspiegel Nr. 20/1966)

"Affaire Blum" entstand 1948, "Die Buntkarierten" erlebten ihre Premiere 1949, "Der Untertan" stammt aus dem Jahre 1951, und "Sterne" kam 1959 heraus. Bei einer Umfrage der Zeitschrift "film - Wissenschaftliche Mitteilungen" (Heft 2/1965), an der sich 22 Filmleute, vor allem Regisseure und Autoren beteiligten, war das Ergebnis ähnlich. Nach den "national und international repräsentativsten Filmwerken" der zwanzigjährigen DEFA-Produktion befragt, nannten 17 Teilnehmer der Umfrage Konrad Wolfs international erfolgreiche "Sterne", mit 16 Stimmen folgt bereits Staudtes erster deutscher Film nach 1945, "Die Mörder sind unter uns". Wolfgang Staudtes "Untertan" erhielt 12 Stimmen, Maetzigs "Schlösser und Katen", nach einem Buch Kubas 1957 gedreht, 9 und Gerhard Kleins Streifen der "grauen Serie" "Berlin - Ecke Schönhauser" (1957) 8. Sechs Filmleute nannten: Maetzigs "Ehe im Schatten" (1947), Engels "Affaire Blum", Dudows "Stärker als die Nacht" (1954) und Frank Beyers "Nackt unter Wölfen" (1963). Nach der Filmversion des Apitz-Romans folgt an zehnter Stelle mit nur fünf Stimmen eine weitere Literatur-Verfilmung: Konrad Wolfs "Der geteilte Himmel" von 1964. Unter den ersten zehn DEFA-Filmen rangieren also auf den beiden letzten Plätzen Produktionen der vergangenen fünf Jahre. Ersetzte man "Schlösser und Katen" durch den "Fall Gleiwitz" (Gerhard Klein - 1961), erwähnte man noch "Rotation" (Staudte - 1949) und "Lissy" (Wolf - 1957), dann hätte man wahrscheinlich die Liste vor sich, die eine westdeutsche Umfrage ergeben würde.

Auch wer in Rechnung stellt, dass Jubiläen sich vorzugsweise in schöngefärbten Retrospektiven niederschlagen, dass der Blick zurück nicht selten von der Erinnerung verschleiert wird, auch wer also die Mühen der babelsberger Filmleute um die Bewältigung der neuen gesellschaftlichen Probleme anzuerkennen gewillt ist, kann schliesslich nicht übersehen, dass das künstlerische und politische Renommee der DEFA in Deutschland und im Ausland von den Filmen mit historisch-antifaschistischer Thematik geprägt wurde. Konrad Wolf spielte darauf an, als er in einem Interview (Berliner Zeitung vom 31. Januar 1965) fürchtete, man könne nicht länger von diesem Kredit zehren und müsse endlich dazu übergehen, "unseren Standpunkt, unsere Probleme direkter, eindeutiger und intensiver in der Kunst" darzustellen. Dieser Versuch ist von den Filmemachern der DEFA auf breiter Front in Angriff genommen worden. Dass er mit dem vom 11. SED-Plenum sanktionierten neuen kulturpolitischen Kurs zum Scheitern gebracht wurde, kann nur jene befriedigen, denen der DEFA-Film ohnehin suspekt ist und die den deutschen Film hartnäckig mit dem westdeutschen Film verwechseln. Ausgerechnet im Jahr ihres Jubiläums geriet die DEFA in eine Krise, die um so grotesker ist, als Regisseure, Drehbuchautoren und Kameraleute sie nicht verschuldet haben. Es ist eine von der Partei ausgelöste Krise, und nur dieser Partei ist es zuzuschreiben, wenn heute das Thema DEFA in erster Linie unter kulturpolitischen Aspekten diskutiert wird. Die Objekte, an denen sich die genuine Filmkritik entzünden könnte, wurden denunziert und verboten und gehen nun im Archiv zumindest ihres aktuellen Reizes verlustig. Der Versuch, die Widersprüche einer sozialistischen Entwicklung engagiert aufzugreifen und zu neuen filmischen Lösungen zu führen, der Versuch, das Publikum wiederzugewinnen und in fruchtbaren Kontakt zu ihm zu treten - dieser Versuch wurde von der Partei vorerst zunichtegemacht. "Es wäre doch zu schön, wenn wir eines Tages nicht mehr ins Kino unserer sozialistischen Nachbarn zu gehen brauchten, um unsere Probleme auf der Leinwand wiederzufinden", schrieb Rosemarie Rehahn 1964. (Wochenpost, zit. in film Heft 1/1965) Ihr Wunsch bleibt unerfüllt. Sie muss weiterhin bei den sozialistischen Nachbarn hospitieren.

Die Entwicklung, die im letzten Dezember von der Partei gestoppt wurde, begann, als sich die Lage nach dem Mauerbau 1961 wieder beruhigt hatte. Die Schriftstellerin Christa Wolf machte sich zur Sprecherin einer allgemeinen Stimmung, als sie im Dezember 1962 auf einer Parteiaktivtagung im DEFA-Spielfilmstudio forderte, "die Grenzen, die dem Humanismus in bestimmten Klassensituationen gesetzt sind, gesetzt sein müssen, zu erweitern - in weit höherem Masse als wir es bisher glaubten, tun zu können".

Der 13. August ermöglichte es uns, die Grenzen in unserem eigenen Lande, in unserem Innern, in der Diskussion mit unseren Menschen, in der Arbeit mit ihnen, auszudehnen. Wir machen jedoch von dieser Möglichkeit in unserer Kulturpolitik zu wenig Gebrauch _... Wenn die Partei von uns Mut fordert, so heisst das nicht, etwas nachzubeten oder in Verse zu setzen, was ohnehin bekannt ist, sondern mit grösster Sachkenntnis und Ehrlichkeit Fragen aufzugreifen, die uns bewegen _... (film Heft 1/1963) Die Grenzen erweitern - das bedeutet auch, den dogmatischen und hemmenden Begriff der Parteilichkeit und die damit zusammenhängende Petrifizierung von Begriffen wie Optimismus, Volkstümlichkeit oder Pathos aufzulösen und neu zu formulieren. Dieser Aufgabe wandte sich die Zeitschrift "film - Wissenschaftliche Mitteilungen" zu, deren wissenschaftlich gebildete Redakteure den Praktikern in den Studios theoretische Schützenhilfe gewährten und sie mit den Entwicklungen jenseits der Grenzen, vor allem aber in den sich vom stalinistischen Dogma befreienden sozialistischen Nachbarländern, vertraut machten.

Kurt Maetzig nahm den Mauer-Film Vogels _... und deine Liebe auch" zum Anlass, um sich von alten Vorstellungen zu lösen. Die Parteilichkeit könne sich nicht auf die vorwärtsdrängende Komponente von Widersprüchen beschränken und die negative Seite ausklammern.

Tendenziös die Wirklichkeit zu verzerren ist nicht parteilich. Unsere Parteilichkeit besteht darin, die Welt so, wie sie wirklich ist, in aller Realistik, mit all ihren Konflikten zu erkennen und, da wir Marxisten sind, natürlich auch zu verändern _... Die Parteilichkeit ist mit Objektivität verbunden, und wo die Objektivität verletzt wird zugunsten einer tendenziösen Darstellung, können wir nicht mehr von echter Parteilichkeit sprechen. (film Heft 3/1963)

Die Regisseure der DEFA wandten sich gegen die "Denkweise des Personenkults", gegen einen oberflächlichen Optimismus-Begriff, der "für unsere Themenwahl nachgerade 'lebensgefährlich' wird" (Günther Rücker), forderten eine künstlerische Entfaltung auch der ,negativen' Figuren in ihren Filmen (Frank Vogel: "Wir schneiden die Figuren unserer Gegner genau auf das Mass zu, das es den positiven Helden erlaubt, sie noch im Verlaufe des Films zu überwinden.") und wollten das Vertrauen zum Publikum wieder hergestellt sehen. Slatan Dudow verwies auf die Folgen der Doktrin für das schöpferische Subjekt:

Der Schematismus, den wir produzieren _... ist uns, den Künstlern, immanent geworden _... Der Widerspruch geht so weit, dass wir groteskerweise gewisse Schematismen sozusagen gegen den Willen leitender Organe durchzusetzen suchen. (film Heft 1/1963) Sergej Jutkewitsch lehnte das überkommene Pathos ab und berief sich dabei auf Tschechow, Brecht und Gorki, Maetzig bekannte sich zu den Möglichkeiten der modernen Montage und konstatierte: "Ich suche die Grenzen der Filmkunst nach allen Seiten hinauszuschieben, sowohl in der Thematik als auch in den künstlerischen Ausdrucksformen." (film Heft 3/1963) Zu diesen oft polemisch vorgetragenen Überzeugungen trat eine vorsichtige Propagierung des tschechoslowakischen Vorbildes. Bei aller Problematik - so "film"-Redakteur Heinz Baumert - lasse sich in diesen Filmen eine interessante Methode beobachten.

Um ein neues, sachlich-kritisches Verhältnis zur Wirklichkeit zu gewinnen, stellen sie in ihren Geschichten Erscheinungen, Haltungen usw. in Frage, die allgemein als gesellschaftlich geklärt oder als unproblematisch galten bzw. überhaupt aus der ästhetischen Betrachtung ausgeschlossen waren. Sie versuchen, eine neue Verständigung mit ihrem sozialistischen Alltag zu erreichen. Mir scheint eine nicht unerhebliche Zahl von Filmen, Fernsehspielen, ja sogar Dokumentarfilmen zu beweisen, dass auch wir nötig haben zu lernen, die Achtung vor der Wirklichkeit, vor der Wahrheit des Lebens, auch wenn sie noch so kompliziert ist, als ästhetischen Massstab anzuerkennen. (film Hett 2/1965)

Baumert rühmte die "neue Haltung der Wirklichkeit gegenüber", die er in Filmen anderer Länder zu erkennen glaubte, "ein beinahe dokumentarisches Beobachten der Wirklichkeit auch im Spielfilm", und vermisste diese Sachlichkeit in den eigenen Produktionen. Man habe das "produktive Moment des Aufdeckens von Widersprüchen" in polnischen und tschechoslowakischen Gegenwartsfilmen unterschätzt. Baumert sah es darin, "dass diese Künstler mit einer Unerbittlichkeit oder mit einer Engagiertheit, die ich bei uns noch wenig finde, gegen Mängel zu Leibe ziehen, die ihre Gesellschaft, die sie aufbauen, hindern, die menschlichste zu sein". Die hier nur in einigen typischen Äusserungen wiedergegebene revisionistische Position, die nicht gegen die Partei, sondern gegen eine bestimmte, an überkommenen stalinistischen Strukturen festhaltende Fraktion innerhalb der Partei formuliert worden war, hatte mit einer freischwebenden intellektuellen Plattform nichts gemein. Sie reflektierte vielmehr die Haltung vieler Regisseure in den Studios, die sich in ihren Filmen um eine ehrliche Darstellung der "neuen Wirklichkeiten" bemühten. Das Resultat dieser Bemühungen wird dem Publikum und der Kritik vorenthalten, bis auf Ausnahmen - der erst im Juli zurückgezogene Beyer-Film "Spur der Steine" gehört dazu - sind wir auf Andeutungen angewiesen. Die gerade noch mögliche Grenze scheint Egon Günthers Debutfilm "Lots Weib" zu markieren, der aufschlussreich genug ist, um das Verbot anderer Filme zu bedauern.

Christa Wolf wollte die Grenzen künstlerischer Freiheit erweitert sehen. Drei Jahre später wurden die Liberalisierungstendenzen innerhalb der Partei der Diskussion entzogen und politisch denunziert. Das 11. Plenum zog sich auf die anachronistischen Positionen eines Hager und Kurella zurück und warf die DEFA in ihren ideologischen und ästhetischen Überlegungen in einem Augenblick um Jahre zurück, als sie sich eben praktisch auszuzahlen versprachen. Der Delikt-Katalog lässt an Deutlichkeit keinen Wunsch offen. Hermann Schauer und ND-Filmkritiker Horst Knietzsch beschuldigen die Zeitschrift "film" "pseudowissenschaftlicher Tendenzen", Baumert orientiere die Filmschaffenden auf "ein sogenanntes ,antidogmatisches' Programm" und führe "von den Positionen sozialistischer Parteilichkeit" weg. Er gerate in offenen Widerspruch zu Bitterfeld und zur offiziellen Kulturpolitik und trete als "Produzent irreführender Halbwahrheiten" auf. Die Zeitschrift habe den klaren ideologischen Standpunkt preisgegeben. (Sonntag Nr. 50/1965) Auch Erich Honecker griff sie im Politbüro-Bericht an. Sie propagiere "unter dem Mantel der Weltoffenheit Filme, die in ihrem Wesen dem bereits dargelegten ,spiessbürgerlichen Skeptizismus ohne Ufer', dem Nihilismus, Tür und Tor öffnen sollen". (Honecker: Bericht des Politbüros, Dietz Verlag Berlin 1966) Politbüro-Mitglied Hager nannte die Leute des Instituts für Filmwissenschaft zusammen mit Biermann und Havemann.

Alexander Abusch erkannte den Zusammenhang von Theorie und Praxis und meinte, es sei kein Wunder, dass Filme wie "Das Kaninchen bin ich" entstünden, folgte man den Forderungen von "film". Die Genossen übertrafen sich in ihren Attacken gegenseitig. Nur Günter Witt, damals noch Stellvertreter des Kulturministers und Leiter der Hauptverwaltung Film, und Christa Wolf versuchten sich der aufgeputschten Atmosphäre entgegenzustemmen. Nach dem Plenum brach das grosse Schweigen herein, und Walter Ulbricht suchte sich unauffällig von den Konservativen zu trennen, als er sich mit der Selbstkritik Kurt Maetzigs solidarisierte. Er nahm nun eher eine Mittelposition ein, aber der Eklat war nicht zu vertuschen. Kurt Maetzigs "Das Kaninchen bin ich" (Autor: Manfred Bieler) und Frank Vogels "Denk bloss nicht, ich heule" (Autoren: Manfred Freitag und Joachim Nestler) standen im Mittelpunkt der Angriffe. Maetzig hatte einen interessanten Stoff aus der DDR-Justiz gewählt. Staatsanwalt Paul Deister verurteilt einen Jugendlichen wegen unbedachter politischer Äusserungen zu einer harten Zuchthausstrafe, um seine eigene Karriere zu fördern. Die Schwester des Verurteilten, Maria ("Das Kaninchen bin ich"), wird deshalb nicht zum Studium zugelassen und verdingt sich als Kellnerin mit Abitur an eine ostberliner Kneipe. Zwischen Maria und dem Staatsanwalt, der nicht weiss, dass sie die Schwester des von ihm Verurteilten ist, spinnt sich eine Liebesgeschichte an, die ins Wochenendhaus des verheirateten Funktionärs führt und damit auch Milieu und Geschehnisse in einem Fischerdorf in den Film einbezieht. Deister will hier noch einmal seine Härte gegen den Bürgermeister demonstrieren, der die republikfeindliche Äusserung eines Fischers ohne Aufsehen aus der Welt schaffen möchte. Maria, im Konflikt zwischen der Hilfsabsicht für den Bruder, die, ohne eingestanden zu werden, am Beginn des Verhältnisses stand, und der bedingungslosen Liebe zu Paul, entfremdet sich nach einem Besuch seiner Frau im Dorf von ihm. Sie löst die Beziehungen vollends, als der Staatsanwalt nach dem Rechtspflegeerlass eifrig die vorzeitige Entlassung des Bruders betreibt - wiederum aus opportunistischen Gründen. Nüchtern und illusionslos beginnt Maria, von ihrem Bruder unverstanden und geprügelt, an der Universität zu studieren. Maetzig versprach sich von diesem Film "einen lebhaften Meinungsstreit"; mit seiner Hauptfigur (Angelika Waller in ihrer ersten Aufgabe) habe er etwas vom Lebensgefühl der jungen Generation vermitteln wollen, und zwar ohne Schablone und ins Bild gesetztes Wunschdenken". Er habe versucht, "die Wahrheit in einem kleinen begrenzten Ausschnitt so umfassend und so tief wie nur irgend möglich dazustehen und damit vielleicht die Entwicklung mit dem Mittel der Filmkunst ein kleines Stückchen vorantreiben zu helfen". Seine Absicht wurde nicht honoriert.

Regisseur Frank Vogel hatte zum Thema seines Filmes die Auseinandersetzung mit der Heuchelei gewählt. Ein 18jähriger Oberschüler wird von der Schule gewiesen und vagabundiert mit einem Mädchen durch die DDR (einige Szenen spielen im Gelände des früheren KZs Buchenwald). Einmal stellt er die Frage: "Ich lebe hier schon immer, und hier ist Sozialismus. Warum bin ich keiner?" Der Film "Denk bloss nicht, ich heule" hat die Bedingungen einer solchen Frage auseinandergefaltet und ist auf dem Plenum wütend angegriffen worden. FDJ-Sekretär Horst Schumann: "Es ist ein Film gegen uns, gegen unsere Partei, gegen unsere Republik und gegen unsere Jugend". Bitterfeld-Adept Helmut Sakowski: "Manche sagen, die Filme seien schlecht. Sie sind nicht schlecht gemacht, sie sind besser gemacht als die meisten DEFA-Filme, die ich kenne. Sie sind falsch und böse!" (Neue Deutsche Literatur Nr. 2/1966) Um den Vogel-Film hatte es bereits seit dem Frühjahr 1965 harte Auseinandersetzungen gegeben; immer wieder hatten ihn Kommissionen besichtigt, keine aber wagte ihn freizugeben. Babelsberg suchte Druck auf die zögernden Funktionäre auszuüben, indem man Jugendliche zu Testvorführungen einlud und den Film so ins öffentliche Bewusstsein rückte. Der neue ideologische Frost machte alle Mühe zunichte. Es heisst, nicht einmal eine spielbare Kopie sei mehr vorhanden.

Die thematischen Grenzen auf sozialistisches Neuland auszudehnen unternahm auch Günter Stahnke mit "Der Frühling braucht Zeit". Er bemächtigte sich eines ökonomischen Problems wie die Prager Jan Kadár und Elmar Klos in "Der Angeklagte". (Der im ZDF aufgeführte Film aus der CSSR wurde in der DDR von vier Kommissionen abgelehnt und ist dort nicht zu besichtigen, "film" veröffentlichte im Heft 4/1964 trotzdem das Drehbuch.) Stahnke ging von einem wirklichen Vorfall aus. Ein parteiloser Ingenieur gerät in Widerspruch zu dem in sturem Plandenken befangenen Werkleiter und gibt unter Druck vorfristig eine Gasleitung frei. Die Winterkälte verursacht einen Millionenschaden, der Ingenieur wird verhaftet. Doch es findet sich ein mutiger Staatsanwalt, der ihm die Freiheit wiedergibt. Was hier veräusserlicht als ,Problem der Leitungstätigkeit' erscheint, hat Konsequenzen im menschlichen und familiären Bereich. Eine Verlobung geht in die Brüche, an der Hochschule gibt es Schwierigkeiten. "Der Sozialismus macht aus den Menschen keine Engel, schmutzige Intrigen kommen auch in volkseigenen Betrieben vor, und aufrechte Charaktere haben 's immer noch nicht einfach", schrieb der Kritiker der ostberliner CDU-Zeitung und lobte, dass sich der Film des Patentrezeptes enthält und mit offenen Fragen entlässt. Dass die beiden Kontrahenten schliesslich doch wieder zusammenarbeiten sollen, erscheint ihm "als eine ziemliche Zumutung, als ein unbefriedigendes Ende einer unerfreulichen Affäre". (Neue Zeit vom 26. November 1965) "Alle wollen sie den Sozialismus aufbauen, aber alle sind sie allein und einsam", rügte "Neues Deutschland" (28. November 1965) und nannte den Film ein "talentverheissendes Missverständnis". Als dann auch noch die Gewerkschaft Kunst aus Dresden protegierte ("Wenn unsere Wirklichkeit so ist, möchte ich nicht in ihr leben', war die von einem Kollegen formulierte Grundauffassung zum Film _..."), wurde der Film zurückgezogen. Damit deutete sich bereits vor dem 11. Plenum an, dass der Frühling zwischen Ostsee und Erzgebirge noch Zeit brauchen würde. Regisseur Stahnke, ein früherer Filmkritiker, mochte mit seinem ersten Film zufrieden sein. In der dresdner Resolution hatte man ihn in Zusammenhang mit Antonioni und Fellini gebracht und erstmals eine Aktualisierung der Entfremdungstheorie für die sozialistische Gesellschaftsordnung erkannt - später ein Hauptvorwurf gegen die DEFA. Elisabeth Simons und Klaus Jarmatz charakterisieren diese Tendenz auf ihre Weise:

(In diesen Filmen) wird ein Kafka folgende Grundsituation konstruiert, die mit unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit nichts gemein hat. Das Menschliche wird abstrahiert vom Gesellschaftlichen, dem einzelnen wird die Gesellschaft als eine unbeherrschbare und ihm feindliche Umwelt gegenübergestellt. Damit geht parallel, dass der humanistische Gehalt dieser Filme stark reduziert wird, solche Szenen, die brutales Verhalten darstellen, werden breit und detailliert ausgemalt _... Solch eine Wiederbelebung einer ,harten Schreibweise' birgt jedoch die Gefahr in sich, auf ungefestigte, haltlose Charaktere nicht abschreckend, sondern eher attraktiv und bestätigend zu wirken. (Neues Deutschland vom 15. Januar 1966)

Der die Auseinandersetzungen mit der Partei gewohnte Stahnke kuschte nicht und warnte, dass jeder, der irgendwelchen Konzessionen nachgebe, sich selbst aufgeben und in einer künstlerischen Sackgasse landen werde.

Drei Filme gelangten gar nicht erst bis zur Endfertigung. "Karla" von Hermann Zschoche (Autor: Ulrich Plenzdorf) greift ein Thema aus dem Bereich der sozialistischen Pädagogik auf und bringt die Schwierigkeiten auf die Leinwand, die einer Hochschulabsolventin begegnen, als sie ihre theoretischen Kenntnisse endlich an der Praxis prüfen will. Egon Günthers zweiter Film, die Komödie "Wenn du gross bist, lieber Adam", spielt ebenfalls in der DDR-Gegenwart. Der von Günther Simon dargestellte Schiffbauminister stellt am Ende fest: "Es ist unnötig, einander so ins Herz zu sehen. Entweder bekennen wir uns dazu, den Menschen zu vertrauen, oder es wird alles nur ein Fortstolpern sein, und das ist nicht die glücklichste Art der Fortbewegung." Von "Fräulein Schmetterling" (Szenarium Christa und Gerhard Wolf) weiss man nur, dass sein Regisseur Kurt Barhel, der vorher bei Konrad Wolf assistierte, gewisse Prinzipien des cinéma-vérité an einem DDR-Stoff erproben wollte.

Bei diesem Film trat erstmalig ein Gremium in Funktion, das als Frucht des Plenums im Dezember die Partei vom Odium des Nein-Sagens befreien soll. Die Aufgaben dieses Filmbeirates beim Ministerium für Kultur umschrieb dessen Stellvertreter und Leiter der Hauptverwaltung Film, Witt-Nachfolger Dr. Wilfried Maass: Als demokratisches Beratungsorgan, das Filmschöpfer, Gesellschaftswissenschaftler, Werktätige aus Industrie und Landwirtschaft sowie Vertreter gesellschaftlicher Organisationen vereint, soll dieses Gremium an der Lösung der grossen kulturellen und künstlerischen Aufgaben des Filmwesens mitwirken und damit die Kulturpolitik von Partei und Regierung wirkungsvoll unterstützen. Der Beirat wird sich vor allem mit den Filmen der nationalen Produktion befassen, zur thematischen Planung der DEFA-Studios Stellung nehmen und Standpunkte zur Spielplangestaltung und zum Filmankauf erarbeiten. Damit wird der Filmbeirat die Leitungstätigkeit und die Weiterentwicklung des Filmschaffens in der DDR konstruktiv und schöpferisch unterstützen. (Filmspiegel Nr. 9/1966)

Auf seiner ersten Sitzung sah dieser als weiteres Zensurinstrument installierte Filmbeirat das Arbeitsmaterial des Films "Fräulein Schmetterling". Das SED-Zentralorgan meldete bündig: "Das Schöpferkollektiv des Films schlug vor, dieses Material nicht weiter zu bearbeiten, da sich im Laufe der Arbeit herausgestellt hat, dass seine ursprünglichen Absichten sich in dieser Form nicht realisieren lassen. Nach einer lebhaften längeren Diskussion, die viele Fragen der weiteren Entwicklung der Filmkunst umfasste, schloss sich der Beirat der Auffassung der Künstler an." Man sieht, auch die Selbstzensur, die Dudow beklagt hatte, ist wieder intakt. (Neues Deutschland vom 16. April 1966)

Doch beim lange und mit Spannung erwarteten Neutsch-Film "Spur der Steine" (Regie: Frank Beyer) funktionierte der ausgeklügelte Mechanismus nicht. Nach heftigem Tauziehen empfahl der Filmbeirat "die baldige Aufführung" des nach Motiven des gleichnamigen Bestsellers von Erik Neutsch entstandenen Films. "In vielen Diskussionsbeiträgen wurde die interessante und lebendige künstlerische Gestaltung eines bedeutenden Themas aus der sozialistischen Gegenwart unterstrichen. Der Film werde zu Diskussion über viele Probleme anregen. Regisseur Frank Beyer dankte dem Beirat für die fruchtbare Diskussion und versicherte, kritische Hinweise bei seiner künftigen Arbeit an Gegenwartsfilmen zu berücksichtigen." (BZ am Abend vom 26. Mai 1966) Die Partei desavouierte das "demokratische Beratungsorgan", mobilisierte im ostberliner "International" linientreue Störtrupps und liess den Film nach wenigen Tagen wieder absetzen. Die Premiere hatte bereits Ende Juni während der im Bezirk Potsdam veranstalteten 8. Arbeiterfestspiele im babelsberger Thalia-Theater stattgefunden. Der "Filmspiegel" notierte eine beifällige Aufnahme und erhoffte sich "eine produktive öffentliche Diskussion". (Neues Deutschland vom 6. Juli 1966) (Später entdeckte plötzlich auch er "erregte Proteste" beim Publikum!). Zu dieser produktiven Diskussion soll es wieder einmal nicht kommen. Dafür diskutiert man die unsinnige Massnahme der Partei. Sie sorgt also auch jetzt noch dafür, dass der Film in den Hintergrund gerät, dass nur von Filmpolitik die Rede ist, wenn der Name DEFA fällt. So kann man ein schwer errungenes Prestige zuverlässig in kürzester Zeit demolieren.

"Neues Deutschland" hatte massive Einwände gegen den Film. Er verzerre die sozialistische Wirklichkeit, es gebe in ihm keinen Arbeiter, der einen klaren Klassenstandpunkt beziehe, der "Wahrheit unseres Lebens" sei krass Gewalt angetan, "die revolutionären Triebkräfte unserer sozialistischen Gesellschaft" seien nicht künstlerisch erfasst worden.

_... der Film "Spur der Steine" reduziert, durch seine Begrenzung auf einen Dreieckskonflikt, das Wirken der Parteiorganisation einer Grossbaustelle betont vordergründig auf die Auseinandersetzung über das moralische Versagen eines Parteisekretärs _... Mitglieder der Partei der Arbeiterklasse werden im Widerspruch zur Wirklichkeit fast ausnahmslos als unentschlossene Menschen oder Opportunisten geschildert _... (Neues Deutschland vom 6. Juli 1966)

Dagegen schrieb das österreichische KP-Organ "Volksstimme" (16. Juli), der DEFA sei "ein packender Film gelungen", der "seinen Platz in der Reihe der grossen Filme des Studios einnehmen wird". Vorerst steht er in der stattlichen Reihe jener Filme, die wie "Das Beil von Wandsbeck" (1951 nach dem Roman Arnold Zweigs von Falk Harnack gedreht) oder Konrad Wolfs "Sonnensucher" (1959) bald wieder in den Archiven verschwanden oder das Licht der Leinwand gar nicht erst erblickten. Die DEFA könnte diesen Filmen sicher eine sehr interessante Retrospektive widmen.

Im Jahre 1961 hat die DEFA noch 28 Spielfilme produziert, 1965 waren es nur noch 15. Diese Zahl wird in diesem Jahr kaum erreicht werden können. Das wäre weniger betrüblich, wenn zumindest die Filme, die den Zuschauer erreichen, ein diskutables Niveau aufwiesen. (Gisela Steineckert über "Flucht ins Schweigen", Regie Siegfried Hartmann,: "Darf eigentlich jeder, dem sonst nichts einfällt, den Kritikern das Maul stopfen, indem er gerade noch rechtzeitig einen KZ-Arzt in die Geschichte quält?"). (Eulenspiegel Nr. 24/1966) "Geschichtsschreibung mit den Mitteln der Kunst" zu treiben - so ein Jubiläumsleitartikel - ist eine dankbare und schwierige Aufgabe, die von der DEFA in vielen antifaschistischen Filmen gelöst worden ist. Aber wenn man sich der sozialistischen Gegenwart zuwendet, dann ist das "Prinzip Bejahung" (Klaus Lippert) eine allzu bescheidene Voraussetzung. Wir wissen nicht, ob die inkriminierten Filme künstlerische Meisterwerke sind, ob über sie zu reden sich lohnte, auch wenn es keine spektakulären Massnahmen der Dogmatiker gegeben hätte. Aber diese Massnahmen sichern immerhin ein Indiz: die Filme, angefangen von Maetzigs "Das Kaninchen bin ich" bis Beyers "Spur der Steine", sind Ausbruchsversuche. Sie versuchen thematisches Neuland zu erobern und unkonventionelle dramaturgische Lösungen zu finden. Sie sind Anzeichen einer Unruhe, die nicht schlicht verboten werden kann.       Heinz Klunker
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Der mexikanische Film Ein Überblick

Der mexikanische Film befand sich mehr als zehn Jahre in einer Krise. Die Filme, die wir in unseren Studios herstellen, stehen auf der untersten Stufe der Skala künstlerischer und inszenatorischer Werte. Es gibt einen ökonomischen Lehrsatz: trotz des Bankrotts der Industrie, trotz des Zusammenbruchs der in- und ausländischen Märkte, trotz fehlender Investitionen und der Schwierigkeiten, investiertes Kapital wieder hereinzuholen, trotz dauernder Klagen von Produzenten und Technikern haben einige Leute in der Filmindustrie ein Vermögen verdient. Schliesslich bleiben die vielen Geschäftsleute nicht aus dem Wunsch nach Selbstaufopferung heraus im Filmgeschäft.

Die vielleicht bedeutendste Eigenschaft unserer Filmindustrie ist ihre Tendenz zur Versteinerung: zwanzig Jahre lang haben sich weder die Filme noch die Regisseure geändert. Es gab weder eine filmische Erneuerung wie in Frankreich, Polen, Italien oder Nordamerika, noch existieren nichtkommerzielle Filmschöpfer oder unabhängige Agenturen ähnlich denen, die sich ausserhalb Hollywoods entwickelt haben. Wie bei allem, das unter Greisenhaftigkeit leidet, herrscht auch in unserer Filmindustrie eine kindliche Attitüde vor, der allerdings die Unschuld fehlt. Seit seinem Bestehen verliess sich unser Film auf feststehende Charaktere und banale Geschichten, die noch nicht einmal in die Kategorie der Stereotypen passen würden, da sie nur groteske Karikaturen der Wirklichkeit sind. Bis heute haben es unsere Filmhersteller nicht verstanden, für irgendeines der filmischen Genres neue Regeln zu finden; günstigstenfalls haben sie versucht, die Arten auszuschlachten, die im nordamerikanischen oder europäischen Film entwickelt worden sind. Damit bezog unser Film zwar Anregungen von Western, Kriminalfilm, Musical, ,petit bourgeois'- Komödie und sozialkritischen Filmen, aber durch den Filter unserer Sprache und Persönlichkeit und die Anpassung an die kommerziellen und vulgären Vorstellungen unserer Produzenten wurde ihre ursprüngliche Kraft abgeschwächt, und es kamen verzerrte und lächerliche Bilder einer Wirklichkeit zustande, deren tatsächliche Tiefe unerschöpft blieb.

Über unsere Leinwände flimmern der Kult der Mutterschaft, die Verherrlichung der Männlichkeit, abergläubische und fanatische Religion, gemeine Ansichten über sexuelle Beziehungen, ein blöder Erotizismus, die Verherrlichung der Diktatur Diaz (die von unseren schwachköpfigen Produzenten als die ,belle époque' angesehen wird], die Probleme der Jungfräulichkeit und der unehelichen Mutterschaft, die Verteidigung des ,Heims', die Ausbeutung patriotischen Blablas und Pseudo-Folklore. Alles, was eine wirkliche Auseinandersetzung mit unseren Problemen bedeuten könnte, wird abgelehnt, kurz, es geschieht alles, die tatsächlichen Probleme zu verharmlosen, die eine reife Filmkunst inspirieren könnten. Es herrscht die Tradition absoluter Irrealität.

Die Isolation des mexikanischen Films gegenüber der mexikanischen Kultur und den ästhetischen und kulturellen Strömungen der ausländischen Filmkunst wird mit der Komplexität der Probleme einer unterentwickelten Wirtschaft und dem Kampf der mit der Industrialisierung und der Verschleierung zivilisatorischer Probleme beschäftigten nationalen Bourgeoisie erklärt. Das Resultat sind wohlfeile kommerzielle Filme und eine Zensur, deren Aufgabe es ist, jede wirklich schöpferische Aktivität zu unterbinden.

Trotz der Tatsache, dass wir mittlerweile eine gute industrielle Grundlage besitzen (fähige Techniker und Labors), und obwohl es gewissenhafte Schriftsteller gibt, die bereit wären, neue filmische Formen und Themen aufzunehmen, sind die Hindernisse so gross, dass Mexiko noch immer die altmodischsten Filme der Welt herstellt.

Die ,naive' Phase des mexikanischen Films wurde von dem Ingenieur Salvador Toscano eingeleitet, der als erster die Projektoren der Brüder Lumière nach Mexiko importierte. Den Projektoren folgten die Kameras, mit denen man alltägliche Szenen sowie bürgerliche und patriotische Feste filmte. Im September 1910 filmte Toscano die Fiesta zur Feier der hundertjährigen Unabhängigkeit, die an das Ende unserer Existenz als spanische Kolonie erinnern sollte. Am 20. November desselben Jahres rebellierte Francisco Madero gegen die dreissigjährige Diktatur von Porfirio Diaz. Ingenieur Toscano fing mit seiner Kamera wichtige Momente des revolutionären Kampfes und der Unternehmungen seiner bedeutendsten Führer Zapata, Villa, Carranza und Madero ein. Der Kampf für "Land und Freiheit" war für immer in Toscanos Filmen festgehalten. Viele Jahre später, 1950, brachte Carmen Toscano Moreno, Salvadors Tochter, dieses reiche Material unter dem Titel MEMORIAS DE UN MEXICANO (Erinnerungen eines Mexikaners) heraus.

Die Brüder Alva waren ebenfalls ,Naive', ihr Werk - CONCURSO DE NINOS EN LA ALAMEDA (Prüfung der Kinder an der Alameda), FIESTA DE TOROS (Stierkampf), UN DIA EN XOCHIMILCO (Ein Tag in Xhochimilco), VIERNES DE DOLORES (Guter Freitag) - ist verloren gegangen. Diese Naiven porträtierten das tägliche Leben oder ungewöhnliche Ereignisse. EL GRITO DE DOLORES (Der Kriegsschrei von Dolores) von Felipe de Jesus Haro dagegen war eine Rekonstruktion des Aufrufs zur Unabhängigkeit, den der Priester Hidalgo 1810 in seiner Gemeinde Dolores erliess.

1919 produzierte Enrique Rosas einen der ersten abendfüllenden Spielfilme, LA BANDA DEL AUTOMOVIL GRIS (Die Bande der grauen Autos), der auf den Verbrechen einer Bande basierte, die Mexiko-City terrorisierte. Er war fast ausschliesslich an den Originalschauplätzen gefilmt worden und kann durchaus als der erste neorealistische Film der Geschichte bezeichnet werden. Es handelt sich um ein spektakuläres, mit einem seltenen Gefühl für Kontinuität und Ellipse erzähltes Werk. In Kleinstädten und zweitrangigen Kinos wird es noch heute in ganz Mexiko gezeigt.

Zwei Produzenten begannen in den frühen Zwanzigern zu arbeiten: Miguel Contreras Torres, der einen zehn Rollen langen Spielfilm über das bäuerliche Leben drehte, EL CAPORAL (Der Boss), ein Melodram ALMAS TROPICALES (Tropische Seelen) und den ersten Film über ein Stierkampfthema, der in Mexiko gedreht wurde, ORO, SANGRE Y SOL (Gold, Blut und Sonne). Zwanzig Jahre später, 1943, drehte Torres seinen besten Film, eine Adaption des mexikanischen Romans "Pito Perez" von José Rúben Romero. Als zweiter erschien Carlos Stahl auf der Szene. Neben der Begründung eines neuen Genres, der Wochenschau, drehte er einige Spielfilme, deren bedeutendste MALDITAS SEAN LAS MUJERES (Verdammt seien die Frauen) und LA DAMA DE LAS CAMELIAS waren. Stahl drehte mehr als sechzig Wochenschauen seiner mexikanischen Serie, die ebensosehr Dokumentarfilme wie Wochenschauen waren.

Die ersten zwanzig Jahre der Entwicklung unserer Filmindustrie waren vom Zufall bestimmt, hauptsächlich wegen der Konkurrenz des nordamerikanischen Films mit seinen grossen Finanzquellen und seiner hohen Qualität. Zu Ende des Ersten Weltkrieges produzierte Hollywood über 600 Filme pro Jahr, und das Starsystem war fest etabliert. Das mexikanische Publikum huldigte nordamerikanischen Stars wie Mary Pickford, Gloria Swanson, Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin. Das Verständnis war durch keine Sprachbarriere behindert.

Ein anderes wichtiges Hindernis für die Entwicklung des mexikanischen Films war die mehrere Jahre dauernde Revolution von 1910. Neben dem allgemeinen Elend des Landes schien kein Ende der Revolten abzusehen, die ständig in irgendeiner Provinz ausbrachen. Die alten sozialen und wirtschaftlichen Strukturen wurden erschüttert und umgestürzt. Aber durch ein einzigartiges Paradox spiegeln die Filme dieser Zeit die gewaltige Bewegung, die das Land erschütterte, kaum wider; statt dessen orientieren sie sich am ,petit bourgeois'-Melodram oder an serienmässigen Abenteuerfilmen.

Der Tonfilm bot den spanisch sprechenden Ländern ihre erste grosse Chance. Obwohl die nordamerikanischen Monopolgesellschaften ihre Stellung mit allen nur denkbaren Methoden verteidigten - einschliesslich des Drehens in verschiedenen Sprachen und der Einführung von Stars lateinamerikanischen Ursprungs - war es unmöglich, die Entstehung von Filmindustrien in Mexiko, Argentinien und Spanien zu verhindern. (Die Filme zu Untertiteln war nicht möglich, da das Analphabetentum in Lateinamerika nicht selten neunzig Prozent der Bevölkerung umfasste). Später fanden Hollywoods Finanziers die Lösung, entweder direkt oder über Mittelsmänner Kapital in den lokalen Filmindustrien zu investieren.

Die in die herausragenden Regisseure der dreissiger Jahre gesetzten Erwartungen erfüllten sich nur selten. Kaum ein mexikanischer Regisseur drehte mehr als zwei oder drei wirklich konsequente oder interessante Filme. Juan Bustillo Oro, der noch heute in unseren Studios tätig ist, drehte 1942 LOS DOS MONJES (Die zwei Mönche), ein sehr persönliches, entfernt vom Expressionismus beeinflusstes Werk. Dies war der einzige Film, in dem er persönliche Gefühle ausdrückte; ansonsten ist das beste, was man über ihn sagen kann, dass er ein Handwerker ist, der sich auf seine Arbeit versteht. Fernando de Fuentes ist die stärkste Persönlichkeit dieser Periode und einer der grossen Namen in der Geschichte des mexikanischen Films. Zwei Filme aus dem Jahre 1933, EL PRISONERO 13 (Gefangener Nr. 13) und EL COMPADRE MENDOZA (Kamerad Mendoza), sowie aus dem Jahre 1935 VAMANOS CON PANCHO VILLA (Gehen wir mit Pancho Villa) sind seine wichtigsten. EL COMPADRE MENDOZA ist ein aussergewöhnlicher Film. Er erzählt die Geschichte einer tiefen Freundschaft zwischen einem Revolutionär und einem idealistischen Landbesitzer, der seinen Freund schliesslich um einer Belohnung willen verrät. Fuentes' Regie zeigt hier sicheres Können und ist voller menschlicher Schattierungen, reich an psychologischen Aspekten und frei von allem doktrinären Manichäismus. Er stellt eine ernsthafte kritische Auseinandersetzung mit dem Kurs dar, in den die Revolution steuerte.

Ein anderer Film, der mithalf, den lateinamerikanischen Markt für den mexikanischen Film zu öffnen, war ebenfalls von Fernando de Fuentes: ALLA EN EL RANCHO GRANDE (Rückkehr auf die grosse Ranch, 1937). Als Prototyp der ,comedia ranchera', der Bauernkomödie, war er das Modell für die Mehrheit der Filme, die seither in mexikanischen Studios hergestellt wurden. Sie zeigten Cowboys, Farmgehilfen und vor allem den obligatorischen Spassmacher in einer Atmosphäre falscher Folklore. Der Missbrauch dieser Formel wurde ad nauseam für viele Jahre getrieben, versehen mit Spritzen von ,machismo' (Männlichkeit), und zerfrass die ästhetische Struktur des mexikanischen Films.

Andere bemerkenswerte Filme dieser Zeit waren LA MUJER DEL PUERTO (Die Frau aus dem Hafen) von Arcady Boytler, einem in Russland geborenen und ausgebildeten Regisseur, AGUILA Y SOL (Adler und Sonne) und ASI ES MI TIERRA (So ist mein Land); letztere stammten von demselben Regisseur. Sie waren bedeutsam, da sie Cantinflas ins Licht der Scheinwerfer rückten, den Komiker, der geradezu ein Mythos und einer der grossen Stars des mexikanischen Films werden sollte. Seine Darstellung eines populären Typs, der durch seinen Zynismus und seine Doppelzüngigkeit charakterisiert war, liess den Ausdruck ,cantinflismo' für verwirrende und bedeutungslose Geschwätzigkeit entstehen. Cantinflas wurde in allen spanisch sprechenden Ländern ausserordentlich populär, aber seine Filme sanken in bezug auf Qualität und Komik beständig mehr ab. Cantiflas repräsentiert heute nichts tatsächlich Existierendes mehr, aber zu seiner Zeit war er die Inkarnation der allgemeinen Rebellion gegen Autorität und soziale Vorurteile. Arcady Boytler begründete somit den grössten Mythos des mexikanischen Films.

1930 kam Eisenstein nach Mexiko, um QUE VIVA MEXICO zu drehen, von dem später einige voneinander abweichende Versionen herausgegeben wurden. Eisenstein hatte einen gewissen Einfluss auf Fred Zinnemann, der 1934 mit Emilio Gomez Muriel, einem unserer zukünftigen Handwerker des Melodrams, REDES (Das Gewebe) dreht. REDES, der Versuch eines sozialkritischen Films, schlug nicht ein. Gemeinsam mit Carlos Navarros JANITZIO stellt er einen formalen Versuch dar, mit plastischen Elementen, Montage und Photographie zu experimentieren. Diese beiden Filme bildeten immerhin die ästhetische Basis der Filme von Emilio Fernandez, des ,Indianers', dessen beste Arbeiten aus indianischer Inspiration heraus entstanden.

Mitte der dreissiger Jahre begann unter der Regierung des Generals Cardenas die Nationalisierung der Kultur. Noch bis ins Jahr 1950 wurden die nationalen Werte in allen Bereichen des Lebens stimuliert, in der Malerei mit Orozco, Rivera und Siqueiros, in der Musik mit Revueltas und Carlos Chavez, gefolgt von Moncayo, Galindo und Sandi, im Tanz mit der Gründung der Akademie des mexikanischen Tanzes, die gefördert wurde durch die Zusammenarbeit der beiden spanischen Emigranten José Bergamin und Rodolfo Halfter und der amerikanischen Choreographin Ana Sokolof. Es ist bedauerlich, dass in dieser Periode der Besinnung auf nationale Quellen, der Begeisterung für nationale Werte und der Versuche, die Erfahrungen zu assimilieren, die die Vertriebenen der spanischen Revolution aus Europa mitgebracht hatten, nicht auch der Film eine Wiederbelebung erfuhr. Ein vergleichbarer Versuch, eine nationale Filmkunst zu begründen, wurde nicht unternommen. Die Verantwortung für diese Unterlassung liegt gleichermassen bei den Mitgliedern der Filmindustrie - Produzenten, Autoren, Regisseuren und Technikern - wie bei den Machthabern. Selbst die Gelegenheit des Zweiten Weltkrieges, als die nordamerikanischen Produzenten ihre Anstrengungen optimistischen und propagandistischen Filmen widmeten, wurde vertan. Die Geschäftsleute unserer Filmindustrie nutzten den Vorteil dieser Situation nur, um Filme rein kommerzieller Natur zu drehen. Emilio Garcia Riera, ein mexikanischer Kritiker, beschreibt diese Periode folgendermassen: "Patriotische und biographische Filme von unglaublicher Rückständigkeit wurden gedreht. Nostalgische Filme, die die Zeiten idealisierten, in denen die Bourgeoisie in Frieden schlafen konnte (die Diktatur Diaz), entstanden in Mengen. Das spanische Theater liefert uns auch heute weiterhin die Schablonen für erbauliche und harmlose Komödien, die sich ebenfalls an die Bourgeoisie wenden. Der mexikanische Film hat die Mentalität von Neureichen". Da ihnen eine Philosophie oder Ästhetik vollkommen fehlte, vergeudeten die mexikanischen Filmhersteller die historischen Gelegenheiten, das Niveau ihres Filmwesens zu heben und wirkliche Unabhängigkeit zu erlangen.

Zwischen 1938 und 1944 debütierten 69 Regisseure im mexikanischen Film; im März 1945 wurde das Sindicato de Trabajadores de la Producción Cinematográfica de la República Mexicana (STPC, Gewerkschaft der im mexikanischen Film Beschäftigten) gegründet; zwischen 1945 und 1958 debütierten nur vierzehn Regisseure. Ursprünglich gegründet, um die in der Filmindustrie Beschäftigten gegen die Produzenten zu schützen, wurde die Gewerkschaft zu einer korporativen Verbindung, die die Türen vor allen Neuankömmlingen verschloss.

Aber die mexikanischen Regisseure waren zu jeder Zeit lediglich Handwerker, bisweilen recht geschickte, aber unfähig, eine persönliche Welt zu entwerfen. Ein Kino der Autoren hat in Mexiko nie existiert. Statt dessen wurden die vierziger Jahre Zeuge des Aufstiegs von Stars wie María Felíx, Jorge Negrete, Arturo de Córdova und vor allem Dolores del Río und Pedro Armendáriz. Diese Stars wurden die Säulen der nationalen Filmindustrie. Der ,Qualitätsfilm' wird von Filmen wie Fernando del Fuentes' DONA BARBARA mit María Felíx in der Hauptrolle repräsentiert. Andere Filme dieser Sorte sind PENON DE LAS ANIMAS (Bollwerk der Seelen) von Miguel Zacarías, ebenfalls mit María Felíx in der Hauptrolle, sowie DISTINTO AMAECER (Ein neuer Tagesanbruch) und AY, QUE TIEMPOS, SENOR DON SIMON (Ja, die gute alte Zeit, Don Simón) von Julio Bracho, der zu den vielen Hoffnungen des mexikanischen Films zählte, die sich nicht erfüllten.

In den vierziger Jahren dominiert künstlerisch das Werk von Emilio Fernandez. Er begründete das, was eine mexikanische Schule hätte werden können. FLOR SILVESTRE (Wilde Blume) und MARIA CANDELARIA (1943) schufen den Stil unseres meistgefeierten Regisseurs. Von Anfang an bildete er ein Team mit dem Kameramann Gabriel Figuerosa und mit den Stars Dolores del Río und Pedro Armendáriz. Figuerosas Einfluss - er galt einmal als der beste Kameramann der Welt - war von grösster Wichtigkeit in den Filmen des ,Indianers'. In allen frühen Werken Figueroas - ENAMORADA (Der General und das Fräulein), MACLOVIA, PUEBLERINA (Paloma), SALON MEXICA und LA PERLA (nach einem Drehbuch von Steinbeck) - herrscht Kontinuität des Stils, Sinn für ursprüngliche Werte, eine romantische Sicht und eine häufig poetische Intuition. In einer Industrie, die nach dem Beispiel Hollywoods geformt wurde - ohne über dessen materielle Überlegenheit zu verfügen -, in der die Regisseure Angestellte der Produzenten waren, setzt sich der Indianer Fernandez mit seinem ganzen schöpferischen Talent ein. Leider blieb er durch sein Festhalten an einem vordergründigen Stil starren Formeln verhaftet.

Arcady Boytler verliess den Film 1944, nachdem er seinen besten Film AMOR PROHIBIDO (Verbotene Liebe) gedreht hatte. Chano Urueta drehte zwei Filme, die die Zeit nicht überdauerten: LA NOCHE DE LOS MAYAS (Die Nacht der Mayas) und LOS DE ABAJO (Menschen aus den Slums), dem ein berühmter Revolutionsroman von Mariano Azuela als Vorlage diente. Alejandro Galindo ging die sozialen Klassenprobleme in Mexiko-City an und schuf zwei hervorragende Filme: CAMPEON SIN CORONA (Champion ohne Krone) und UNA FAMILIA DE TANTAS (Eine Familie von vielen). Es mag seltsam scheinen, dass unsere Regisseure immer die Mystifizierung des bäuerlichen Lebens einer Schilderung der besser bekannten städtischen Umwelt vorgezogen haben; ihre stets bäuerlichen Filme waren geschichtliche Rekonstruktionen des ,goldenen Zeitalters' der Diktatur Diaz und süssliche, weinerliche Melodramen über verlorene Jungfräulichkeit und Mütter, die von fehlgeleiteten Söhnen und Vätern verlassen wurden. Nur Galindo ging das städtische Milieu mit Ehrlichkeit an und klagte in ESPALDAS MOJADAS (Nasse Rücken) die demographischen Zustände an, deretwegen soviele in die Vereinigten Staaten emigrierten.

Der beste Film von Roberto Galvadón, des führenden Regisseurs des sogenannten ,Qualitätsfilms', ist sein erster nach dem Buch "La Barraca" (1944) von Blasco Ibánez. Seither hat er weder persönliche noch mutige Filme produziert. Er ist ein ernsthafter Mann, ohne Sinn für Humor, Könner auf seinem Gebiet, geschickt und ein guter Techniker. Er ist weniger originell als einige populäre Regisseure wie Juan Orol und Ismael Rodríguez, die, wenn sie Filme machten, zumindest wussten, wie sie beliebte Themen angehen mussten. (Später entdeckte Rodríguez den ,Kunstfilm', dem er sich mit einem Feuer widmete, das allerdings ohne Wirkung blieb.)

Glücklicherweise können wir von einem grossen Filmschöpfer sprechen, der Licht und Prestige nach Mexiko brachte: Luis Buñuel. Er hatte UN CHIEN ANDALOU und L' AGE D' OR gedreht, bevor er 1946 nach Mexiko kam. Nachdem er zwei Kassenfüller gedreht hatte, schuf er LOS OLVIDADOS, einen der grossen Filme der Filmgeschichte. Buñuels Genius gab uns viele Arbeiten, die fundamental für den mexikanischen Film sind: SUBIDA AL CIELO (1951), EL (1952), ENSAYO DE UN CRIMEN (1955), NAZARIN (1958), und EL ANGEL EXTERMINADOR (1962). In Spanien drehte Buñuel eines seiner bedeutendsten Werke, VIRIDIANA (1960). Der Film wurde von dem Mexikaner Gustavo Alatriste produziert. Buñuel vermittelt uns seine Sicht vom Menschen, greift streng die Heuchelei an, zieht etablierte Werte in Zweifel und schlägt eine Rückkehr zu der ,amour fou' der Surrealisten vor. Seine Moral - wie alle grossen Regisseure ist Buñuel Moralist - weigert sich, traditionelle und konformistische Moralauffassungen zu unterstützen, und kämpft für die Befreiung von geistiger Unterdrückung. Jedes seiner Werke ist ein Protest, eine Kritik, die Entwicklung der Probleme menschlichen Verhaltens, wie in seinem Film SIMEON DEL DESIERTO (1966). Hier behandelt er die grossen Themen der Askese und des Eremitentums in Tonalitäten, die eines Bosch oder Brueghel würdig sind.

Eine unabhängige Filmindustrie existiert in unserem Land praktisch überhaupt nicht. Dennoch hat eine Gruppe um Manuel Barbachano und Carlos Velo zwei Filme hergestellt. Der erste, RAICES (Wurzeln, 1953), der den Beginn einer erneuernden Bewegung anzeigen sollte, wurde von Benito Alazraki gedreht; der zweite, TORERO (1956) stammte von Carlos Velo. Dieser Film, eine Montagestudie über das Leben des Matadors Luis Procuna, ist einer der besten Filme über den Stierkampf überhaupt. 1958 drehte der Holländer Giovani Koporaal in Mexiko EL BRAZO FUERTE (Der starke Arm), ein Werk von kühner Kritik am Geschäftsleben und an dem Aussatz, mit dem die politische Macht unseres Landes behaftet ist; als Film ist diese Arbeit allerdings zwiespältig. Sergio Véjar, ein früherer Kameramann, drehte 1961 als Produzent VOLANTIN (Der Irrende), ein Porträt des Lebens der städtischen Unterklasse. Trotz schlechter Stellen ist der Film ein bemerkenswerter Versuch, sich von den Schablonen des kommerziellen Films zu lösen. Andere junge Leute haben versucht, die allgemeine Richtung unserer Filmindustrie durch Kurzfilme oder 16 mm-Filme zu ändern. Es sind dies Versuche, die mehr oder weniger erfolgreich sein können, aber isoliert im Treibsand des kommerziellen Films stehen.

Zur Zeit, Ende 1964, werden einige Filme für eine von der Sección de Técnicos y Manuales del STPC organisierte Ausstellung experimenteller Filme gedreht. Die Anmeldung von mehr als dreissig Gruppen ist ein günstiges Zeichen und gibt in mancher Hinsicht Anlass zur Hoffnung auf eine Erneuerung unserer Filmindustrie. Hier könnte sich ein Kern von Regisseuren, Autoren, Technikern und Schauspielern mit Enthusiasmus, neuen Ideen und neuem Blut bilden. Die Hoffnungen all derer, die sich bessere Filme wünschen, ruhen zum grossen Teil auf den Teilnehmern dieses Wettbewerbs.

Vieles wurde ausgelassen in diesem kurzen Abriss der Geschichte des mexikanischen Films. Ich habe auf jeglichen Kommentar und auf ausführliche Inhaltsangaben verzichtet, um einen generellen Überblick über die Filme zu geben, die noch am ehesten erwähnenswert sind. Aber was repräsentiert wirklich den mexikanischen Film?

Bedauerlicherweise konzentrieren sich unsere Filme auf Themen, die niemals die soziale oder psychologische Situation des Landes wiedergeben können. Sie werden in Verpackungen produziert, die blendend mit bestimmten Schemata und Einflüssen harmonieren. Zum Beispiel: sehnsuchterfüllte Komödien über die ,belle époque' der Diktatur Diaz; folkloristische Komödien; Melodramen über Sitten und Gebräuche; die ,charros' (Tölpel vom Lande) in all ihren Erscheinungsformen, in jeder Gattung, mit allen würzenden Zutaten; rührselige Geschichten, die entfernt von der Historie und von Biografien grosser Männer inspiriert sind; Filme über die heilige Jungfrau von Guadalupe; tränenreiche Geschichten über Armut, Jungfräulichkeit und Einsamkeit; entzückende Grossmütterchen, Frauen aus den Slums, reine Mädchen inmitten von Korruption und tropischer Musik; Vampire; männliche und weibliche Ringkämpfer; Gangster und Mumien zu einem Salat verrührt; kämpfende Menschlichkeit; rock and roll-Sänger; Nachahmer der fremden Balladensänger; Rebellen mit und ohne Grund; Coproduktionen von ,charros' und Zigeunern.

Zwanzig Jahre lang paradierten dieselben Gesichter, dieselben Gestalten vor dem Zuschauer. Bisweilen erschienen berühmte Stierkämpfer wie Lorenzo Garza, Juan Silveti und Pepe Ortiz oder Boxer wie Kid Azteca, Raúl Talán und Raúl Macías in Filmen. Das Auftreten solcher Berühmtheiten ist kurzlebig und hinterlässt keine Spuren; es geht nur darum, ihre vorübergehende Popularität am besten auszunutzen. Karibische Tänzerinnen und Stripteaseusen hatten da schon mehr Einfluss: Rosita Fornés, María Antonieta Pons, Ninón Sevilla, Brenda Conde, Rosa Carmina und Mary Esquivel. Für die inzwischen abgetretenen beliebten ,charro'-Stars Jorge Negrete und Pedro Infante hat man bislang keinen Ersatz gefunden.

Wenn wir plötzlich fähig wären, die Gesamtheit der mexikanischen Filmproduktion in einer einzigen Collage mit ihren Figuren, in einer Montage all seiner charakteristischen Momente zusammenzufassen, wäre das Ergebnis gleichermassen lächerlich und grotesk; wir würden vor Schreck auflachen, wenn wir uns in diesen Filmen widergespiegelt sähen, in denen Halbwahrheiten und Fälschungen systematisch den Ton angeben. Aber zwischen diesen grotesken Schatten tauchen doch hin und wieder einige Lichtblicke mit einem matten Schimmer von Glaubwürdigkeit und innerem Zusammenhang auf. Die für den mexikanischen Film Verantwortlichen haben ein Publikum geformt, dessen Hirne sie mit ihren Produkten während dreier Generationen von Konsumenten aufgeweicht haben. Genau aus diesem Grund, so merken wir, wenn wir tief genug blicken, überlebt das Kino, weil es etwas von dem Bild wiedergibt, das die Allgemeinheit von sich selbst zu sehen erwartet; ihre Probleme, ihr Leben, ihre Lächerlichkeit, ihren schamhaften Erotizismus, ihren Kult der Grosszügigkeit, ihre Männlichkeit, ihre Fehler, ihre höchst subtilen unfreiwilligen Tugenden.

Bis wir einen leidenschaftslosen Soziologen finden, der unseren Film ausführlich studiert, um das Gerüst sentimentaler und ideologischer Kräfte aufzudecken, die diesen Film formen, wollen wir uns vorerst nur mit den wirtschaftlichen Angelpunkten seiner Existenz befassen, den öffentlichen sowohl als den privaten.

1938 gab es in Mexiko 830 Kinos, und 66 Millionen Zuschauer suchten sie jährlich auf. 1958, zwanzig Jahre später, gab es 2.465 Kinos mit 365 Millionen Besuchern. Die Kapazität der Vorführmöglichkeiten stieg um 300 Prozent, die der Zuschauer um 500 Prozent, das übrige Lateinamerika nicht eingerechnet. In einer gesunden Wirtschaft wäre es möglich gewesen, Werke von grossem Ausmass anzugehen, um eine neue Filmwirtschaft ausserhalb des Bereichs des kommerziellen Films aufzubauen und um neue Techniker, Autoren und Regisseure zu fördern. Da aber die Gier der Produzenten nach Profit jede Erneuerung im Keim erstickte, ist es ebenfalls klar, dass Regisseure und Autoren nie Freiheit des Ausdrucks forderten, sondern es vorzogen, Angestellte der Produzenten zu sein statt Gestalter; demütig passten sie sich an.

Die Filmindustrie unseres Landes basiert auf dem Monopol. Sie ruht auf vier Hauptsäulen: Produktion und Finanzierung, Verleih, Vorführung, Personal. Der Staat interveniert durch zwei Institutionen: die Banco Nacional Cinematográfico (nationale Filmbank) und die Dirección General de Cinematografia (allgemeine Filmverwaltung), die eine politische und moralische Zensur ausübt Drehbücher und Projekte durchlaufen eine Zensur, bevor sie verwirklicht werden können; fertiggestellte Filme müssen ebenfalls die Zustimmung dieser Behörde erhalten. Ein anderer Aspekt der Intervention des Staates liegt in der Kontrolle über die Theaterketten, die vor etwa zwei Jahren von der Regierung erworben wurden, und in ihrem entscheidenden Einfluss auf die Verleihfirmen.

Das bedeutet, dass die Struktur der mexikanischen Filmindustrie durchaus Möglichkeiten für eine organische und gut geplante Entwicklung bietet. Vielleicht gibt es keine im Prinzip bessere Organisation - zumindest in den Filmindustrien der spanisch sprechenden Länder. Das Verhängnisvolle ist die Art, in der diese Maschinerie funktioniert, nämlich wie eine Art Pumpe, die das Geld herauszieht zum Vorteil einer begrenzten Gruppe von Privilegierten, die ihr Glück machten, als sie durch staatliche Institutionen vor Risiken geschützt waren. Die Hilfe der Banco Nacional Cinematográfico, die Vorteile eines zentralisierten Verleihwesens, der Nutzen eines staatlichen Monopols auf die Filmtheater, das alles wird von den Produzenten nicht etwa dazu genutzt, das Filmwesen zu verbessern oder ein Publikum zu formen, sondern dazu, ihr eigenes Kapital zu vergrössern und den Geschmack und das Urteilsvermögen ihres Publikums zu korrumpieren.

Die Banco Nacional Cinematográfico wurde durch ein Dekret des Präsidenten Alemán 1951 geschaffen, um "die Produktionen von Filmen gehobener Qualität und nationalen Interesses durch Barkredite und die Organisation von Filmtheatern zu fördern". Kredit wird gewährt von einer Comisión de Adelantos (Kreditkommission), die aus den Chefs der Verleihfirmen und zwei Vertretern des Staates gebildet wird. Das heisst, von denselben Produzenten, da die drei offiziellen Verleihfirmen - Películas Nacionales, Películas Mexicanas und CIMEX - Schöpfungen der Produzenten sind, die sich vereinigt haben, um die Handhabung ihrer Filme zu vereinheitlichen. Das Kriterium für die Bewilligung einer Beihilfe ist in der Praxis weder die Qualität noch das nationale Interesse, sondern der kommerzielle Wert eines Films, der nach seinem Drehbuch, seinen Stars, seinem Regisseur und, natürlich, nach dem Einfluss seines Produzenten gemessen wird.

Wenn ein unabhängiger Produzent, der nicht mit den Verleihfirmen in Verbindung steht, einen Film zu machen versucht, muss er das ohne Finanzierung, Verleih oder Unterstützung seitens der offiziellen Institutionen tun. Das bedeutet, dass er praktisch dazu verurteilt ist, seinen Film zuhause zu lagern, ohne jede Möglichkeit, ihn zu verleihen oder vorzuführen, es sei denn, es gelänge ihm, eine nordamerikanische Firma, die in Mexiko vertreten ist, für seinen Film zu interessieren. Wenn auf der anderen Seite ein Produzent, der ein Mitglied dieser Institution ist, einen Kreditantrag stellt, ist sein Budget derart aufgebläht, dass er, wenn sein Antrag bewilligt wird, durch die übertriebene Veranschlagung seiner Unkosten sein Geld bereits gemacht hat.

Die entscheidenden Faktoren für die Kreditbewilligung der Banco Nacional Cinematográfico sind der Einfluss und das Verhandlungsgeschick des Produzenten. Auf diese Weise haben schon viele Geschäftsleute ihr Glück gemacht, ohne auch nur einen Pfennig ihres eigenen Kapitals zu riskieren. Sie finanzieren sich nicht selbst, da sie ihre Gewinne nicht wieder in das Filmgeschäft stecken; die bringen sie in weniger riskanten Geschäftszweigen unter. Die Bank ist diejenige, die das Risiko trägt, aber die Produzenten sammeln übermässige Reichtümer an. Während der Krise von 1954 bis 1958 - um einen festumrissenen Zeitabschnitt zu nennen - hatte der mexikanische Filmverleih Películas Nacionales, der mit einem Startkapital von 700.000 Pesos gegründet worden war, sein Kapital auf 12.000.000 Pesos erhöht; Películas Mexicanas, der Verleih für Südamerika, die Antillen und die iberische Halbinsel, konnte sein Kapital von 4.000.000 Pesos auf 16.000.000 Pesos erhöhen, und das Kapital der CIMEX, die den Filmvertrieb in die Vereinigten Staaten, nach Kanada, Europa und in die übrige Welt handhabt, wuchs von 1.000.000 auf 4.000.000 Pesos.

Die STPC (Gewerkschaft der in der Filmindustrie Beschäftigten) hat die Startbedingungen für neue Techniker und Regisseure zwar theoretisch erleichtert, aber weder der Produzent noch die Bank sind gewillt, für einen Anfänger grosse Risiken auf sich zu nehmen. Die Mehrheit der Filme wird in zwei bis drei Wochen hergestellt; die ganz anspruchsvollen in einem Zeitraum von vier bis fünf Wochen. Für diese üblichen Produktionen gibt es bereits viele kompetente Regisseure, die in Übereinstimmung mit dem Geschmack der Produzenten filmen, ohne persönliche Ambitionen zu haben. Es gibt sogar Regisseure mit Prestige, die besonders flink und leistungsfähig bei dieser Art von Filmen sind. Die Techniker - Dekorateure, Kameramänner - können nur durch lange Zugehörigkeit aufsteigen; das bedeutet, sie haben zu warten, bis die Alten verschwinden. Und da in unserer Zeit die Lebenserwartung immer länger wird _...

Obwohl die grossen Schauspieler und Schauspielerinnen tot oder zu alt sind, ist es schwierig, neue Stars zu lancieren. Junge Darsteller haben keine Gelegenheit, sich Erfahrung und Reife anzueignen. Stattdessen fallen sie durch die jeweils modernen Serienfilme in Stereotypen. Es gibt keine neuen interessanten Gesichter, nur attraktive Banalitäten, die für kurze Zeit hochkommen und dann - das gilt für die Frauen - heiraten oder anderweitigen Beschäftigungen nachgehen.

Die wenigen Produzenten, die die Verleihfirmen kontrollieren, belegen die besten Starttermine und die besten Theater. Die Spitzenpreise - 4 Pesos oder etwa 1,50 DM - in Uraufführungstheatern, das Fehlen einer Vergnügungssteuer, die Fonds zur Filmhilfe zugute kommen könnte, die Langsamkeit, mit der die Filme infolge der Machtlosigkeit der Verleiher umlaufen, sowie die Konkurrenz des nordamerikanischen Films sind einige der wichtigsten Faktoren, die heute das rasche Einspielen der Investitionen hemmen. Die miserable Qualität des mexikanischen Films und die Konkurrenz der nordamerikanischen und europäischen Filme haben die spanischsprachigen Märkte zum unvermeidlichen Zusammenbruch gebracht.

Ein weiteres Problem ist die Zensur, die von der nach offiziellen Kriterien handelnden Dirección General de Cinematografia ausgeübt wird. Die Banca Nacional Cinematográfico würde keinem auch nur einen Pfennig geben, dessen Projekt nicht die Zustimmung der Zensur erlangt hätte. Die Zensur beeinflusst alle Filme, einheimische wie ausländische, die in Mexiko gezeigt werden sollen. Daher sind wir verurteilt, Filme fast immer verstümmelt zu sehen oder, wenn man glaubt, sie würden die Moral oder das Prestige irgendeines Landes angreifen, überhaupt nicht. Unsere Zensoren verteidigen das Prestige Nordamerikas selbst dann noch, wenn es von Hollywood angezweifelt wird. So würde Kubricks "Dr. Seltsam" in Mexiko nicht gezeigt werden, weil er ein Angriff auf die amerikanischen Militärs ist und deren Generäle lächerlich macht. Und so geht es allen anderen Filmen, die Ideen ausdrücken, die nicht mit den Vorstellungen der Zensoren übereinstimmen, sei es auf sexuellem, moralischem, politischem oder sozialem Gebiet.

Andere Formen oder Manifestationen der Indifferenz gegenüber einer Filmkultur in Mexiko: bis vor kurzem hat niemand ernsthaft daran gedacht, eine Filmbibliothek in Mexiko zu gründen, heute werden drei gebaut, die vielversprechendste von der Universität, die zweite von einer Stiftung, die dritte von einer anderen Gruppe. Mexiko ist eines der wenigen Länder mit einer Tageszeitung, die sich lediglich den Frivolitäten der Filmwirtschaft widmet, und es ist ebenso eines der wenigen, in denen es keine ernsthafte und systematische Kritik in den Tageszeitungen gibt. Nur in vier Wochenblättern in Mexiko-City gibt es eine Kritik, die konsequent und fähig ist, eine Orientierung zu geben. Täglich erscheinen mehr Illustrierte mit Klatschspalten und Pin-Up-Fotos, aber es gibt keine ernsthafte Zeitschrift, die sich mit den sozialen, ästhetischen oder wirtschaftlichen Problemen des mexikanischen oder internationalen Films beschäftigt. Diejenigen, die erschienen, haben in unregelmässigen Abständen fünf Ausgaben herausgebracht und sind dann wieder verschwunden. Die Universität von Mexiko gibt eine Buchserie über Filme heraus (2000 Exemplare), die nur einen Bruchteil der Bevölkerung erreicht. Es gibt eine grosse, aber unzusammenhängende Bewegung von Filmclubs, die hauptsächlich von Studenten besucht werden; sie existieren aber wegen der Schwierigkeit, an Filme heranzukommen, nur mühsam.

So hat der mexikanische Film im Verlauf seiner Geschichte nur wenige wichtige Werke hervorgebracht. Eine begrenzte Gruppe ignoranter Geschäftsleute, gieriger, profitsüchtiger Opportunisten, hat die Herrschaft über das wunderbarste Kommunikationsmittel unserer Zeit ausgeübt. Sie haben zu ihrem eigenen Vorteil eine ausgezeichnet organisierte Industrie manipuliert, die durchaus fähig gewesen wäre, wenn nicht grosse, so doch gute Filme zu produzieren.       Manuel Michel

(Der Nachdruck des Artikels aus Film Quarterly, vol. XVI11, No. 4, Sommer 1965, erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Autors. Übersetzung: Wolfram Tichy.)
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Kontinuität im deutschen Film (Nachtrag zu Filmstudio Heft 50 [dorthin übernommen])


Mollymauk, der Wunderknabe

LORD LOVE A DUCK, USA 1966. Produktion: Charleston Enterprises; Regie: George Axelrod; Buch: Larry H. Johnson, George Axelrod, nach einem Roman von Al Hine; Kamera: Daniel L. Fapp; Musik: Neal Hefti; Darsteller: Roddy McDowall, Tuesday Weld, Lola Albright, Martin West. Verleih: United Artists

Am Anfang steht die von Mollymauk phantasievoll arrangierte Bekanntschaft mit Barbara, der süssen, blonden, "etwas behämmerten Barbara", die am nächsten Tag in dasselbe eben gegründete Gemeinschaftscollege eintreten wird wie er. Barbara ist naiv, eigensinnig und arm und hat einen Katalog von Wünschen, deren Erfüllung sie für die unabdingbare Basis ihres Glücks hält: ihre Beliebtheit im College, ihre Aufnahme in den College-Club, wozu man ein Dutzend Shetland-Pullover benötigt, eine Vergnügungsreise, ein respektabler reicher Mann und schliesslich die Filmkarriere, die nur über die Leiche des etwas prüden frischangetrauten Ehemannes möglich wird. Nicht ein Wunsch, den Mollymauk unerfüllt liesse. Barbara klettert kontinuierlich die Erfolgsleiter aufwärts, sie wird ein Star, der genau aussieht wie Marilyn Monroe, und die düpierte Umwelt zeigt sich gegen Mollymauk obendrein dankbar.
Ein amerikanisches Märchen also, bei dem es indessen weniger auf das Ob als auf das Wie ankommt. Mollymauks Methode ist einfach. Er hat über die Gesellschaft nachgedacht und die sie bestimmenden Faktoren erkannt. Es handelt sich, sagt er, um eine reine Konsumgesellschaft, die in Werbesprüchen denkt, deren Kategorien zu ihren eigenen gemacht und sich bis zu dem Punkt entwickelt hat, wo menschliche Beziehungen Objektcharakter angenommen haben. Der Kurswert des menschlichen Objekts wird bestimmt durch die Geschicklichkeit, mit der es sich ein Image zu schaffen imstande ist. Die Mittel: keepsmiling, Sex, religiöse Heuchelei, ererbter Reichtum. Der übersteigerte Glaube an irgendwelche Wundermittel bildet den psychologischen Ausgleich, dessen die Teilnehmer an diesem inhumanen Kampf nach den Gesetzen des catch-as-can bedürfen. Nach dieser Erkenntnis ist die Manipulation seiner Mitmenschen für Mollymauk ein Kinderspiel. Er stellt Formeln auf, bei denen die Reaktionen ebenso berechenbar sind wie in der Chemie, und bezeichnet das als "moderne Mathematik". Im richtigen Moment wählt er sich dann in Barbara ein ideal geeignetes Versuchskaninchen, um die Richtigkeit seiner Überlegungen im Experiment zu überprüfen. Und es funktioniert.
Der Mann, der mit dieser Satire auf den american way of life debütierte, ist kein Aussenstehender der Filmbranche, sondern kommt direkt aus den Reihen der amerikanischen Traumfabrik. Er hat als Szenarist gearbeitet (bezeichnenderweise bei Wilder und Quine - "Wie bringt man seine Frau um"), konnte seiner bisherigen Laufbahn nach durchaus als ,zuverlässig' gelten und entpuppt sich nun unversehens als ein Geist des Zauberlehrlings, fungiert gewissermassen als nationaler Nestbeschmutzer, indem er einen Film von kritischer Schärfe dreht, wie Hollywood sie widerstrebend einem Wilder oder Tashlin konzediert, nicht aber einem Anfänger. Die Leistung, diesen Film den alten Hasen von der Produktion untergeschoben zu haben, verdient Erstaunen und Bewunderung.
Die Feststellung, dass George Axelrods Film nicht perfekt ist, sondern sehr deutliche Schwächen aufweist, ändert daran nichts. Der erste Einwand überwiegend formaler Art richtet sich gegen etwas, das darauf hindeutet, dass Axelrod schliesslich doch noch von der Routine des Apparates überrollt worden ist; viele Sequenzen seines Films, die offensichtlich als Parodien von Passagen berühmter Vorbilder intendiert sind, gerieten zur Imitation und verloren damit an Originalität. Was man nur andeutungsweise ahnen sollte, ist leider nahezu reproduziert. Stanley Kramer ("Eine total verrückte Welt"), Tashlin (das in seine Einzelteile verfallende Auto), Lester, vor allem aber Richardson mit "Tod in Hollywood" (die Joghurt essende Mutter, das Picknick von Vater und Tochter im Auto) stehen oft etwas zu penetrant Pate. Um diese Vorbilder zu parodieren, sagte sich Axelrod mit Recht, dass er sie übersteigern müsse. In seiner Karikatur wird aber die Übertreibung häufig zum Selbstzweck, die Gags jagen einander, überschlagen sich und laufen sich nach kurzer Zeit tot. Hinzu kommt, dass Axelrod - ähnlich wie Ulrich Schamoni bei "Es" - noch der längere Atem fehlt. Gag ist in Gag verhakt, Sketch in Sketch; derweil stumpft der Zuschauer ab und lässt sich ermüdet die krönenden Pointen entgehen. Nur wenige wirklich gelungene Augenblicke stehen dem gegenüber, sie allerdings - der Pulloverkauf, der in enthemmendem Wühlen endet, oder die Strandparty beispielsweise - lassen vermuten, wessen Axelrod fähig ist. Jedenfalls muss er die Gefahren des technisch allzu Perfekten für seinen Film gesehen haben. Im Bemühen, die glatte Oberfläche zu durchbrechen, lässt er hin und wieder für Sekunden das Aufnahmemikrofon ins Bild hängen, versucht dem Zuschauer zu zeigen, dass hier Film gemacht wird, aber auch diese ,Störungen' sind wieder so konstruiert ausgefallen, dass sie im Gegenteil gekünstelt und steril wirken, darüberhinaus aufgesetzt und somit als ungewollter Stilbruch.
Die ganze höchst turbulente Geschichte ist eigentlich eine Rückblende, ist Mollymauks auf Tonband festgehaltene und ins Optische übersetzte Beichte aus der psychiatrischen Klinik, wo man sich herauszufinden bemüht, was ihn zu seinen diversen Morden veranlasste. Die wahre Antwort gibt Mollymauk beiläufig selbst, noch bevor er ans Werk geht: manche Leute könne man nicht überzeugen und müsse sie deshalb unschädlich machen. Aber der Warnruf wird ebensowenig gehört wie man ihn in der Klinik als den Schlüssel zur Lösung identifiziert, sondern sich der von Mollymauk angebotenen Diagnose anschliesst, nach der er es "aus Liebe" tat. Das klingt für die Ohren einer nach dem Motto ,seid nett zueinander' lebenden Gesellschaft nicht nur plausibler, sondern vor allem weniger beunruhigend. Die Konfrontation mit einem Geist faschistischer Prägung, wie er sich in dem Ausspruch zu erkennen gibt, würde die harmlos-freundlichen Psychiater vor unlösbare Probleme stellen, denen sie instinktiv aus dem Wege gehen.
Trotz Mollymauks zum leichten Befremden seiner Mitmenschen wiederholt geäusserter Maxime, dass ein kranker Geist es in einem gesunden Körper auch ganz schön sei, besteht zunächst kein Grund, an seiner Normalität zu zweifeln; Mollymauk wirkt im Gegenteil wie der einzige Vernünftige in einer Welt von Irren. Gewiss ist er in mancher Hinsicht ein Eigenbrötler, der jedoch seine Besonderheiten nicht nur kennt, sondern sogar kultiviert. Zur Markierung seiner Originalität legt er sich den Namen eines ausgestorbenen Eiszeitvogels zu, den er wegen des Symbolgehaltes seinem bürgerlichen Taufnamen Alan vorzieht. Abgesehen von dieser geringfügigen Exzentrizität, die ihm in den Augen seiner Mitmenschen einen leichten Snob-Appeal verleiht, benimmt Mollymauk sich zunächst allerdings nicht ungewöhnlich. Indem er seine Formeln über menschliches Verhalten aufstellt und mit ihnen experimentiert, stellt er in pervertierter Weise gewissermassen den von der Sache begeisterten jungen Forschertyp dar, wie ihn Amerika schon in den Schulen fördert. Allseitige Bewunderung und Achtung ist ihm garantiert. Aber dann begeht er den entscheidenden Fehler: im Vollgefühl seiner Macht glaubt er auf den Intellekt verzichten zu können und wird vom Rausch erfasst. Er handelt selbst, statt sich wie bisher mit der Theorie zu begnügen. Das bricht ihm das Genick, denn wohl ist Mollymauk im distanzierten Entwerfen einzig, an roher Gewalt jedoch übertreffen ihn die meisten. Die Gesellschaft lässt sich nur durch Kalkül beherrschen.
Hier ist der zweite Einwand, diesmal allerdings inhaltlicher Art, zu machen. Dass Axelrod seine Personen als manipulierbar darstellt, die Mollymauks Formeln wie Marionetten gehorchen, ist das gute Recht seiner Satire. Indem er aber zeitweise offensichtlich selbst an diese totale Manipulierbarkeit glaubt, macht er es sich entschieden zu einfach. Der Gestus verrät ihn. In zunehmendem Masse muss der Humor einer etwas naiven Verbitterung weichen; was als ironisches Märchen begann, tendiert später zum platt vorgetragenen Realismus.
Der Reiz des Films liegt in seiner Konstruktion, die die einzelnen Szenen oft erst im Nachhinein in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit erschliesst und immer neue Möglichkeiten neuer Deutungen eröffnet. Mollymauk als Intellektueller, dem das Handeln nicht bekam, Mollymauk als die Verkörperung des die Gesellschaft bestimmenden Prinzips, das schliesslich zu deren Selbstvernichtung führt. Wie immer man auch aufschlüsselt, das Ergebnis ist allemal die in eine komplizierte Form gefasste bissige Kritik eines Moralisten.       Barbara Bernauer

Schonzeit für Füchse

Schonzeit für Füchse, Deutschland 1966. Produktion: Peter Scbamoni-Filmproduktion, München; Regie: Peter Schamoni; Kamera: Jost Vacano; Musik: Hans Posegga; Darsteller: Helmut Förnbacher, Andrea Jonasson, Monika Peitsch, Edda Seippel, Christian Doermer, Willy Birgel u. a. Verleih: Atlas.

Dieses war der dritte Streich. "Schonzeit für Füchse", Peter Schamonis Spielfilm-Regiedebut, fand zwar ein etwas zwiespältigeres Echo als vorher "Es" und "Der junge Törless", aber im ganzen blieb die Bilanz positiv. Es gab bei der Kritik Verrisse - darunter auch bösartig-unsinnige wie die von Uwe Nettelbeck, der Schamoni "schmutzige" Gesinnung vorwarf - aber auch überwältigendes Lob. Es gab nur zwei Bundesfilmpreise - für die "beste Nebendarstellerin" Edda Seippel und den Komponisten Hans Posegga, - aber den Silbernen Bären als Sonderpreis der Berlinale. Und es gab, wenn ich recht unterrichtet bin, respektable Besucherzahlen in den Kinos.
"Schonzeit für Füchse" beschreibt, ähnlich wie "Es" oder "Der junge Törless", den Zustand junger Menschen. Schlöndorff, im "Törless", entlehnte diese jungen Menschen der literarischen Welt Robert Musils. Peter Schamoni sucht sie, ähnlich wie sein jüngerer Bruder Ulrich, in der Gegenwart, und dennoch schildern beide Filme zwei verschiedene Generationen. Die wenigen Jahre, die die beiden Brüder trennen, umfassen in Wirklichkeit gegensätzliche Positionen. In beiden Filmen gibt es eine Szene, in der der Protagonist einen Blumenladen aufsucht, um für seine Freundin ein Geschenk zu erstehen. Der alerte Jüngling in "Es" bringt die Verkäuferin im Handumdrehen dazu, ihm einen alten Strauss umzutauschen. Der junge Mann in "Schonzeit" geht missmutig wieder, aus dem Laden, weil er nicht sofort bedient wird. Beide Szenen sind vielleicht beiläufig entstanden, dennoch sind sie charakteristisch. "Es" ist ein ,aktiver'. "Schonzeit für Füchse" ein ,passiver' Film. Die Menschen in "Es" handeln. In "Schonzeit für Füchse" reagieren sie. Das führt freilich auch dazu, dass es in "Schonzeit für Füchse" keine dramatisch sich steigernde Handlung gibt, sondern im Grunde nur die Beschreibungen zweier junger Menschen. Der Film folgt darin fast akribisch seiner literarischen Vorlage, dem Roman "Das Gatter" von Günter Seuren. Aber leider werden handlungsarme Filme gelegentlich auch schlicht langweilig. Ich fürchte, "Schonzeit für Füchse" erliegt ein paarmal dieser Gefahr.
Seuren hat den Film autobiographisch geprägt. Wie sein namenloser Held stammt Seuren vom Niederrhein, wie er war er als Journalist in Düsseldorf tätig, wie er suchte er dort die Verleihbüros der grossen Filmfirmen auf, um Fotomaterial für seine Artikel zu erhalten. In einem solchen Büro - untersagen wir uns jetzt weitere autobiographische Mutmassungen - beginnt der Film. Der junge Mann lernt dort die Verleihsekretärin Clara kennen; nach kurzer Zeit haben beide miteinander ein, wie man so schön sagt, ,festes Verhältnis'unter den Augen der penetrant kleinbürgerlichen Mutter. Das würde in kurzer Zeit zur Ehe führen, wenn der junge Mann nicht grundsätzlich aufsässig und mürrisch gegenüber jeder Art von bürgerlicher Konvention wäre. Er und sein Jugendfreund Viktor, Sohn eines reichen Industriellen, sind geradezu besessen in der störrischen Ablehnung der Väter. Sie weisen alle Annäherungs- und Verständigungsversuche zurück, sie provozieren Auseinandersetzungen, wo sie nur einen Anlass finden können, und bleiben doch während des ganzen Films unfähig, ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen auch nur im Ansatz zu formulieren. Sie sind mürrisch, sie bleiben mürrisch, und sie tun nichts anderes, als mürrisch zu sein. Das ist bewunderswert konsequent gedacht und wird bewundernswert konsequent demonstriert, auch wenn es deprimierend wirkt. Insofern reflektiert der Film bestürzend genau die Situation jener jüngeren linken Intellektuellen, die allenfalls wissen, was sie nicht wollen.
Dabei ist es nicht einmal das schlimmste, dass die jungen Menschen nur maulen und murren, einzeln und zusammen, bei ihren gegenwärtigen und früheren Freundinnen, bei ihren Vätern und Schwiegermüttern, in Restaurants und Bars, im Auto und im Bett, vor, während und nach der Jagd. Das schlimmste ist, dass sie nicht einmal diese Position werden halten können. Die Füchse haben nur "Schonzeit", sie werden bald genug im "Gatter" landen. Die Gesellschaft, die sie so verabscheuen, wird sie sich unterwerfen - und es besteht wenig Hoffnung, Viktor und sein Freund könnten, in die Jahre gekommen, minder restaurativ gesinnt sein als der Vater und der Onkel, die beide die Unter- und die Oberklasse des Besitzbürgertums repräsentieren, der eine mit der eigenen Jagd, der andere mit immerhin achtzehn Bienenstöcken.
Peter Schamoni hat sich, wie er sagt, mit dem Seuren'schen Buch "identifiziert". Grundsätzlich liegt hier der seltene Fall einer glücklichen Zusammenarbeit und eines tiefgehenden Einverständnisses zwischen Regisseur und Drehbuchautor vor. Das Ergebnis ist, wenn man will, ein Paradoxon, nämlich ein eminent moderner literarischer Film, erzählt mit realistischen, dokumentarischen, ja konventionellen Mitteln. Der Verzicht auf die klassische Handlungsdramaturgie zugunsten einer fast an einem beliebigen Punkt beginnenden und an einem beliebigen Punkt endenden Beschreibung ist ein Kennzeichen der modernen Literatur, vor allem des Romans - insofern ist "Schonzeit für Füchse" moderner, unkonventioneller und literarischer selbst als "Törless". Die filmische Auflösung dagegen ist bewusst konventionell: lange Sequenzen, ruhige Kameraführung, lange Fahrten und Einstellungen. Heidi Rente, deren virtuosen Montagen der Film "Es" soviel verdankt, hat diesmal nur ihr gutes handwerkliches Können zu zeigen brauchen. Die Kamera leistet Besonderes nur bei den auf Schloss Hugenpoth am Hubertustag gedrehten Jagdszenen, in denen sich zugleich das Geschick des Dokumentarfilmregisseurs Schamoni verrät. Auf ausserordentlich intelligente Weise aber haben Schamoni und Vacano eines der Hauptprobleme des Films gelöst: der Hauptdarsteller erscheint, wie vom Drehbuch vorgeschrieben, praktisch in jeder Szene im Bild, ohne dass dies störend bemerkbar wird.
In einem Punkt hat Peter Schamoni Seurens literarische Leistung zu sehr respektiert. Seuren schreibt stellenweise einen fürchterlich geschraubten Dialog. Die junge Monika Peitsch beispielsweise muss, in der Rolle der früheren Freundin, eine Lebensweisheit wie "Du bist ein bisschen negativ geworden" bedeutungsschwer von sich geben. Es spricht für Peter Schamonis Regiebegabung, dass er auch seine jungen Schauspieler im ganzen über diese Klippen hinwegführt. Zwei Schauspielern, Edda Seippel als Mutter und Willy Birgel als Jagdgast, entlockt er sogar wahre Glanzleistungen. Und hier beginnt eine merkwürdige Beobachtung.
Willy Birgels Rolle nämlich ist in dem Roman "Das Gatter" nicht enthalten. Sie ist für den Film - und für Birgel - eingefügt worden, aber gerade Birgels Auftritt beim Vorlesen einer kitschigen Jagdgeschichte (aus Seurens Feder) macht schärfer als jede andere Szene des Films den Geist der Restauration deutlich, gegen den die Jungen aufbegehren oder aufbegehren möchten. In dieser Szene, in der Birgel gleichsam sich selber spielt, wird ihre Ablehnung und ihre mürrische Reaktion verständlich, ja erwünscht. Hier endlich vollzieht sich so etwas wie eine bewusste Auseinandersetzung der Generationen, hier endlich wird vom Unbehagen nicht nur geredet, hier wird es greifbar und sichtbar. Hier endlich ist "Schonzeit für Füchse" nicht mehr Verfilmung eines Romans von Günter Seuren, sondern ein Film von Peter Schamoni.       Walther Schmieding

Noch einmal: Der junge Törless
(Besprechung s. Heft 50 )

Musils Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" erregte 1906 bei seinem Erscheinen die Öffentlichkeit durch seine ungewöhnliche, psychologisch genaue Schilderung von Pubertätsnöten und homoerotischen Beziehungen in einem K und K-Internat für gutgestellte Bürgersöhne und junge Adlige. Die flüchtige Beziehung zwischen dem haltlosen Basini und dem jungen, sich selbst suchenden Törless bezeichnete Musil als
jene kleine Menge Giftes, die nötig ist, um der Seele die allzu sichere und beruhigte Gesundheit zu nehmen und ihr dafür eine feinere, zugeschärfte, verstehende zu geben.
Musils Erstlingsroman war eine interessante, für seine Zeit vom Thema her revolutionäre Arbeit, durch ihre sprachlichen Expressionismen für den Leser schwer konsumierbar. Was hatte den siebenundzwanzigjährigen Volker Schlöndorff, der von 1960 bis 1965 als Regieassistent bei Jean-Pierre Melville, Alain Resnais und Louis Malle arbeitete, dazu bewogen, für seine erste selbständige Regiearbeit ausgerechnet diesen spröden literarischen Vorwurf zu wählen?
Das war zweifellos die andere wichtige Komponente der Musilschen Vorlage: die Analyse präfaschistischen Verhaltens einer kleinen, durch äussere Umstände auf engen Raum begrenzten Gruppe, in diesem Fall der höheren Zöglinge des Internats. In der Verfilmung Schlöndorffs muss Musils Roman es sich gefallen lassen, dass der eine Handlungsstrang - die Pubertätsprobleme der Jugendlichen - etwas vernachlässigt wurde. Schlöndorffs Adaption arbeitet vor allem die andere Komponente des "Törless" heraus: die Verquickung von sexuell-sadistischen mit faschistischen Momenten bei seinen jugendlichen Protagonisten.
Die Handlung des Films sei hier kurz skizziert: der junge Törless, Sohn eines Hofrats, tritt in das Internat für höhere Zöglinge ein. Er schliesst Freundschaft mit Beineberg und Reiting, zwei älteren Schülern, und beteiligt sich eine Zeitlang an ihren Quälereien des Schülers Basini, der Beineberg Geld gestohlen hat und durch sein Leiden wieder geläutert werden soll. Törless widert aber bald die Roheit Beinebergs und Reitings an; er warnt Basini vor einem gegen ihn geplanten Lynchexzess und erreicht durch eine vorgebliche Flucht seine Relegierung aus dem Internat und damit seine Rückkehr zu den Eltern.
Ein trockener Handlungsvorwurf für einen Film, könnte man meinen, bestenfalls geeignet, die übliche Schülertragödie neu erstehen zu lassen. Aber schon in den ersten Sequenzen wird die Meisterschaft Schlöndorffs sichtbar. Der Film beginnt fugenartig: die einzelnen Topoi - pubertäre Sexualität und der sich bis zur Unmenschlichkeit steigernde ,normale' jugendliche Sadismus - klingen 'an und werden wieder zurückgenommen, durch scheinbar unbekümmerte Szenen voll jugendlicher Frische unterbrochen. Der Film blendet auf mit einer direkten Totalen, die den Blick freigibt auf eine öde, bräunlich getönte, nicht näher definierbare und in ihrer Unbestimmbarkeit bedrückende Landschaft; ihre Grenzenlosigkeit nur durchschnitten von Eisenbahnschienen. Bereits hier wird die adäquate Übersetzung des musilschen Textes in Bilder sichtbar. Musils Roman beginnt mit den Worten:
Eine kleine Station an der Strecke, welche nach Russland führt. Endlos gerade liefen vier parallele Eisenstränge nach beiden Seiten zwischen dem gelben Kies des breiten Fahrdammes; neben jedem wie ein schmutziger Schatten der dunkle, von dem Abdampfe in den Boden gebrannte Strich.
Nach dem Abschied Törless' von seinen Eltern, die ihn der besonderen Obhut des älteren Beineberg, der auf sie einen besonnenen und ruhigen Eindruck macht, anvertrauen, schlendern die Jungen durch die angrenzenden Felder zurück in die kleine Stadt. Sie begegnen auf ihrem Weg Bäuerinnen und Mägden, denen sie Scherzworte zurufen. Aber auch diese Szenen lassen keine Assoziation der Zuschauer an jungenhafte Ausgelassenheit zu: zu drückend ist die Landschaft, zu sehr sind die Blicke der Jungen auf die sich bückenden Frauen von dumpfer, verdrängter Sexualität bestimmt, zu devot begegnen die Mägde den jungen Herren in ihren schicken Uniformen. Beim Gang durch die Stadt folgt einem versteckten, sehnsüchtigen Blick des Törless zu in den Höfen arbeitenden Mägden der Blick auf einen geschlachteten Bullen, der eben ausgeweidet wird und dem die Därme aus dem aufgeschlitzten Leib quellen. Schlöndorff verzichtet in diesen Szenen wie auch im ganzen Film auf billige, schockartig wirkende Schnitte; ihm geht es lediglich darum, zu zeigen, was Törless sieht. Die Kamera ist hier subjektiv, sie folgt langsam und logisch den Bewegungen Törless', dessen Reaktionen auf das Geschehene in kurzen, unaufdringlichen Zwischenschnitten vergegenwärtigt werden. Es geht Schlöndorff nicht um Schockierendes an sich, ihn interessiert es nur soweit, als es geeignet ist, die Beunruhigung und das Anderssein des Törless zu zeigen, der nicht imstande ist, die Dinge unreflektiert aufzunehmen, und der deshalb in sein Tagebuch schreibt:
Ich muss krank sein, wahnsinnig, oder was ist es sonst, dass mich Dinge befremden, die andern alltäglich erscheinen?
In der nächsten Sequenz wird Schlöndorff schon deutlicher: Er zeigt einen Schultag, die Schüler schreiben eine Arbeit. In drei kurzen Einstellungen versteht es der Regisseur, seine Grundthemen - Sexualität und Sadismus - aufzunehmen, zu variieren und auszudehnen: zuerst gerät Reiting ins Bild, der hingebungsvoll eine Fliege zu Tode quält, dann schweift die Kamera (oder der Blick Törless') angeekelt weg zur Wand hin, die mit nackten Griechenkämpfern geschmückt ist; in ihrer übertriebenen neoklassizistischen Härte und Männlichkeit einem Homoerotenballett ähnlicher als den Helden der griechischen Götterwelt. Von diesen Bildern gleitet die Kamera zur Garderobe, in der die Mützen und Uniformcapes der Jungen hängen, muffig, dichtgedrängt und abstossend. Die Brücke ist geschlagen, die Verbindung hergestellt zwischen jugendlichem Sadismus und dem verstaubten Bildungsideal dessen, was hart macht mit seinen Uniformen und militärischen Reglementierungen; mehr noch, das Ideal von der männlichen, harten Erziehung ist seines Nimbus entkleidet und reduziert auf sein Grundelement: die kaum verschleierte Homosexualität.
Ein Zwischenfall führt dazu, dass Beineberg und Reiting sich nicht mehr aufs Fliegenquälen beschränken müssen. Basini, ein weicher, in seiner Entwicklung zurückgebliebener Junge, wird überführt, Geld gestohlen zu haben. Beineberg, Reiting und Törless beschliessen, ihn nicht der Internatsleitung zu melden, sondern selbst seine Bestrafung zu übernehmen. Jetzt konstelliert sich das Modellverhältnis, das den Film zur Studie über Brutalität und Machtanwendung, kurz über den Faschismus werden lässt. Die Rollen sind verteilt. Da ist Basini, das Opfer, prädestiniert für diese Rolle durch seine Weichheit, seine Nachgiebigkeit, vermischt mit einer gehörigen Portion Masochismus. Er wird gequält, erträgt es aber, weil er sein Opferdasein ablegen möchte; ,er will wieder ein guter Mensch werden'. Basini glaubt, in einer ihm von seinen Peinigern suggerierten Pervertierung des christlichen Leidensgedankens, diesem Ziel nur durch totale Unterwerfung nahekommen zu können. Ihm gegenüber stehen Beineberg und Reiting, die Unterdrücker. Beineberg, der intellektuelle Irrationalist und in sich selbst verliebte Narziss, quält Basini, um in sich das Mitleid abzutöten, das ein Mensch wie Basini nach bester Herrenmenschenideologie nicht verdient hat. Musil hat Beineberg Worte in den Mund gelegt, die einige dreissig Jahre später ein Mann wie Himmler ihrem Sinn nach völlig identisch wiederholte:
Gerade dass es mir schwerfällt, Basini zu quälen - ich meine ihn zu demütigen, herabzudrücken, von mir zu entfernen -, ist gut. Es erfordert ein Opfer. Es wird reinigend wirken. Ich bin mir schuldig, täglich an ihm zu lernen, dass das blosse Menschsein garnichts bedeutet - eine blosse äffende, äusserliche Ähnlichkeit.
Himmler erklärte am 4. 10. 1943 vor dem Führungskorps der SS:
Von euch werden die meisten wissen, was es heisst, wenn hundert Leichen beisammenliegen, wenn fünfhundert daliegen oder wenn tausend daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.
Um Basinis ,Seele hervorzulocken' und seiner ganz habhaft zu werden, erniedrigt Beineberg Basini in unvorstellbarer Weise. Er missbraucht ihn ebenso wie Reiting sexuell, lässt ihn auf dem Boden liegen und sich selbst beschimpfen, lässt ihn Kot schlucken und versucht ihn als letzte Übersteigerung zu hypnotisieren, um ihn ganz willenlos zu machen. Ihm zur Seite steht Reiting. Ist Beineberg mit seinem intellektuell verbrämten Irrationalismus der Vorläufer der NS-ldeologen Jünger, Rosenberg und Himmler, so ist Reiting der ideale Vorläufer der Kaduks und Bogers. Er ist der Typ des guten Kumpels, der alles mitmacht aus Solidarität und um nicht aufzufallen, auch weil er einfach Spass dran hat.
Und da ist schliesslich noch Törless, der ausserhalb steht und doch verwickelt ist in dieses Netz, aus Gewalt, Brutalität, Irrationalismus und Sexualität. Er nimmt teil an den Quälereien Basinis, fasziniert zuerst von der Möglichkeit, die Reaktionen eines Menschen in seiner tiefsten Erniedrigung zu erleben. Bald aber sieht er ein, dass das mystische Gerede Beinebergs von Seele und Weltgeist nichts ist als die geschickte nachträgliche Rationalisierung rohster und gemeinster Brutalität. Mit dieser Erkenntnis hat Törless das noch viel tiefer gehende Erlebnis eines heilsamen Schocks: die Kammer, in der Basini gequält wird, wird für Törless zum Symbol der bürgerlichen Absage und Verneinung der Rationalität. Es gibt weder Gut noch Böse, weder hell noch dunkel, denn
war diese Kammer möglich, dann war es auch möglich, dass von der hellen, täglichen Welt, die er bis dahin allein gekannt hatte, ein Tor zu einer andern, dumpfen, brausenden, leidenschaftlichen, nackten, vernichtenden führte. Dass zwischen jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem durchsichtigen und festen Bau von Glas und Eisen geregelt zwischen Bureau und Familie bewegt, und anderen, Herabgestossenen, Blutigen, ausschweifend Schmutzigen, in verwirrten Gängen voll brüllender Stimmen Irrenden, nicht nur ein Übergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und nahe und jeden Augenblick überschreitbar aneinanderstossen.
Nun ist Törless imstande, die Dinge zu sehen, wie sie sind; sie ohne gefühlsmässige Obersteigerung vom Verstand her zu erfassen. Er löst sich endgültig aus Beinebergs und Reitlings Einfluss und erreicht durch seine vorgetäuschte Flucht und seine Rechtfertigung vor dem Kollegium, in der er seinen Erfahrungen Ausdruck verleiht, seine Rückkehr zu den Eltern. Er fährt mit seiner Mutter nach Hause. Aber auch sein Verhältnis zu ihr hat sich gewandelt: in einer in ihrer Dezenz unnachahmlichen Schlusseinstellung blickt Torless seine Mutter forschend an und vergegenwärtigt sich die Worte der Hure Bozena, mit der er sein erstes echtes sexuelles Erlebnis hatte: auch seine Mutter ist nur eine Frau mit Schoss und Geruch, ein Mensch, der liebt und hasst, aber kein Idealbild.
Schlöndorffs Film ist die eindringliche Studie über die Bewusstwerdung eines jungen Menschen, aber vor allem die vivisezierende Darstellung der bürgerlichen Inhumanisierung dieser Epoche. In seiner Gabe, das Morbide, Zwielichtige der bürgerlichen Atmosphäre darzustellen, wäre dieser Film zu vergleichen mit Buñuels "Tagebuch einer Kammerzofe", wo ebenfalls Faschismus als in verdrängter Sexualität und Sadismus begründet gezeigt wird. Wie Buñuel zeigt Schlöndorff eine Situation, in der nach den Worten des Musilbiographen Wilfried Berghahn
"die Kruste bürgerlicher Wohlanständigkeit zerbricht, das heimliche, lang unterdrückte Verlangen nach Demütigung und Vernichtung der rationalen Selbstsicherheit einer Epoche seine ersten Triumphe feiert."
Diesen Zerfall der Rationalität optisch genau nachvollzogen zu haben, ist das Verdienst des Films und besonders des Kameramanns Franz Rath, der es verstand, die gedanklichen Vorgänge in diesem Film zu übersetzen in drückende, elegische Bilder, die sämtlich mit Melancholie und Schwere behaftet scheinen und dem Film eine eigenartig trockene, spröde Schönheit verleihen.
Schlöndorff wurde des öfteren vorgeworfen, in der Darstellerführung versagt zu haben; das Spiel der Jungen sei zu steif, zu marionettenhaft, ihre Dialoge, die Schlöndorff zum Teil wörtlich aus dem Roman übernommen hat, klängen papieren und hölzern. Dieser Vorwurf ist ungerecht und entspringt einer Unkenntnis der Musilschen Vorlage, in der es heisst:
Machten es diese traurigen Farben, machte es das bleiche, kraftlose, durch den Dunst ermüdete Licht der Nachmittagssonne: Gegenstände und Menschen hatten etwas Gleichgültiges, Lebloses, Mechanisches an sich, als seien sie aus der Szene eines Puppentheaters genommen.
Schlöndorff hat richtig erkannt, dass die einzige Möglichkeit für seine jugendlichen Darsteller darin bestand, ihren Text ,angelernt' zu sprechen, mit Imperfekt und Konjunktiv. Dadurch wird die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie sagen, seine völlige Gefühlsroheit und Kälte, aber auch die Idiotie und Irrationalität dieser angelesenen und unverdauten Pseudophilosopheme treffender herausgestellt als durch etwaiges outriertes und ,echtes' Sprechen Ebenso dient die steife, etwas maskenartige Darstellung der Jungen dazu, das Kalkulierende, Aufgesetzte und in seiner Unmenschlichkeit bestürzende Handeln stärker in den Vordergrund zu stellen. Am Beispiel Beineberg erläutert: da agiert kein Junge, der sich normalen jugendlichen Quälereien hingibt, sondern eine Marionette versucht mit grösster Kälte und Überlegenheit inhumanes Ideengut zu verwirklichen. Gerade dass Schlöndorff die Notwendigkeit des Neben-der-Rolle-Spielens erkannte und sich dem oberflächlichen Vorwurf schlechter Schauspielerführung aussetzte', zeigt das Gespür dieses jungen Regisseurs. Ausserdem hat das trockene Spiel der Darsteller den Effekt, dass sich der Zuschauer niemals mit ihnen identifizieren kann. Das Beispielhafte der Szenen bleibt den ganzen Film durch erhalten und lässt Raum für eigene Reflexionen über das Gesehene So besitzt dieser Film die Voraussetzungen, dem Publikum das Problem des Faschismus und der irrationalen Machtanwendung aufzuschlüsseln. Wie ein schweizer Kritiker richtig schrieb, hat Schlöndorff einen Törless gedreht, der erst nach den Konzentrationslagern möglich war und der die bitteren Erfahrungen des Nationalsozialismus nicht vergisst.       Helmut Schmerber

Die alles begehren

THE SANDPIPER, USA 1965; Produktion: Martin Ransohoff; Regle: Vincente Minelli; Drehbuch: Delton Trumbo und Michael Wilson; Kamera: Milton Krasner; Musik: Johnny Mandel; Darsteller: Elizabeth Taylor, Richard Burton, Eva Maria Saint, Robert Webber, Charles Bronson u. a.

Vincente Minelli ist ein fleissiger Regisseur; in 23 Jahren, von 1942 bis 1965, brachte er es auf immerhin 32 Filme. Von Anfang an verschrieb er sich der M.G.M., für die alle seine Werke (mit einer Ausnahme: GOOD BYE CHARLIE, 1964, für die Centfox) entstanden. Sein Renommee als einer der Grossen des amerikanischen Kinos verdankt Minelli einer Reihe von Tanz-, Musik- und Musicalfilmen, die er in den 40er und zu Beginn der 50er Jahre drehte. Streifen wie CABIN IN THE SKY (1942, Minellis Debutfilm), ZIEGFELD FOLLIES (1945), AN AMERICAN IN PARIS (1950) und THE BAND WAGON (1953) gelten als klassische Werke des musikalischen Unterhaltungfilms.
Mitte der 50er Jahre wandte sich Minelli mehr und mehr, neben Komödien, dem Genre des psychologischen Gesellschaftsdramas zu. Hier nun beginnen die Missverständnisse, denen Minellis Spätwerk hierzulande zum Opfer fiel. Gregor/Patalas z. B. schreiben in ihrer "Geschichte des Films", Minellis Dramen überstiegen nicht das Niveau geschmackvoller Konfektion, eine Etikettierung, die auf die Filme William Wylers oder Robert Mulligans passt, Minellis Spätwerk aber kaum gerecht wird.
In der Tat vermag Minelli mit den Konventionen der Traumfabrik derart virtuos umzugehen, dass man die Vermutung hegen könnte, er sei ihnen längst zum Opfer gefallen. Indessen schlug er den Seichtheiten des Amüsierbetriebes bisher stets ein Schnippchen, indem er sich zwar der gängigen Klischees bediente, sie jedoch umfunktionierte und dadurch deren Unbrauchbarkeit demonstrierte. Seine wichtigsten dramatischen Filme (LUST FOR LIFE, 1955; SOME CAME RUNNING, 1958; HOME FROM THE HILL, 1959; THE FOUR HORSEMEN OF THE APOCALYPSE, 1961; TWO WEEKS IN ANOTHER TOWN, 1962) akzeptieren bereitwillig gewisse Kolportage-Elemente, d. h. durch die Unterhaltungsindustrie präfabrizierte Charaktere und Handlungsbestandteile; er untersuchte jedoch diese Klischees auf ihre Tauglichkeit, indem er sie auf den Kopf stellte. Seine Methode der Inszenierung passte sich diesen Intentionen an. Zwar waren Minellis Filme nie realistisch im eigentlichen Sinne; es gelang aber Minelli stets, die vorgeführten Klischees auch formal als verlogen zu dekouvrieren dadurch, dass er diese mit der durch die Konventionen der Industrie gefilterten "Realität" konfrontierte.
Nach zwei Komödien (THE COURTSHIP OF EDDIE'S FATHER; GOOD BYE, CHARLIE) ist Minelli nun zum dramatischen Genre zurückgekehrt. Laura Reynolds, die Malerin, lebt mit ihrem neunjährigen Sohn Danny in einem einsamen Strandhaus im Big-Sur-Gebiet an der kalifornischen Küste; sie versucht ihren (unehelichen - sie wollte den Vater nicht heiraten -) Sohn so zu erziehen, dass er, wie weiland Parzival, seine ursprüngliche Unschuld und Reinheit bewahrt, um später nicht von den Lockungen des bürgerlichen Lebens korrumpiert zu werden. Die beiden jagen und fischen gemeinsam und abends unterrichtet Laura ihren Sohn in Literatur (Man erfährt, dass Danny Chaucer's "Canterbury Tales" kennt). Als der Junge ein Rehkitz erschiesst, wird er auf richterlichen Befehl in die St. Simeon-Schule eingewiesen. Deren Leiter, Edward Hewitt, ist Opfer eben jenes korrupten Zivilisationsbetriebes, von dem Laura ihren Sohn fernhalten wollte. Edwards idealistische Ambition, als "fröhlicher Narr Gottes" den Armen zu dienen, ist längst dem Wunsch gewichen, als Direktor des exklusiven Internats an der allgemeinen Prosperity teilzuhaben. Er hat sich eingerichtet und deckt, um Spenden für seine Kirche zu bekommen, illegale Steuerschwindel reicher Bürger, die ihn finanziell unterstützen. Die beiden grundverschiedenen Welten der "unabhängigen Malerin" und des bürgerlichen Gottesmannes stossen zusammen. Obwohl er sich anfangs dagegen wehrt, verliebt sich Edward in Laura. Nach einer hastigen Liebesnacht folgt eine kurze Zeit, die die beiden ungestört miteinander verleben können. Schliesslich packen Edward Skrupel, und er beichtet die Affaire seiner Frau Claire. Die Ehe zerbricht, Claire wird sich scheiden lassen. Edward verlässt die St. Simeon-Schule, um in Mexiko noch einmal zu beginnen. Laura bleibt in Big Sur, allein, denn ihr Sohn will die Schule nicht wieder verlassen.
THE SANDPIPER ist ein perfekt inszenierter bunter Traum; nie war Minelli weiter davon entfernt, einen realistischen Film zu machen. Die Dialoge sind hölzern und streifen bisweilen die Grenze zum unfreiwillig Komischen: die Werbung um Laura kleidet Edward in die Worte "Ich will Dich", von ihren Bildern sagt er, sie seien "wie eine Andacht". Der unrealistische Kolportage-Charakter des Films wird besonders von der Verwendung des Gespanns Taylor-Burton in den Hauptrollen gekennzeichnet. Deren durchgehende darstellerische Unbeweglichkeit signalisiert den synthetischen Traumfabrik-Charakter der dargestellten Personen. Die kritischen Ambitionen, die Minelli, wie in allen seinen dramatischen Filmen, auch in THE SANDPIPER hegte, sind nur noch im Ansatz zu erkennen. Dabei war die Geschichte, die Dalton Trumbo und Michael Wilson - zwei der prominentesten der von den Kommunistenjägern verfolgten Autoren (Trumbo, der zu den "Zehn von Hollywood" gehörte, schrieb u. a. THE PROWLER von Joseph Losey; Wilsons berühmtestes Buch ist THE SALT OF THE EARTH, Regie Herbert Biberman) - ersannen, durchaus geeignet, gewisse amerikanische Moralvorstellungen kritisch zu untersuchen und als verlogen zu entlarven. Die Metapher vom am Flügel verletzten Strandläufer (daher der Originaltitel), den Laura gesund pflegt und der sich dann nurmehr schwer von der ihm vertraut gewordenen Umgebung zu lösen vermag, gibt treffend die Verhaltensweise der Protagonisten wieder. Die Liebe zwischen Edward und Laura muss scheitern, weil sie von vornherein von den Tabus einer in kleinbürgerlichen Kategorien denkenden Gesellschaft überschattet wird; Edward vermag nicht, sich der Konventionen zu entledigen und zerstört damit ihre Liebe. Bereits die erste gemeinsame Nacht nimmt das spätere Ende vorweg, wenn Edward sich, von seinem schlechten Gewissen geplagt, unter fadenscheinigen Entschuldigungen fortzuschleichen sucht. Der schwerblütige Bürger bleibt stets den übernommenen Moralvorstellungen verhaftet, die einer konsequenten Verwirklichung seines individuellen Glückes entgegenstehen.
Auch bei der Zeichnung der beiden anderen Hauptfiguren, Edwards Frau Claire und Lauras Ex-Freund Ward Henricks, sind die, wenn auch vordergründigen, kritischen Intentionen des Regisseurs und seiner Autoren evident. Claire Hewitt erscheint zu Beginn als eine jener amerikanischen Frauen, deren Idealbild Doris Day und Donna Reed vollendet verkörpern: stets freundlich, mit einem etwas angestrengten, hausbackenen Charme, verständnisvoll und geduldig. Als dann ihre Ehe durch die Liebe zwischen Laura und ihrem Mann zum ersten Mal auf eine Probe gestellt wird, reagiert sie zunächst mit einem beängstigenden Anfall schreiender Hysterie und schliesslich mit eiskalter Sachlichkeit. Minelli demontiert hier das im amerikanischen Unterhaltungsfilm gängige Klischeebild von der idealen Musterfrau und verzerrt es bis zur Unkenntlichkeit. Henricks, der in San Franzisco Lauras Kunststudium bezahlte, erweist sich als männliches Gegenstück zu Claire Hewitt. Unter seiner charmanten Attitude des cleveren Boy-Next-Door werden die rüden Praktiken sichtbar. Minelli wendet hier den aus seinen früheren Filmen bekannten Kunstgriff an, eine Klischee-Figur zu zeichnen, um dann unversehens deren vom Zuschauer erwartete Reaktionen nicht stattfinden zu lassen und dadurch das Konfektionäre des zuvor Gezeigten deutlich zu machen. Milton Krasner, Minellis ständiger Kameramann seit 1959 (THE SANDPIPER ist sein siebenter Film mit Minelli), einer der besten amerikanischen Operateure, schuf Bilder von faszinierender Schönheit. Jede Einstellung ist sorgfältig auf ihren ästhetischen Reiz berechnet. Noch dem Hysterieanfall von Claire gewinnt er einen erlesenen malerischen Effekt ab, wenn sich auf den hellen Nylons der davonlaufenden Frau das vage Rot der Autorückstrahler spiegelt.
Betroffenheit angesichts der Geschehnisse auf der Leinwand kann nicht aufkommen. Der Traum ist Minelli zu perfekt geraten, als dass er zum Alptraum werden könnte. Die prunkvolle Orgie geschmacklicher Farben, pathetischer Musik und erlesener Interieurs, die er in THE SANDPIPER zelebriert, versperren Einsichten, die ein anderer Regisseur der Story hätte entlocken können. Wo Minelli früher die synthetischen Träume des Konsumfilms zwar vorführte, aber nur, um deren Unmöglichkeit anschliessend um so deutlicher zu demonstrieren, ist er ihnen nun erlegen. Eine Hinwendung zur Wirklichkeit findet nicht statt; Minelli hat sie beim Ersinnen ausgefallener farbkompositorischer Effekte und prunkvoller Dekors vergessen.       Hans C. Blumenberg
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