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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 41, November-Februar 1963/64

Inhalt
Editorial
Filmfest am Lido
Kieler Filmtage
XII. Internationale Filmwoche Mannheim
Redaktionelle Mitteilung
Das gelobte Land alten Stils
Ziele und Grenzen der Soziologie der Kunst
Die misshandelte Realität II
Il Gattopardo
Das wahre Ende des Krieges. Der polnische Film II
Amerikas "Schwarze" Serie
Filmliteratur
Rückumschlag

Editorial (s.a. Heft 42)

"Glaubst Du, _... ich bewundere Flick, Krupp und Vater? Jedesmal, wenn ich einen Mercedes-Benz sehe, rieche ich den Gestank eines Gasofens." Diese Worte spricht Werner Gerlach in de Sicas DIE EINGESCHLOSSENEN! Diese Worte gaben der FSK Anlass, "die fatale Assoziation zu den unmenschlichen und verbrecherischen Geschehnissen der Nazi-Zeit" festzustellen.

Dr. Berthold Martin, als Vorsitzer des Kulturausschusses des Bundestages Apologet der deutschen Filmmisswirtschaft und weniger filminteressierter Bundesbürgern als Widersacher diplomatischer Beziehungen zu Israel bekannt, bemerkte zum gleichen Film, er sei "als ernsthafter Beitrag zur Bewältigung unserer Vergangenheit abzulehnen, weil er wieder einmal die These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes zu suggerieren sucht."

Demnach wäre die Nennung der Namen Mercedes-Benz, Krupp und Flick im Zusammenhang mit dem deutschen Faschismus das Konstatieren einer deutschen Kollektivschuld. Demnach wäre die Korrumpierung des Nachkriegsbewusstseins schon so weit fortgeschritten, dass die frappanten Exporterfolge deutscher Firmen mit Deutschland selbst identifiziert werden können. Demnach liessen die Namen Flick und Krupp sich beliebig gegen Meier, Müller und Krebs austauschen. Demnach könnte man also sagen: "Jedesmal, wenn ich einen Deutschen sehe, rieche ich den Gestank eines Gasofens."

Die Gegner der sogenannten "antideutschen" Filme sprechen von Kollektivschuld, weil sie die kollektive Unschuld zur Wahrheit erheben wollen. War der SS-Mann nur im ausländischen Film böse (diesbezüglich relevante deutsche Filme beschmutzen das eigene Nest)? Deckten die Gasöfen von Auschwitz nur den Brötchenbedarf der Lagerleitung? Gab es keine Verflechtung der Grossindustrie mit dem Faschismus? Gab es den überhaupt?

Dennoch konzedieren die Filmprüfer eine gewisse Anfälligkeit ihrer Schutzbefohlenen für faschistische Thesen wie diese: "Wir haben Kanonen und Butter. Und Soldaten. Und morgen die Bombe." De Sica und seine Szenaristen Abby Mann und Cesare Zavattini fördern also den Faschismus. Sie bedienen sich in ihrem Film einer Szene aus Brechts "Furcht und Elend des 3. Reiches". Brecht wird hier wohl nachträglich zum Pseudonym von Horst Wessel, das gleichzeitig die Intentionen unseres östlichen, deutschen Nachbarn entlarvt. Die Filmautoren forderten sogar die Herauslösung unseres Staates aus dem atlantischen Verband: "Dann werden wir unsere Mähne schütteln, und du wirst unsere Schutzherren springen sehen wie die Flöhe."

Die Schutzherren des deutschen Kinogehers hüpften wie die Flöhe. Sie liessen die zitierten Textstellen streichen oder verändern.

Die fatale Reaktion der FSK, des Bundestagsabgeordneten Dr. Martin und einiger anderer liess einen Teil der deutschen Filmpublizistik von Zensur sprechen. Der sachlich vorgetragene Angriff trug der Opposition politische und ideologische Diffamierung ein. Edmund Luft nannte sie in FILMECHO/FILMWOCHE Nr. 77 "Blechbläser der Freiheit", die die deutsche "Öffentlichkeit verwirren". Zum Kronzeugen rief er die amerikanische Fachzeitschrift VARIETY an, die- den Film insgesamt für gelungen hält, aber meint, er sei "zweifellos antideutsch". Zur Entwirrung der Situation fügt Luft hinzu: "Nicht in Biebrich kriselt 's, nur in ihren Köpfen."

Wessen Perspektive?       Hanns Fischer
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Filmfest am Lido

So sehr die altbewährte Dreiteilung venezianischer Filmfestspielprogramme bei der internationalen Kritik Anklang gefunden hatte, bei Luigi Chiarini, dem neuen Direttore der "Mostra", fand sie keine Gnade mehr. Man hatte bisher der eigentlichen Konkurrenz und der filmhistorisch orientierten Retrospektive eine Informativ-Schau zur Seite gestellt, die sich bemühte, manch Sehenswertes und Interessantes ausser Konkurrenz zu bringen. Der Kompromiss des Vorjahres, die Informativa nämlich, durch die Vergebung eines Preises für das beste Regie-Debüt in den Wettkampf einzubeziehen, wurde nicht mehr beibehalten. Chiarini verzichtete auf die Informativ-Schau, setzte die Konkurrenz der Erstlingswerke dem Hauptbewerb gleich - und präsentierte so die stattliche Anzahl von 32 (!) Wettbewerbsfilmen.

Nun war naturgemäss das neue Konzept der Organisation mehr noch als früher von der Qualität der Filme abhängig.

Man verhalf daher der Auswahlkommission zu ihrem Recht. Frankreich, Japan, Grossbritannien, Italien, Spanien, die Sowjetunion und die USA entsandten je einen Film zum Festival, der Rest der Streifen wurde eingeladen. Das - ich gestehe - Unerwartete traf ein. Das XXIV. Filmfestival Venedigs wurde seiner offiziellen Bezeichnung, "Mostra d' Arte Cinematografica" - Filmkunst-Schau, durchaus gerecht.

Eine ganze Reihe von Filmen, die am Lido eindeutig übertrumpft wurden, hätte das Niveau einiger vergangener und enttäuschender Festspiele ziemlich gehoben. Sieht man von den drei, vier unvermeidbaren Enttäuschungen ab, so zählte das (relativ) Schwächste noch zum Interessanten. Es bleibt indes abzuwarten, ob diese Reorganisation nicht nur durch ein Zusammentreffen glücklicher Umstände zum Erfolg geführt hat. Erst in den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob es den rührigen Italienern abermals gelingen kann, eine derart erstaunliche Anzahl überdurchschnittlicher - und vor allem: festivalwürdiger - Filmwerke am Lido herauszustellen.

Anfangs lief das Festival noch ein wenig zögernd an. Kurosawa enttäuschte mit seinem neuen Film ZWISCHEN PARADIES UND HÖLLE, einem harten Thriller, der doch recht spannend und routiniert vom Kidnapping erzählt. Die Polen zeigten MILCZENIE (Das Schweigen), einen Film von Kazimierz Kutz, dessen Gedanken - polnischen Stimmen zufolge - sich in Warschau nur wenigen Beschauern erschliessen: ein Junge bringt versehentlich eine Mine zur Explosion, verliert dabei sein Augenlicht und kann dem diffamierenden Gerücht, er habe dem Pfarrer des Dorfes nach dem Leben getrachtet und sei nun von Gott bestraft worden, nicht entgegentreten, da der Priester selbst bis zum Ende schweigt. Jiri Weiss drehte für die CSSR einen aufwendigen und sympathischen Märchenfilm: DER GOLDENE FARN. Mit ungekünstelter Naivität und etlichen Grausamkeiten malt dieser Film in melancholischen Bildern die bittere Geschichte vom Schäfer Jura, der den goldenen Farn findet, die Liebe der Waldfee erringt, zum Kriegsheros avanciert und in seiner Torheit das eigentliche Glück verspielt.

Rafael Azcona, der schon für Marco Ferreri die Fabel zu den Filmen EL COCHECITO und EL PISITO ersonnen hatte, schrieb nun für Berlanga EL VERDUGO (Der Henker). Der makabre Humor, wiewohl bereits gezähmt, gleichsam an die Kette gelegt, schreckt auch hier noch die allzu Geruhsamen auf. Der ehrbare Leichenbestatter José lässt sich, beim tête-à-tête mit des alten Henkers Tochter überrascht und alsbald verheiratet, von diesem, da es eine Wohnung zu finden gilt, überreden, sich als Nachfolger im Henkersamte auszugeben. Die Sache lässt sich gut an; als aber eine Hinrichtung angesetzt wird, kann er schon nicht mehr zurücktreten. Mit List lockt man ihn ins Gefängnis; mit Gewalt wird er zur Richtstatt geschleppt.

Der eigentliche Protest Berlangas verbirgt sich hinter zahllosen ein wenig zu vordergründigen Lustspiel-Szenen. Immerhin lässt sich eine vergleichbare Szene wie die, als während der Hochzeitszeremonie die Kirche entschmückt wird und die Kerzen verlöschen, lange suchen. Wenn Amadeo zudem die "Humanität" spanischer Hinrichtungsmethoden etwa gegenüber der Barbarei des Elektrischen Stuhles hervorstreicht, tritt die Polemik klar zutage. Weiss man doch, dass die "Garrotte" zu den grausamsten Strafen überhaupt zählt.

Auch andere Filme beschriften den modern gewordenen Weg, bittere Wahrheiten ins Gewand übermütiger Satire zu kleiden. So bestätigte Ugo Gregoretti mit OMICRON erneut, dass er zu den vielversprechendsten Nachwuchsregisseuren Italiens gehört. Omicron heisst eines der beiden Wesen, die vom Planeten Ultra ausgesandt wurden, um auf der Erde eine Invasion vorzubereiten. Omicron schlüpft in den Körper eines Arbeiters, lernt recht handgreiflich die (Miss-) Verhältnisse unseres Planeten kennen, kämpft schliesslich gegen seinen "Kollegen" Omega an, der in den Körper des Fabrikdirektors geschlüpft ist und kehrt schliesslich ergebnislos in seine sphärische Heimat zurück. Die Invasion findet nicht statt. Gregoretti ist - sieht man von dem Missverhältnis zwischen den anfänglichen überspitzt heiteren Szenen und der Seriosität des letzten Filmdrittels ab - das Kunststück geglückt, eine tatsächlich streng sozialkritische Filmsatire zu schaffen. Die kurze Slapstick-Sequenz, in der er den Kreislauf des Geldes in unserer Gesellschaft persifliert, gehört mit zum Gelungensten auf diesem Gebiete. Der englische Streifen THE SERVANT, der von Joseph Losey nach einem Drehbuch von Harold Pinter gedreht wurde, wählt wieder den Weg, den man "absurder Dramatik" zuschreibt. Das Grundschema - Herr engagiert Diener; Diener "bricht" den Herrn; die Rollen sind vertauscht, der Diener ist zum Herrn geworden - wird durch das strikte Offenlassen jeder Interpretationsmöglichkeit reizvoll abgewandelt; THE SERVANT überzeugt durch Konsequenz.

Weniger glücklich fiel der sowjetische Beitrag DIE GROSSE STRASSE aus. Juri Ozerow nahm die Lebensgeschichte des populären Schwejk-Autors Jaroslav Hasek als Sujet und interpretierte seinen Helden als ironisch-draufgängerischen Lebenskünstler. Dass er den heiteren Faden auch in Kriegsszenen munter weiterspannt, berührte peinlich. Letzten Endes ist aber auch seine, fein säuberlich in Schwarz und Weiss teilende, Charakterisierungsmethode um einiges überholt.

Der Einfall, kurze Einschübe karikierender Zeichenfilme zu verwenden, brachte jedoch auch diesen Streifen leidlich über die Runden. Renato Castellani hat sich mit seinem MARE MATTO dem Humor und "liebenswerter" Menschlichkeit verschrieben. Bedenkt man, dass er dem Opus zwei Jahre Vorbereitungen angedeihen liess, so wirkt das Ergebnis, breit ausgemalte Seemannsgeschichten, ein wenig enttäuschend. Die Publikumsattraktivität dieses Filmes allerdings dürfte sich nicht auf den ungewohnten Anblick einer auf hässlich und altjüngferlich geschminkten Gina Lollobrigida beschränken.

Juan Antonio Bardem, Spaniens zweites Eisen im Feuer, präsentierte NUNCA PASA NADA. Eine junge französische "Varieté-Künstlerin" bleibt einige Tage in einer spanischen Kleinstadt, sorgt durch die Affäre mit einem Chirurgen für Aufregungen und Gerüchte, um die Stadt nach ihrer Abreise wieder in die bleierne Trostlosigkeit zurückfallen zu lassen. Bardem zeichnet neuerlich mit lobenswerter Sorgfalt Bigotterie und Kleinlichkeit; NUNCA PASA NADA gehört zu den Werken, die in Venedig an der Konkurrenz scheiterten. Allein die dichte Atmosphäre hätte dem Film anderswo grössere Aufmerksamkeit zugesichert.

MURIEL, Alain Resnais neuer Streich, bleibt hingegen reichlich unverbindlich. Resnais hatte sich wieder mit einem Exponenten moderner französischer Literatur, Jean Cayrol, zusammengetan, und nahm erneut sein Spiel mit dem Phänomen der Erinnerung auf ("Die Zeit einer Rückkehr" lautet der Untertitel seines Filmes). Er schuf einen ästhetisch brillanten Film (erstmals in Farben), der stilistisch an L' ANNEE DERNIERE A MARIENBAD anschliesst. Nur hat er leider kaum Neues hinzugefügt. Louis Malle war mit FEU FOLLET vertreten. Der Streifen ist in seiner Art wohl perfekt. Er schildert die zwei Tage, in denen ein kranker, gebrochener Dreissigjähriger seinen Entschluss, sich zu erschiessen, überprüft. Alle Hilfeversuche, die ihm bloss bürgerliche Sicherheit und vorübergleitende Erotik anbieten können, scheitern. Die Hoffnungslosigkeit obsiegt.

LE MANI SULLA CITTA schliesslich, Francesco Rosis Film, erreicht nicht die formale Brillanz seines SALVATORE, erscheint aber als politischer Film noch konkreter und offener. Der Architekt Nottola (Rod Steiger spielt ihn eindrucksvoll), ein Politiker der Rechten im Gemeinderat von Neapel, sieht sich, als ein Wohnhausblock zusammenstürzt, in den Augen der Öffentlichkeit kompromittiert und seine politische Karriere gefährdet. Seine Parteifreunde distanzieren sich; den Kompromiss, der ihm unter Aufgabe seiner politischen Kandidatur die Fortsetzung des gemeinsamen Wohnbaugeschäftes verspricht, lehnt er ab. Knapp vor der entscheidenden Wahl geht er mit vier Gesinnungsfreunden zum Zentrum über, sichert seiner neuen Partei die Mehrheit und sich selbst den Wahlsieg. Auch seine ehemaligen Freunde erklären sich wieder zur Zusammenarbeit bereit - ansonsten wäre das grosse Geschäft ja gefährdet _... Rosi hat ein konzentriertes Zeitbild voller Intrigen und Machenschaften entworfen, das er in die kompakte Form eines Tendenzstückes goss, ohne psychologische Charakterisierung im mindesten zu vernachlässigen. Die Wirklichkeitsnähe bleibt stets gewahrt. Als man ihn fragte, ob es Berührungspunkte zwischen SALVATORE G. und dem neuen Film gäbe, meinte er: "Sogar einen sehr gewichtigen; beide Filme habe ich geschrieben!" Die Jury sprach den LEONE D' ORO Francesco Rosis Streifen zu.       Helmut Blobner
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Kieler Filmtage

Vom 10. bis 13. Oktober trafen sich in Kiel auf Einladung des Studentenwerks und der Filmarbeitsgemeinschaft Kiel die Vertreter der Filmclubs an den deutschen Hochschulen (FIAG) zu der schon traditionellen Jahrestagung, die diesmal unter dem Thema "Strukturen und Methoden europäischer Filmhochschulen" stand. Die Veranstalter hatten Delegationen der Schulen Lodz, Madrid, Paris und Rom eingeladen, um die deutschen Teilnehmer mittels Vorträgen, Diskussionen und Schülerfilmen mit den vier Hochschulen bekannt zu machen. Vor allem die Filme (Übungen und Examensarbeiten der verschiedenen Studienjahre) dokumentierten die Gründlichkeit der Ausbildung, die an diesen Hochschulen vermittelt wird.

Die Tagung hätte die Möglichkeit geboten, wenigstens einen Teil der deutschen Öffentlichkeit nach der nunmehr beschlossenen Gründung einer deutschen Filmhochschule mit den längst fälligen Informationen zu versehen. Statt dessen bot sich dank der Veranstalter, die für eine klare Trennung von Berühmten und Studenten sorgten, das Bild einer mit der "grossen Welt" der Prominenz konfrontierten Studentenschaft, die sich alle Mühe gab, den Vorträgen trotz der unkundigen und störenden Übersetzung zu folgen.

In dem Masse, wie die studentischen Filmclubs hier zur Rolle der Zaungäste verurteilt waren, zeugten leider auch die Filme, die sie aus eigener Produktion mitgebracht hatten, von Provinzialität, ob es sich nun um einen Beitrag vom DIFF handelte, der auf dümmliche Art die moderne Kunst verulkt, oder um die formalen Strobel - Tichawsky - Schamoni - Imitationen aus Hamburg. Vor allem war die Arroganz, mit der sie z. T. präsentiert wurden, ebenso unangebracht wie bezeichnend für die Mentalität der Filmclubs. Verbunden mit erstaunlicher Naivität und Unkenntnis auf der anderen Seite, dürfte diese Haltung es den studentischen Filmclubs in Zukunft gewiss nicht leichter machen, sich in einer irgendwie akzeptablen Form neben der neu zu gründenden deutschen Filmhochschule zu behaupten.

Nebenbei schüttelten die in Frage einer Filmhochschule sicherlich erfahrenen Ausländer über das Kuriosum der Organisation der geplanten deutschen Filmhochschule nur noch allgemein die Köpfe.       Barbara Reischel
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XII. Internationale Filmwoche Mannheim

Die Internationale Filmwoche in Mannheim ist ohne gravierende Fehlentscheidung der Jury beendet worden. Mag man auch vieles gegen das Kategorialsystem einwenden, nach dem die Preise verliehen werden, so muss man doch die Schwierigkeiten anerkennen, die verschiedenartigen Möglichkeiten des Kurzfilms auf einen gemeinsamen, kritischen Nenner zu bringen. Die Vielzahl der Preise gestattet, auch auf Filme aufmerksam zu machen, die bei der Vergabe von nur einem oder zwei Preisen ungerechtfertigt in den Hintergrund geraten wären. Jedoch wird das Urteil einer kritisch fähigen Jury vom Niveau der Wettbewerbsfilme bestimmt sein.

Insgesamt war die Qualität des diesjährigen Programms höher als in der Vergangenheit. Einen gewissen technischen Standard konnte man in fast allen Filmen feststellen, auch in jenen, die nichts anderes bieten konnten als impressionistische Bildmontagen (Reichenbach) oder geschickte Werbung für heimatliche Probleme (THE FIRST DAYS, Israel; LINE OF TRAGEDY, Süd-Korea).

Verstärkt haben sich aber diesmal im dokumentarischen Kurzfilm Tendenzen bemerkbar gemacht, die ihre Herkunft vom Fernsehen nicht verschwiegen. Nicht nur waren verschiedene amerikanische Beiträge - sowohl im Wettbewerb als auch in der Off-Hollywood Retrospektive - von Fernsehgesellschaften finanziert, sondern der Einfluss lässt sich sogar bis in die technischen Einzelheiten verfolgen, wie er auch in der spezifischen Behandlung des Themas abzulesen ist. Gregorettis "I Nuovi Angeli" hatten im letzten Jahr auf eine neue dokumantarische Schule in Italien aufmerksam gemacht. Zumeist handelt es sich um junge Regisseure, die vom Fernsehen kommen.

Sie wechseln zum Film, weil sie dort noch offener und direkter Kritik üben können, als es der staatliche Rundfunkapparat erlaubt. Aus diesen Gründen drehte Enzo Biagi seinen ITALIA PROIBITA. Der Film enthält u. a. ein Fernsehinterview mit Dirnen über das Gesetz zur Schliessung der öffentlichen Häuser. Abgesehen von dieser provozierenden Diskussion im TV-Studio mischt Biagi Episoden, die sich thematisch mit Gregorettis Film, Germis DIVORZIO ALL' ITALIANA und Jacopettis Illustrierten-Machwerken berühren. Gereinigt von den Zynismen Jacopettis, ohne die dokumentarische Schärfe Gregorettis, gerät ITALIA PROIBITA in die Nähe der Melodramatik. Bezeichnend, dass sich auch jene Filme, die gegen das Fernsehen gedreht sind, sich seinen Mechanismen unterwerfen.

Vor- und Nachteile dieser fernsehbeeinflussten Dokumentationsform waren sowohl hier wie auch in anderen Filmen deutlich zu bemerken. Wir werden uns noch näher damit zu befassen haben, weil hier für die Zukunft ein Weg des Dokumentarfilms vorgezeichnet zu sein scheint.

Auch Tendenzen zum Cinéma Vérité waren in vielerlei Spielarten vertreten. Am gelungensten wohl in dem kanadischen Beitrag KINDERGARTEN, der nicht nur den Tagesablauf im Kindergarten in konzentrierten Szenen darstellte, sondern auch die Reaktionen der Kinder auf die fremde Apparatur zeigte.

Kanadas zweiter Beitrag THE MOST (ausgezeichnet in der Kategorie "Kulturelle Dokumentation") konfrontierte ein Interview des "Playboy"-Herausgebers Heffner mit Aufnahmen aus seinem Büro und einer Party in seinem Hause. Erreicht wurde die vollkommene Denunziation eines Mythos vom High-Life, wie er auch hierzulande langsam in Mode zu kommen scheint.

In Krüttners dreifach ausgezeichneter Sozialsatire ES MUSS EIN STÜCK VON HITLER SEIN, die den Obersalzberg-Rummel kritisch attackierte, waren Stileinflüsse kenntlich, die wir als fernseheigen bezeichneten. Insofern geht er aber über die Möglichkeiten des Fernsehens hinaus - besonders nach der Einstellung von PANORAMA-weil er die Tatsachen beim Wort nimmt und seine Kritik nicht an den Randphänomenen - wie Schamoni in DIE TEUTONEN KOMMEN, 1962 - ansiedelte, sondern ihnen eine konkrete Zielrichtung gab. Hier liegen spezielle Möglichkeiten des jungen deutschen Films; Strobel und Tischawsky haben ähnliche Wege beschriften; Krüttners weitere Filme wird man von nun an mit der gleichen Aufmerksamkeit erwarten dürfen, wie die der beiden anderen Münchener Autoren.

Schamoni enttäuschte mit seinem DER TOPF. Die Geschichte vom Individuum, das allem Massenwahn zum Trotz nicht auszurotten ist, wurde, bar aller immanenten Dialektik, banal daher erzählt. Durch die äusserliche Adaption der Parabelform sah man sich an das offenbare Vorbild Polanski erinnert; dessen zwingende Bildmetaphorik und gedankliche Komplexität jedoch fehlten völlig.

Zu Recht erhielt Rossifs MOURIR A MADRID den Preis für "Zeitgeschichtliche Dokumentation". Wenn auch die deutsche Synchronisation oft falsch karikierte, wo eine nüchterne Diktion gefordert war, gibt doch das vielseitige Filmmaterial und seine klare Montage ein eindrucksvolles Bild vom ersten faschistischen Krieg.

In Filmen wie diesem muss des öfteren auf Fotos etc. zurückgegriffen werden, weil kein anderes Filmmaterial mehr vorhanden war. Der polnische Beitrag ALBUM FLEISCHERA entfaltete aus einem aufgefundenen Fotoalbum das Portrait eines unbekannten deutschen Soldaten. Der Kommentar enttäuschte allerdings ein wenig durch seine Allgemeinheit und Oberflächlichkeit. Was hier zwingender Notwendigkeit entsprach, will Chris Markers LA JETEE unter den Begriff des "Fotoromans" zwingen. Allerdings fragt es sich, ob Markers Experiment noch zum Film zu zählen ist. Denn die Beschränkung auf ein fixiertes Fotomaterial, wie sie der französische Regisseur bewusst propagiert, hat einzig den falschen Reiz des Ungewöhnlichen, bereichert aber die Fähigkeiten des Films um keinen Deut, überhaupt konnte man feststellen, dass überall auf die Trickmöglichkeiten des Films zurückgegriffen wurde, ohne dass eine Motivation vorlag. Wenn sich der Protest gegen den herkömmlichen Film im Arretieren der Bilder des Vorspanns, in Zeitlupen- und Zeitrafferaufnahmen erschöpft - wie öfters geschehen -, ist er selbst schon wieder zur Mode geworden. Einzig in LA BELLE VIE, der in der Informationsschau lief, waren diese Tricks gerechtfertigt. Der Film schildert die Versuche eines jungen Franzosen, der, aus dem Algerienkrieg zurückgekehrt, sich ein Leben aufbauen will. Die politischen Ereignisse, dargestellt anhand von eingeblendeten Wochenschauaufnahmen, verhindern in den entscheidenden Momenten das Gelingen eines "belle vie". Am Ende wird er wieder eingezogen. Dazwischen liegt die Episode der von reichen Verwandten ermöglichte Hochzeitsreise, die man in Monte Carlo verbringt. Um die Irrealität dieses Lebens zu kennzeichnen, sind diese Szenen grösstenteils in Zeitlupe aufgenommen.

Den "Grossen Preis von Mannheim" erhielt der tschechoslowakische Spielfilm VON ETWAS ANDEREM von Vera Chytilova. Er schildert in alternierenden Sequenzen das Leben zweier Frauen. Die eine, Sportlerin, möchte ihr Training für den bevorstehenden Wettkampf aufgeben, um endlich ein Familienleben führen zu können. Die andere, nur durch das Kind an den Mann gebunden, führt eine frustrierte Ehe. Der Mann interessiert sich nur für seine Sportzeitung. Als sie sich in einen anderen verliebt, wagt sie dennoch nicht den Sprung aus ihrer Ehe, weil sie ihren Mann trotz allem noch liebt. Die komplexe und doch einfache Erzählweise erinnert an Agnes Vardas POINTE COURTE, die sie von Faulkner übernommen hatte (Wild Palms). Simultan und einander kontrastierend werden zwei Geschichten erzählt, die thematisch verwandt sind. Beide haben das Thema: Unmöglichkeit und Möglichkeit der Ehe, Wunsch und Versagen in ihr zum Inhalt. In einem Fall verhindert die sportliche Tätigkeit ein ausgeglichenes Familienleben, im anderen zerstört das ausschliessliche Interesse des Mannes am Sport eine bestehende Ehe. Mag sein, diese direkte Beziehung beider Geschichten ist zu oberflächlich; auch der dokumentarische Teil, in dem das Training der Sportlerin geschildert wird, läuft dem Spielfilmcharakter der zweiten Erzählung zuwider. Jedoch, trotz dieser Einwände ist der tschechoslowakischen Regisseurin ein Film gelungen, der durch klug auskalkulierte Einstellungen und pointierte Schnittechnik durchaus preiswürdig war.

Die berechtigten Einwände gegen die "Off-Hollywood" Retrospektive versuchte Gordon Hitchens aufzufangen. Die Weite des Themas, die Fülle des Materials könne nicht in einer Retrospektive erschöpft werden. Auch sei Flaherty, so bedeutend, dass er hierbei bewusst ausgelassen worden sei. Die Folge war allerdings ein amorphes Bild, das Schlechtes, Mittelmässiges und Gutes (AUTUMN FIRE von H. G. Weinberg und PEOPLE OF THE CUMBERLAND) präsentierte. Die Konzentration auf einzelne Themen, Zeitabschnitte oder Regisseure hätte ein weniger weites Feld abgesteckt; der Allgemeinheit des Eindrucks, zu der man so gelangte, wäre aber durch ein detaillierteres Portrait zu begegnen gewesen, das wohl grösseren Aufschluss über die Off-Hollywood Produktionen gegeben hätte, als es durch diese subjektive Auswahl möglich war. Nun, Mannheim war trotz allem eine Reise wert.       Wolfram Schütte
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Redaktionelle Mitteilung

(Wir informieren ohne Kommentar, dass Erwin Goelz (<a HREF="HEFT37.HTM#AL"> HEFT 37, ALIAS </a> aus der Jury der XII. INTERNATIONALEN FILMWOCHE MANNHEIM zurückgetreten ist. Sein Nachfolger wurde Reinhold E. Thiel.       Die Red.)
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Das gelobte Land alten Stils

John Dos Passos über den Produzenten Samuel Goldwyn

(Wir danken dem Rowohlt-Verlag in Hamburg für die Erlaubnis, aus dem Roman JAHRHUNDERTMITTE von John Dos Passos die Passagen über den Produzenten Samuel Goldwyn abzudrucken.)

Natürlich ist es nur ein Märchen.

Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, da lebte in einem übervölkerten Elendsviertel in einer öden, greulichen Stadt unter dem bleiernen Himmel Osteuropas ein armer kleiner Judenjunge namens Samuel.

Es war eine Stadt voller Schmutz und Elend. Die Polizei trug hohe, schwere Lederstiefel, nur um armen kleinen Jungen und besonders armen kleinen Judenjungen besser in den Hintern treten zu können -

und die reichen Grossgrundbesitzer und die Gebildeten in ihren steifen, hohen Krägen gingen auf der anderen Seite vorbei und kümmerten sich keinen Deut um die hungrigen Mägen und die hungrigen Herzen armer kleiner Judenjungen im Elendsviertel.

Ein kleines Bürschchen war Samuel, sehr hager und sehr schwach, aber in seinem Herzen brannte ein so grosser Ehrgeiz, dass er beschloss, durchzubrennen.

Denn im Westen, hinter dem Rhein und dem geschäftigen England, jenseits des Ozeans lag ein Land namens Amerika. "Was wusste ich von Amerika?" sagt er heute. "Es war ein Traum."

Er wusste nur, dass die Augen der armen Leute aufleuchteten, wenn sie dieses Wort ,Amerika' hörten.

Er wusste nur, wenn er nach Amerika käme, würde er dort sein Glück machen.

Es gelang ihm, sich über den Ärmelkanal bis nach England durchzuschlagen.

Er hatte ein hübsches Lächeln. Die Menschen halfen ihm. Sein Leben lang hatte er es raus, die richtigen Freunde zu finden.

(In jenen Tagen, bevor die Weltkriege begannen, konnte ein Mensch, ja sogar ein kleiner Junge, sowie er einmal dem Unrat und der Unterdrückung und den gestiefelten Polizisten an den Grenzen des Zaren entronnen war, reisen, wohin er wollte - er musste nur das nötige Geld haben.)

In England und besonders in Amerika gab es etwas, das die Leute ,Freiheit' nannten. Obwohl der kleine Samuel noch nicht die Sprache erlernt hatte, gefiel ihm bereits in England die Freiheit.

In einer verräucherten, verrussten Stadt in Mittelengland stiess er auf eine Schwester seiner Mutter. Seine Verwandten nahmen ihn bei sich auf und halfen ihm Arbeit finden. Da es eine Metallarbeiterstadt war, musste er in einer Schmiedewerkstatt arbeiten. Er war nicht kräftig genug, deshalb wurde er auf die Strasse gesetzt, aber das machte ihm nichts aus, denn er wollte ja nach Amerika, er wollte ganz einfach in Amerika sein. Es lag an dem Klang des Wortes ,Amerika'.

Schliesslich kratzten seine Verwandten das nötige Geld dafür zusammen, ihn als Zwischendeckpassagier nach New York zu schicken.

Als Samuel den Einwanderungsbeamten auf Ellis Island seinen Nachnamen zu buchstabieren versuchte, konnten sie ihn nicht verstehen, also schrieben sie hin: Goldfish. Amerika war ein Land, wo alle sich neue Namen zulegten. Freiheit bedeutet, dass der Mensch sich den Namen zulegen durfte, den er am schönsten fand. Also war es ein junger Mann namens Sam Goldfish, der in Gloversville, New York, in einer Handschuhfabrik zu arbeiten anfing.

Jeden Morgen zehn vor sieben heulte die Fabriksirene, die Winter waren kalt, und man arbeitete zehn Stunden täglich für vier Dollar die Woche, aber Sam hatte es raus, die richtigen Freunde zu finden. So wird dann berichtet, er habe sich mit dem Sohn des Chefs angefreundet und binnen kurzem Handschuhe verkauft, statt sie herzustellen.

",Was verstehst du vom Verkaufen?' fragte man mich", sagt er heute. "Aber ich wusste, Handschuhe kann ich verkaufen. ,Gebt mir bloss eine Chance', sagte ich, ,zahlt mir kein Gehalt - ich fahre mit der Strassenbahn'."

Er war so fest davon überzeugt, die Handschuhe, die er verkaufte, seien die herrlichsten Handschuhe auf Gottes Erdboden, dass nicht allzu viele Jahre vergehen würden, bevor er Verkaufsdirektor der Firma war und als verheirateter Mann in einem hübschen Steinhaus in einem hübschen Viertel von New York wohnte.

Er gab sich nicht damit zufrieden. Noch immer brannte der Ehrgeiz in seinem Herzen. "Ich bin nie zufrieden", sagt er heute. "Ich bin immer auf Draht. Wenn man erst einmal restlos zufrieden ist, kann man ebensogut gleich hingehen und sich erschiessen."

Damals, so berichtet die Legende, hatte er ein Büro irgendwo in der Nähe des Herald Square. Am Herald Square gab es eine Automatenpassage und in der Passage ein Kino. Für einen Nickel konnte man sich ganz hinten in einen finsteren, muffigen Saal setzen und auf einer Leinwand etwas vorbeiflackern sehen, das sich Vitascope nannte.

Sam war ein junger Mann, der nie müssig ging, aber wenn er dann einmal in der Mittagspause einen Spaziergang machte, konnte er nicht den ,Lebenden Bildern' widerstehen, die über die Leinwand flackerten.

Sie waren kurz. Sie waren blutrünstig. Sie spielten im Freien. Sie kosteten nur einen Nickel.

Vielleicht erweckten sie abenteuerliche Träume von einem besonnten Wildwest-Amerika zu neuem Leben, Träume, die in den Köpfen hungriger kleiner Jungen unter dem bleiernen Himmel Osteuropas umhergespukt hatten.

Bis dahin hatte er nur davon geträumt, Handschuhfabrikant zu werden. Nun begann er zu kalkulieren: Die Schausteller verdienten an einem Nickel dickes Geld, wie denn, wenn man statt einem Nickel einen Vierteldollar verlangte? Sein Schwager arbeitete in der Theaterbranche. Sam begann auf ihn einzureden, er solle doch etwas Geld dazu aufwenden, einen Film zu drehen. Nimm ein richtiges Broadwaystück, einen richtigen Publikumsliebling, das Beste vom Besten. Als Handschuhverkäufer pflegte Sam sich flott zu kleiden. Eleganz und Qualität machten sich in der Handschuhbranche bezahlt: Warum sollten sie sich nicht auch in der Filmbranche bezahlt machen? Es gab arme Leute in Amerika, die konnten sich den Eintrittspreis nicht leisten, den David Belasco für die Sitzplätze in seinen Theatern verlangte. Wie denn, wenn man ihnen ein echtes Broadwaystück liefert, das, sagen wir, eine Stunde lang läuft- und es kostet nur fünfundzwanzig Cent? Alle seine Freunde hielten ihn für verrückt. Damals liess man im Varieté kleine Filmchen laufen, während in der Pause zwischen zwei Programmen das Publikum wechselte. Lückenbüsser.

Sam kam mit der Idee, Qualität müsse sich bezahlt machen. Wenn Sam eine Idee an den Mann zu bringen versuchte, war es immer die herrlichste Idee auf Gottes Erden. So hell brannte der Glaube in seinem Herzen, dass auch andere Leute unwillkürlich zu glauben begannen. Nach ein paar Durchfällen in Operettentheatern und Varietés beschloss sein Schwager, Sams Idee auszuprobieren. Sie produzierten THE SQUAW MAN mit Dustin Farnum. Das Wort ,Spielfilm' war geboren. Die Menschen strömten in die Säle. (Natürlich ist das alles nur ein Märchen). Mit vierunddreissig Jahren war Sam Goldfish Millionär.

Es entwickelte sich genauso, wie er es erträumt hatte. Er war nach Amerika gekommen und hatte dort sein Glück gemacht. Das nannte man Freiheit.

"Ich tue bloss, was mir gefällt", sagt er heute.

Sam war bei einigen der erfolgreichsten Filmgesellschaften von allem Anfang an mit dabei, aber es lag ihm nicht, mit Partnern zusammenzuarbeiten. Wenn Sam eine Idee hatte, war es eben ganz einfach die herrlichste Idee auf Gottes Erdboden.

Wenn er dabei war, eine Idee an den Mann zu bringen, war er so sehr damit beschäftigt, sie an den Mann zu bringen, dass er ganz einfach für die Meinung anderer Leute keine Zeit hatte. Unter grossem Geschrei gingen die Teilhaberschaften in die Brüche.

Es kostete ihn einen Prozess und einen Haufen Geld, den Namen Goldwyn von einer dieser Firmen loszueisen. (Jetzt, da er Englisch konnte, klang ihm Goldfish dumm als Name eines grossen Filmproduzenten und Millionärs.) Goldwyn klang viel besser und gefiel ihm.

Goldwyn war eine Kombination aus Goldfish und Selwyn.

Die Selwyns waren die Theaterunternehmer, welche die Stoffe und die Stücke lieferten, während Sam die Filme drehte. Ihre Firma hiess Goldwyn Pictures Corporation. Nachdem Sam auf rechtlich einwandfreie Weise sich selber den Namen zugelegt hatte (in diesem Land herrschte Freiheit, jedem Menschen stand es frei, sich selber einen Namen zu wählen), sprach er immer nur von der ,Firma, die meinen Namen trägt'. Der einzige Goldwyn war Sam. Sam Goldwyn Inc. Ltd. heisst die Gesellschaft bis zum heutigen Tag.

Der Name gehört zu dem Märchen mit dazu. Wenn du in den Hotelfahrstuhl einsteigst und den Liftboy fragst, in welcher Etage Mr. Goldwyns Appartement liegt, zerschmelzen seine Züge. Er möchte dich anrühren wie einen Buckligen, damit du ihm Glück bringst. Wenn der schwarzgekleidete Hotelangestellte, der durch den Korridor kommt, den Namen hört, deutet er mit verzückt rollenden Augen auf eine cremefarbene Tür.

Mr. Sam Goldwyn sitzt in einem grossen, lachsfarbenen Salon französischen Stils in einem scharlachroten Damastsessel neben dem Telefon. Nachdem er aufgelegt hat, blickt er lächelnd zu dir auf. (Wenn er nicht wütend auf dich ist, beehrt er dich mit dem freundlichsten Lächeln der Welt.) Er ist Šin schlanker, schmächtiger, grauhaariger Mann mit etwas nahe beisammenstehenden Augen und einem energischen Kinn; er hat seinen siebzigsten Geburtstag hinter sich, aber in seinem scharfen Blick und in seinem Lächeln spürt man noch immer das kleine Einwandererbürschchen mit dem brennend ehrgeizigen Herzen, das um die Jahrhundertwende an diesen Küsten gelandet ist.

Sam Goldwyn erhebt sich und sagt: "Ich habe soeben einen Film fertiggestellt." Er singt es in die Welt hinaus. Wenn du ihn hörst, weisst du sogleich, dass das in seinen Augen der herrlichste Film ist, der je auf Gottes Erdboden gedreht worden ist. "Ich habe vier Millionen Dollar investiert." Er erwartet von dir, dass du gleichfalls diesen Film für den herrlichsten hältst, der je auf Gottes Erdboden gedreht worden ist. Wieder klingelt das Telefon. Das Stubenmädchen kommt, um ihm etwas auszurichten. "Einen Augenblick, ich bin noch nicht fertig, Sie müssen hören, was ich sagen wollte _... Sechzehn Jahre lang habe ich von diesem Film geträumt."

Nachdem er das Stubenmädchen abgefertigt und den Hörer aufgelegt hat, fährt er fort: "Ich mache nicht viele Filme, nur einen Film im Jahr." Wenn er von seiner Arbeit spricht, wird seine Haltung fast bescheiden. Die Worte sind Propaganda, aber in seiner Haltung liegt Bescheidenheit. Zu schön, um wahr zu sein.

Es ist nicht seine Lebensgeschichte, es ist ein Märchen.

"Man sagt mir, dass es der grösste Film ist, den ich je gedreht habe _... Hier habe ich mir aufgeschrieben, was ich zu den Damen sagen werde-drüben im ,Plaza' soll ich einen Preis erhalten. Nein, er hat es weggenommen _... Entschuldigen Sie, bitte _..."

Ärgerlich greift er nach dem Hörer. "Ich erledige alles immer in dem Augenblick, wo es mir einfällt." Dann verlangt er von einem seiner Reklamechefs eine Abschrift des verschwundenen Konzepts. Seine Stimme klingt scharf. "Gleich werde ich es hier haben", sagte er. Er beruhigt sich wieder und lächelt.

"Mr. Goldwyn, denken Sie noch zuweilen an den kleinen Jungen, der aus Polen weglief und in Amerika landete? Vor wie vielen Jahren?"

"Ich kam ganz allein, war dreizehn oder vierzehn." Sein Mund verzieht sich zu jenem melancholischen Lächeln. "Jedesmal, wenn etwas nicht richtig klappt, werfe ich schnell einen Blick in meine Kindheit zurück und sage mir, so schlimm ist es doch gar nicht _... Ich habe gleich zu arbeiten angefangen. Amerika hat mich sehr gut behandelt. Und seither bin ich nicht einen Tag ohne Arbeit gewesen _... Der Fortschritt hat eben erst begonnen _... Amerika war ein Himmel für alle diese Menschen, die aus Europa herüberkamen."

Plötzlich wird seine Stimme bitter, das Gesicht finster. "Und in den letzten fünfzehn Jahren kommen Leute daher, die aus dem Himmel eine Hölle machen wollen."

Eiligst erscheint das Stubenmädchen mit dem vermissten Manuskript. Mr. Goldwyn erhebt sich und erklärt, jetzt müsse er gehen. Hastig blättert er in den dünnen weissen Seiten. "Folgendes werde ich zu den Damen sagen, dasselbe, was Hans Christian Andersen zu den Kindern gesagt hat: ,Dein Herz soll deinen Augen sagen, was sie zu glauben haben _...' "

Fifth Avenue zwischen dem ,Sherry Netherlands' und dem ,Plaza' ist nach wie vor die Gegend New Yorks, die wie keine andere im kosmopolitischen Glanz erstrahlt: Die Parkecke, Sherman in fleckigem Goldblech, die Pferdedroschken am Bordstein und die nackte Frau im Springbrunnen und die flockig geschorenen Pudel an der Leine auf dem Bürgersteig, von elegant gekleideten Damen geführt, die soeben unter der Dauerwellenhaube hervorgetaucht sind.

Das ,Plaza' selbst hat nach wie vor das feine Aroma der Oberen Zehntausend, es ist wie der Geruch alten Leders. Unten im Rendezvous-Room haben sich die Damen an den mit schwer vergoldeten Speisekarten bestückten runden Tischen versammelt. Von Zigarettenrauch umschleiert, spiegeln sich die goldenen Kandelaber in den Wandspiegeln. Ein warmer Duft von Orangenschalen und Whisky zieht hinter den Cocktailtabletts her, welche die Kellner herumreichen.

Die Damen aus den diversen Filmclubs haben samt und sonders ihre besten Hüte aufgesetzt und ihre Pelze hervorgeholt, um Mr. Goldwyns Rede zu hören. Ihr Geschnatter an den Tischen klingt wie die Kakophonie der Voliere im Zoo. An der Peripherie tummeln sich die Reklamechefs. Als Mr. Goldwyn milde lächelnd hereinkommt, folgen ihm die Blicke der Damen, als wäre er der Rattenfänger von Hameln.

Eine Dame mit einem Hut voller Vergissmeinnicht hält eine Rede und spendet ihren persönlichen Tribut dem Filmproduzenten, der uns die hochqualifizierte Unterhaltung geliefert hat, mit der wir so herzlich einverstanden sind'.

Sie stellt eine andere Dame vor, deren Hut in Rosenknospen gehüllt ist und die ihrerseits eine dritte Dame in einem mit bibbernden Kirschen besetzten Hut ersucht, sie möge so freundlich sein, ,das interessante Symbol unserer Wertschätzung' herbeizuholen, damit sie es überreichen könne.

Ein grosser flacher Lederband wird Mr. Goldwyn überreicht. Mr. Goldwyn erhebt sich gnädigst, er steht vor dem grünen Gartendurchblick, der hinter dem Vorstandstisch an die Wand gemalt ist. Das ist für ihn der grosse Moment. (Natürlich passiert es jeden Tag: seine Reklamechefs sorgen dafür, dass es Tag für Tag passiert, wenn gerade ein Film im Anlaufen ist.)

Heute ist es eine Ehrenurkunde, morgen werden es Orchideen sein.

Er steht da, blickt auf die Gesichter der Damen und ihre klatschenden Hände hinab. Nachdem der Applaus sich gelegt hat, erzählt Sam Goldwyn, wie sehr es ihn freut, dass er diesen Damen Freude gemacht hat, wie sehr alle sich freuen werden, die an diesem schönen Film mitgearbeitet haben, wie sehr alle die kleinen minderbemittelten Kinder sich freuen werden, die diesen Film, dafür wird er sorgen, unentgeltlich und gratis zu sehen bekommen sollen, weil er nie vergessen kann, dass er selber einmal ein armer kleiner Junge war _... Natürlich wird noch heftiger applaudiert. "Das habe ich gemeint, als ich in den längst vergangenen Hungertagen zu mir sagte: ,lch werde nach Amerika gehen und dort mein Glück machen.' "

(Dem Verlag C. H. Beck in München danken wir für die Überlassung des Beitrags von Arnold Hauser. Er ist dem Buch Arnold Hauser PHILOSOPHIE DER KUNSTGESCHICHTE entnommen.)
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Ziele und Grenzen der Soziologie der Kunst von Arnold Hauser

Kunstwerke sind Herausforderungen. Wir erklären sie nicht, wir setzen uns mit ihnen auseinander. Wir legen sie unseren eigenen Zielen und Bestrebungen entsprechend aus, übertragen auf sie einen Sinn, der seinen Ursprung in unseren eigenen Lebensformen und Denkgewohnheiten hat, machen, mit einem Wort, aus jeder Kunst, zu der wir eine wirkliche Beziehung haben, eine moderne Kunst.

Kunstwerke sind unnahbare Höhen. Wir gehen auf sie nicht direkt zu, wir umkreisen sie vielmehr. Jede Generation erblickt sie von einem anderen Standort aus und sieht sie mit neuen Augen an, wobei der später gewonnene Gesichtspunkt nicht unbedingt der angemessenere ist. Jeder Aspekt hat seine Stunde, die nicht vorweggenommen und nicht verlängert werden kann, wenn ihr Ertrag für die Zukunft auch keineswegs verlorengeht. Aus der Akkumulation der verschiedenen Deutungen ergibt sich ja erst der volle Sinn, den ein Kunstwerk für eine spätere Generation gewinnt.

Wir sind heute die Zeugen der Stunde, die der soziologischen Deutung der Kulturschöpfungen gewidmet ist. Sie ist nicht die letzte Stunde, und sie wird nicht ewig dauern. Sie eröffnet neue Ausblicke, zeitigt neue, überraschende Einsichten, sie hat aber offenbar auch ihre Beschränkungen und Unzulänglichkeiten. Vielleicht gelingt es uns jetzt schon, bevor sie noch zu Ende geht, etwas davon, was die nächste Stunde an ihr bemängeln wird, vorwegzunehmen und uns ihrer Grenzen bewusst zu werden, ohne auf die Erkenntnisse, die innerhalb ihrer Grenzen liegen, zu verzichten.

Es gibt freilich noch immer Leute, die eine gewisse Unbequemlichkeit dabei empfinden, wenn geistige Erscheinungen, oder das, was sie mit Vorliebe die höheren geistigen Werte nennen, mit Lebenskampf, Klassenkampf, dem Kampf ums tägliche Brot, Konkurrenz, Prestige und ähnlichen Dingen in Verbindung gebracht werden. Eine Auseinandersetzung mit ihnen würde zu weit führen; hier kann nur soviel bemerkt werden, dass die Bewahrung des Geistigen vor jeder Berührung mit dem Materiellen, die ihnen am Herzen liegt, zumeist nur eine Form der Verteidigung von privilegierten Stellungen ist.

Viel bedenkenswerter ist der Widerstand gegen die soziologische Deutung geistiger Schöpfungen, die von der Annahme ausgeht, dass ein Sinngebilde, namentlich ein Kunstwerk, ein eigenständiges, in sich abgeschlossenes und vollendetes System sei, dessen einzelne Momente auf Grund ihrer inneren Abhängigkeit voneinander restlos erklärt werden können, ohne dass man auf die Entstehung oder die Auswirkung des Systems Bezug nehmen müsste. Es ist unzweifelhaft, dass das Kunstwerk seine eigene immanente Logik hat und dass seine Eigenart sich am klarsten in den inneren strukturellen Beziehungen der verschiedenen Werkschichten und Formelemente ausdrückt. Es ist auch offenbar, dass die genetischen Beziehungen, das heisst die Etappen des Weges, auf dem der Künstler von einem Motiv oder Einfall zum anderen gelangt, nicht nur die Akzente verschieben, sondern auch die Zusammenhänge verschleiern und die Werte verändern, auf denen die ästhetische Wirkung des Kunstwerkes beruht. Die für die Entstehung des Werkes wichtigsten Momente sind mit den künstlerisch wirkungsvollsten und wertvollsten durchaus nicht immer identisch. Und ähnlich stehen auch die praktischen Bestrebungen des Künstlers, das heisst die ausserkünstlerischen Ziele, auf die das Kunstwerk gerichtet ist, mit den inneren künstlerischen Beziehungen, die es aufweist, nicht immer im Einklang. Die Verteidiger des l' art pour l' art - denn darum geht es - behaupten aber nicht nur, dass die künstlerische Wirkung eine vollkommen souveräne sei und auf der mikrokosmischen Geschlossenheit des Werkes beruhe, sondern auch dass jede Bezugnahme auf eine werkjenseitige Wirklichkeit die ästhetische Illusion unrettbar aufhebe. Das mag nun an und für sich richtig sein, man darf nur nicht vergessen, dass diese Illusion keineswegs den ganzen Inhalt des Kunstwerks ausmacht und dass sie nicht das ausschliessliche, ja, nicht einmal das wichtigste Ziel des künstlerischen Bemühens darstellt. Denn wenn es auch wahr ist, dass wir uns von der Wirklichkeit in gewissem Masse loszusagen haben, um in den Zauberkreis der Kunst einzutreten, so ist es nicht weniger wahr, dass jede echte Kunst zur Wirklichkeit auf einem mehr oder minder weiten Umweg zurückführt. Ihre Grösse besteht in einer Deutung des Lebens, die uns den chaotischen Zustand der Dinge besser zu bewältigen und dem Dasein einen besseren - verbindlicheren und verlässlicheren - Sinn abzugewinnen hilft.

Die blossen Formgesetze der Kunst sind von den Regeln eines Spiels nicht wesentlich verschieden. Wie kompliziert, geist- und kunstvoll ausgedacht diese auch sein mögen, sie sind an und für sich, das heisst unabhängig vom Ziel, das Spiel zu gewinnen, mehr oder weniger sinnlos. Als blosse Bewegungen sind die Manöver von Fussballspielern nicht nur unverständlich, sondern auch langweilig. Man kann wohl ihre Geschwindigkeit und Geschicklichkeit eine Zeitlang auch für sich geniessen - wie leicht wiegen aber nicht diese Leistungen im Verhältnis zu jenen, die derjenige zu würdigen weiss, der mit dem eigentlichen Zweck des ganzen Laufens, Springens und Stossens vertraut ist. Wenn wir nun von dem Ziel, das der Künstler mit seinem Werk verfolgt, dem Ziel der Belehrung, Überzeugung und Beeinflussung, nichts wissen oder nichts wissen wollen, haben wir von seiner Kunst nicht viel mehr als der Unkundige vom Fussballspiel, das er nach der Schönheit der Bewegungen der Spieler beurteilt. Das Kunstwerk ist in seiner höchsten Form eine Botschaft, und wenn auch diejenigen, die behaupten, dass die wirkungsvolle, ansprechende, tadellose Gestalt die Vorbedingung der erfolgreichen Übermittlung der Botschaft sei, zweifellos recht haben, so haben doch die anderen, die den Sinn einer solchen Gestalt ohne eine ihr zugrunde liegende Botschaft verneinen, nicht weniger recht.

Das Kunstwerk ist mit einem Fenster verglichen worden, das einen Ausblick in die Welt eröffnet und für sich selbst bald gar keine, bald aber auch alle Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Man könne, wurde behauptet, das Bild jenseits des Fensters betrachten, ohne sich von der Beschaffenheit des Fensters, der Struktur und der Farbe der Fensterscheibe auch nur im geringsten Rechenschaft zu geben. Das Kunstwerk erscheint nach dieser Analogie als ein blosses Vehikel der Erfahrung, eine durchsichtige Glasscheibe, ein Augenglas, das an und für sich unbemerkt bleibt und nur als Mittel zum Zweck in Frage kommt. Wie man aber seinen Blick auch auf die Fensterscheibe einstellen und auf die Struktur des Glases konzentrieren kann, ohne von dem jenseits des Fensters sich eröffnenden Bild Notiz zu nehmen, so könne man, hiess es, das Kunstwerk als ein selbständiges, in sich vollendetes, "undurchsichtiges" Formgebilde auffassen, das von jeder Beziehung nach aussen wie abgeschnitten ist. Gewiss kann man das - man kann die Fensterscheibe anstarren, so lange man will -, ein Fenster ist aber schliesslich doch zum Hinausschauen da.

Die Kultur dient zum Schütze der Gesellschaft. Die geistigen Gebilde, die Traditionen, Konventionen und Institutionen, sind nichts als Wege und Mittel der gesellschaftlichen Organisation. Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kunst, alle haben eine Funktion im Kampfe um den Bestand der Gesellschaft. Die Kunst, um bei ihr zu bleiben, ist zunächst ein Werkzeug der Magie, ein Mittel, den Lebensunterhalt der primitiven Jägerhorde zu sichern. Sie wird alsdann zu einem Instrument der animistischen Kulthandlung, die die guten und die bösen Geister im Interesse der Gemeinschaft beeinflussen soll. Sie verwandelt sich allmählich in Formen der Verherrlichung der allmächtigen Götter und ihrer irdischen Statthalter: in Götter- und Königsbild, Hymnus und Panegyrikus. Sie dient schliesslich in der Form einer mehr oder weniger offenkundigen Propaganda den Interessen eines Bundes, einer Clique, einer politischen Partei oder einer besonderen Gesellschaftsklasse. Nur hie und da, in Zeiten verhältnismässiger Sicherheit oder der Entfremdung des Künstlers, zieht sie sich von der Welt zurück und tut, als ob sie, um praktische Ziele unbekümmert, nur um ihrer selbst willen und der Schönheit wegen da wäre. Sie erfüllt aber auch dann noch wichtige soziale Funktionen, indem sie der Ausdruck von Macht und ostentativer Musse bleibt. Ja, sie tut viel mehr als das. Die Kunst fördert die Interessen einer sozialen Schicht schon durch die blosse Darstellung und die stillschweigende Anerkennung ihrer moralischen und ästhetischen Wertmassstäbe. Der Künstler, der von einer solchen Schicht erhalten wird und mit allen seinen Hoffnungen und Aussichten von ihr abhängt, wird ungewollt und unbewusst zum Sprachrohr seiner Brotherren und Mäzene.

Der propagandistische Wert der Kulturgebilde, und hauptsächlich der der Kunst, wurde in der Geschichte der Menschheit früh entdeckt und voll ausgenützt. Es dauerte jedoch Jahrtausende, bis man fähig war, die ideologische Beschaffenheit des Kunstwerks in der Form einer klipp und klar entwickelten Theorie darzustellen, das heisst den Gedanken zu formulieren, dass die Kunst bewusst oder unbewusst stets einen praktischen Zweck verfolgt und manifeste oder verschleierte Propaganda ist. Die Philosophen sowohl der französischen als auch schon der griechischen Aufklärung entdeckten die Relativität der geistigen Wertmassstäbe, und Zweifel an der Objektivität und Idealität der menschlichen Wertungen wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder laut. Marx war aber der erste, der den Gedanken aussprach, dass die geistigen Werte politische Waffen sind. Er lehrte, dass jedes geistige Gebilde, jeder wissenschaftliche Gedanke und jede Vorstellung von der Wirklichkeit ihren Ursprung in einem besonderen, interessenmässig begrenzten und perspektivisch verzerrten Aspekt der Wahrheit haben, und dass, solange die Gesellschaft in Klassen geteilt bleibt, nur eine solche einseitige, perspektivische Sicht der Wahrheit möglich sei. Er versäumte nur eines zu bemerken, nämlich dass wir gegen die verzerrenden Tendenzen in unserem Denken einen beständigen Kampf führen, und dass wir, trotz der unvermeidlichen Voreingenommenheit unseres Geistes, die Fähigkeit besitzen, uns beim eigenen Denken kritisch zuzuschauen und die Einseitigkeit und Fehlerhaftigkeit unseres Weltbildes in gewissem Masse zu korrigieren. Jeder ehrliche Versuch, die Wahrheit zu finden und die Dinge wahrheitsgetreu darzustellen, ist ein Kampf gegen die eigene Subjektivität und Parteilichkeit, gegen persönliche -und klassenmässige Interessen, die man sich als Fehlerquelle bewusst zu machen trachtet, wenn man sie auch nicht ganz auszuscheiden vermag. Engels wusste von diesem Sich-am-eigenen-Zopf-aus-dem-Sumpf-Ziehen, als er vom "Triumph des Realismus" bei Balzac sprach. Freilich bewegen sich auch die Korrekturen unserer ideologischen Fälschungen der Wahrheit noch in den Grenzen des standortmässig Denkbaren und Vorstellbaren und keineswegs im Vakuum einer abstrakten Freiheit. Dass es aber solche Grenzen der Objektivität gibt, bedeutet die schliessliche und entscheidende Rechtfertigung einer Soziologie der Kultur; diese versperren den letzten Ausweg, der dem Gedanken erlauben würde, der sozialen Kausalität zu entrinnen.

Die Soziologie der Kunst hat neben den äusseren auch ihre besonderen inneren Grenzen. Alle Kunst ist sozial bedingt, doch nicht alles in der Kunst ist soziologisch definierbar. So vor allem die künstlerische Qualität nicht; diese hat kein soziologisches Äquivalent. Die gleichen sozialen Bedingungen können wertvolle und vollkommen wertlose Werke zeitigen, Werke, die nichts als eine künstlerisch mehr oder weniger belanglose Tendenz miteinander gemein haben. Die Soziologie kann höchstens die weltanschaulichen Elemente, die ein Kunstwerk enthält, auf ihren seinsmässigen Ursprung zurückführen; wenn es sich jedoch um die Qualität einer künstlerischen Leistung handelt, kommt alles auf die Gestaltung und die gegenseitige Beziehung dieser Elemente an. Die weltanschaulichen Motive können bei den verschiedensten Qualitäten, so wie die qualitativen Merkmale bei den verschiedensten Weltanschauungen die gleichen sein. Es ist nichts als ein Wunschtraum und ein Nachklang der Idee der Kalokagathie, dass soziale Gerechtigkeit und künstlerischer Wert sich irgendwo treffen und dass man von den sozialen Bedingungen, unter denen Kunstwerke produziert werden, auf das künstlerische Gelingen irgendwelche Schlüsse ziehen kann. Die grosse Allianz zwischen politischem Fortschritt und echter Kunst, demokratischer Gesinnung und künstlerischem Sinn, allgemein menschlichen Interessen und allgemein verbindlichen Kunstregeln, so wie sie dem Liberalismus der letzten Jahrhundertmitte vorschwebte, war eine Phantasie, der nichts Reales zugrunde lag. Selbst jene Verbindung zwischen Wahrheit in der Kunst und Wahrheit in der Politik, jene Identifizierung von Naturalismus und Sozialismus, die von Anfang an eine Grundthese der sozialistisch gerichteten Kunsttheorie bildete und noch heute zu ihren Glaubenssätzen gehört, ist problematisch. Es wäre freilich eine grosse Genugtuung, wenn man wüsste, dass soziales Unrecht und politische Unterdrückung mit geistiger Unfruchtbarkeit bestraft werden. Dies ist aber durchaus nicht immer der Fall. Es gab wohl Perioden, wie z. B. die des Zweiten Kaiserreichs, in der die Herrschaft einer keineswegs achtungsgebietenden Gesellschaftsschicht im Zeichen des schlechten Geschmacks und des Epigonentums stand; es wurde aber selbst damals neben einer minderwertigen Kunst auch eine wertvolle erzeugt. Neben einem Octave Feuillet gab es einen Gustave Flaubert, neben den Bouguereaus und Baudrys auch Künstler wie Delacroix und Courbet. Bezeichnend ist freilich, dass Delacroix einem Courbet weder in sozialer noch in politischer Beziehung näher stand als etwa einem Bouguereau, und dass der künstlerischen Gemeinschaft zwischen ihnen keine Art politischer Solidarität entsprach.

Im Zweiten Kaiserreich hatte aber die emporgekommene Bourgeoisie im grossen und ganzen doch die Künstler, die sie verdiente. Was soll man aber dazu sagen, dass im Alten Orient oder im Mittelalter der ärgste Despotismus und die unduldsamste geistige Diktatur die Entstehung der grossartigsten künstlerischen Schöpfungen nicht nur nicht verhinderten, sondern noch dazu Verhältnisse schufen, unter denen der Künstler keineswegs mehr zu leiden schien als unter dem Zwang, den ihm, wenigstens seinem heutigen Gefühl nach, auch die liberalste Herrschaftsordnung auferlegt? Bedeutet dies nicht, dass die Voraussetzungen der künstlerischen Qualität jenseits der Alternative von politischer Freiheit und Unfreiheit liegen und dass dieser Qualität mit soziologischen Massstäben überhaupt nicht beizukommen ist?

Und wie sieht es denn auf der anderen Seite aus? - mit der Kunst der griechischen Klassik, die kaum etwas mit dem wirklichen Volk und nur sehr wenig mit Demokratie zu tun hatte? Oder mit der Demokratie der italienischen Renaissance, die gar keine wahre Demokratie war? Oder mit den Beispielen aus unseren Tagen, die von der Beziehung der breiteren Massen zur Kunst Zeugnis ablegen? - Nach einem Bericht soll ein englischer Verlag vor einiger Zeit ein Abbildungswerk veröffentlicht haben, in dem Gemälde der verschiedensten Art reproduziert waren - gute und schlechte, in populärem und in gewählterem Geschmack gehaltene, Andachtsbilder, Anekdotenschildereien und echte malerische Vorwürfe durcheinander. Der Verlag wandte sich mit der Bitte an die Käufer des Buches, die Bilder namhaft zu machen, die ihnen am besten gefielen. Und es soll sich nun herausgestellt haben, dass, obwohl die Befragten an und für sich zu der besseren, d. h. bücherkaufenden Schicht des Publikums gehörten, und obwohl achtzig Prozent der Abbildungen "gute Kunst" darstellten, diese also von vornherein eine bessere Erfolgschance hatten, keines der ersten sechs mit der höchsten Stimmenzahl gewählten Bilder in die Kategorie der "guten Kunst" gehörten.

Wenn nun dieser Fall so zu deuten wäre, dass das grosse Publikum sich grundsätzlich gegen die bessere und für die schlechtere Kunst entscheidet, so liesse sich immer noch ein soziologisches Verhältnis - wenn auch ein verkehrtes - über die Beziehung zwischen Qualität und Popularität feststellen. Doch es kann hier von einer in ästhetischer Hinsicht konsequenten Haltung nach keiner Richtung hin die Rede sein. Es besteht zwischen Qualität und Popularität in der Kunst stets eine gewisse Spannung, und zeitweise sogar, wie z. B. in der modernen Kunst, ein offener Widerspruch. Die Kunst, das heisst die qualitativ gute Kunst, wendet sich an die Mitglieder einer Kulturgemeinschaft und nicht an den "natürlichen Menschen" Rousseaus; ihr Verständnis ist an bildungsmässige Voraussetzungen geknüpft und ihre Popularität von vornherein beschränkt. Die ungebildeten Schichten erklären sich jedoch in einer ebensowenig eindeutigen Weise für die schlechte wie für die gute Kunst. Der Erfolg richtet sich bei ihnen nach kunstfremden Gesichtspunkten. Sie reagieren nicht auf künstlerisch Gut oder Schlecht, sondern auf Motive, durch die sie sich in ihrer Lebenssphäre beruhigt oder beunruhigt fühlen. Sie nehmen auch das künstlerisch Wertvolle in Kauf, wenn es für sie einen Lebenswert darstellt, das heisst, ihren Wünschen, Phantasien, Tagträumen entspricht - wenn es ihre Lebensangst beschwichtigt und ihr Gefühl der Sicherheit erhöht. Wobei man nur nicht vergessen darf, dass das Neue, Ungewohnte und Schwierige auf ein ungebildetes Publikum an und für sich beunruhigend wirkt.

Auf die Frage nach dem Zusammenhang von künstlerischer Qualität und Popularität bleibt uns also die Soziologie die Antwort schuldig, auf die Fragen nach der Entstehung des Kunstwerks aus dem materiellen Sein gibt sie uns wieder Antworten, die nicht ganz befriedigen. Die Soziologie hat mit den anderen, um genetische Probleme sich bemühenden Geisteswissenschaften, namentlich mit der Psychologie, gewisse aus der Methode selbst sich ergebende Grenzen gemein. Auch sie verliert zeitweise das Kunstwerk als solches aus den Augen. Denn so wie die psychologisch entscheidenden Momente im Schaffensprozess mit den künstlerisch ausschlaggebenden Momenten in den entsprechenden Werken durchaus nicht immer identisch sind, stimmen auch die soziologisch massgebenden Züge eines Kunstwerks oder einer'Kunstrichtung mit ihren ästhetisch relevantesten Merkmalen nicht unbedingt überein. Man kann in einer künstlerischen Bewegung soziologisch eine Schlüsselstellung einnehmen und trotzdem ein Künstler zweiten oder dritten Ranges sein. Die Sozialgeschichte der Kunst ersetzt oder entkräftet die Kunstgeschichte ebensowenig, wie sie durch die Kunstgeschichte ersetzt oder entkräftet werden kann. Die beiden gehen an verschiedenen Tatsachen und Werten aus. Wenn man daher die Sozialgeschichte der Kunst nach den Wertmassstäben der Kunstgeschichte beurteilt, gewinnt man leicht den Eindruck, dass sie die Tatsachen entstellt. Wer so urteilt, müsste aber daran erinnert werden, dass auch die Kunstgeschichte sich nach anderen Wertmassstäben richtet als die pure Kunstkritik oder das spontane Kunsterlebnis, und dass auch zwischen kunsthistorischem und ästhetischem Wert oft eine empfindliche Spannung besteht. Der soziologische Gesichtspunkt ist in bezug auf die Kunst nur dann abzulehnen, wenn er sich als die einzig legitime Betrachtungsweise ausgibt und die soziologische Bedeutung eines Werkes mit seinem künstlerischen Wert verwechselt.

Ausser dieser wohl oft beirrenden, doch stets korrigierbaren Verschiebung der Wertakzente hat aber die Soziologie der Kunst mit den genetischen Forschungsmethoden im Gebiete der Geisteswissenschaften noch eine weitere, für den Kunstfreund bedenklichere Unzulänglichkeit gemein. Sie trachtet nämlich, eigenartige und einzigartige Züge der Kunst von etwas prinzipiell anders Geartetem, einem Generellen und künstlerisch Indifferenten abzuleiten. Als das ärgste Beispiel einer solchen Transzendierung gilt gewöhnlich der Versuch, die künstlerische Qualität oder das künstlerische Talent von wirtschaftlichen Bedingungen abhängig zu machen. Es wäre eine allzu billige Verteidigung dieser Methode, wenn man nachweisen wollte, dass eine unmittelbare Ableitung geistiger Formen von wirtschaftlichen Tatsachen nur von ahnungslosen Dogmatikern versucht werde und dass die Ideologienbildung ein langer, verwickelter, in vielfachen Übergängen sich vollziehender Prozess sei, dem der vulgäre Materialismus keineswegs gerecht wird. Denn wie kompliziert, gebrochen und widerspruchsvoll bedingt auch immer der Weg ist, der vom sozialen Sein zum geistigen Wert - etwa vom bürgerlichen Kapitalismus in Holland zu den Werken Rembrandts - führt, schliesslich muss man sich doch für oder gegen die Relevanz einer solchen Beziehung entscheiden. Man kann die Entscheidung hinausschieben und die Stellungnahme verschleiern, von Dualismus und Dialektik, von Wechselwirkung und gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Geist und Materie sprechen, im Grunde ist man Spiritualist oder Realist. Am Ende muss man sich doch die Frage stellen, ob das Genie vom Himmel fällt oder sich hier auf Erden bildet.

Wie man sich aber auch entscheiden mag, die Verwandlung der wirtschaftlichen Bedingungen in Ideologien bleibt ein nicht restlos erforschbarer Prozess; er ist irgendwo mit einem Sprung verbunden. Es wäre freilich ein Irrtum, anzunehmen, dass ein solcher Sprung nur beim Übergang vom Materiellen zum Geistigen erfolgt. Die Verwandlung einer geistigen Form in eine andere, ein Stilwandel oder Modewechsel, der Untergang einer alten Tradition und das Aufkommen einer neuen, der Einfluss eines Künstlers auf einen anderen, ja, die Wandlungen in der Entwicklung des gleichen Künstlers sind nicht weniger unerforschbar, nicht weniger sprunghaft. Jede Veränderung erscheint von aussen gesehen abrupt und bleibt im Grunde unverständlich. Die lückenlose Allmählichkeit eines Wandels ist eine subjektive, rein innere Erfahrung; sie kann objektiv nicht nachkonstruiert werden.

Der Sprung vom Materiellen zum Geistigen ist unermesslich, er erfolgt aber bereits im Gebiete des Sozialen, ja, schon in dem der Wirtschaft selbst. Denn auch die primitivste Wirtschaft ist bereits organisierte Wirtschaft und kein Naturzustand. Hat man aber einmal die blosse Natur verlassen, steht man nirgend mehr der nackten Materie gegenüber. Der Sprung ins Geistige geschieht, wo man sich noch im Materiellen zu befinden glaubt. Der Abstand zwischen dem Naturzustand und auch der anfänglichsten Form der Wirtschaft ist somit in gewisser Hinsicht grösser als der zwischen dieser Wirtschaft und den höchsten Formen des Geistes, obwohl der Weg in jeder Phase der Entwicklung aus lauter Abgründen und Sprüngen besteht.

Eine der ärgsten Unzulänglichkeiten, die die Soziologie der Kunst mit der genetischen Erklärung geistiger Gebilde im allgemeinen teilt, folgt aus dem Versuch, einen Gegenstand, dessen innerstes Wesen in seiner Komplexität besteht, auf einfache Elemente zu reduzieren. Jede wissenschaftliche Erklärung ist natürlich mit einer Simplifizierung des zu erklärenden Phänomens verbunden. Etwas wissenschaftlich erklären, heisst ein Zusammengesetztes in seine Komponenten zerlegen, und zwar in solche, die auch in anderen Zusammenhängen vorkommen. Ausserhalb der Kunst zerstört man aber mit diesem Verfahren nichts vom massgebenden Charakter des Gegenstandes, in der Kunst hingegen hebt man damit die einzig vollwertige Erscheinungsform auf, in der der Gegenstand gegeben ist. Denn wenn man die Komplexität des Kunstwerks, das Ineinander der Motive, die Mehrdeutigkeit der Symbole, die Polyphonie der Stimmen, die Verschlingung der inhaltlichen und der formalen Elemente und die unanalysierbaren Schwingungen im Tonfall eines Künstlers zerstört oder überhört, hat man den besten Teil dessen, was die Kunst bietet, hingegeben. Es wäre aber unbillig, für diesen Verlust einzig die Soziologie verantwortlich zu machen. Jede wissenschaftliche Erörterung der Kunst zahlt für die gewonnene Erkenntnis mit der Zerstörung des unmittelbaren und letzten Endes unersetzlichen Kunsterlebnisses. Dieses Erlebnis geht auch in der feinfühligsten und verständnisvollsten Kunstgeschichte verloren; was freilich nichts an der Verantwortlichkeit der Soziologie für die eigenen Unzulänglichkeiten ändert, und auch nichts an der Aufgabe, die Fehler so gut wie möglich zu korrigieren, oder sich der Fehlerquelle wenigstens bewusst zu bleiben.

Die Komplexität des Kunstwerks drückt sich ausser in seiner erlebnismässigen Mannigfaltigkeit auch darin aus, dass es im Kreuzungspunkt verschiedener Motivationsreihen liegt. Es ist dreifach - psychologisch, soziologisch und stilgeschichtlich - bedingt. Das Individuum bewahrt für sich nicht nur die psychologische Freiheit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten innerhalb der sozialen Kausalität zu wählen, es schafft sich auch stets neue Möglichkeiten, die durch die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen wohl beschränkt, doch keineswegs vorgezeichnet sind. Das schöpferische Subjekt erfindet sich neue Ausdrucksformen, es findet sie nicht fertig vor. Das, was fertig vorliegt, ist viel mehr ein Negatives als ein Positives, nämlich der Inbegriff dessen, was im jeweiligen historischen Moment als unmöglich erscheint - unmöglich zu denken, zu fühlen, auszudrücken oder zu verstehen. Das, was einer Epoche versagt bleibt, lässt sich freilich immer erst nachträglich feststellen; die Gegenwart scheint stets anarchisch und der Willkür des Individuums preisgegeben zu sein. Erst nachträglich zeichnet sich das soziale Gesetz ab, das den individuellen Entscheidungen eine einheitliche Richtung gibt. Nachträglich wird aber auch die stilgeschichtliche Linie erkennbar, in die sich die scheinbar vollkommen frei gewählten individuellen Ausdrucksformen einordnen. Und diese stilgeschichtliche Richtung trägt den individuellen Bestrebungen gegenüber noch viel stärker den Charakter einer objektiven Gesetzlichkeit an sich als die sozialgeschichtliche Entwicklungstendenz. Retrospektiv scheinen die einzelnen Individuen tatsächlich nur die Träger von anonymen stilistischen Strömungen zu sein.

Die Stilgeschichte hebt aber weder die psychologische noch die soziologische Kausalität auf. Aus rein formalen, stilgeschichtlichen Gründen wird man nie erklären können, warum eine künstlerische Entwicklung in einem gewissen Zeitpunkt zum Stillstand gekommen ist und einem stilistischen Umschwung Raum gegeben hat, statt fortzuschreiten und sich weiter zu verbreiten, warum, mit einem Wort, in der Entwicklung gerade damals ein Wandel eingetreten ist. Es gibt keinen nach inneren Kriterien feststellbaren "Höhepunkt" einer Entwicklung; ein Umschwung tritt ein, wenn eine stilistische Form den sich nach psychologischen und soziologischen Gesetzen gestaltenden Zeitgeist nicht mehr auszudrücken vermag. Der Stilwandel vollzieht sich wohl stets in der Richtung von inneren Richtungslinien, es gibt aber jederzeit eine Mehrheit von Richtungslinien, die zur Wahl stehen. Jedenfalls hat die Wahl keine von vornherein feststehende, von unvoraussehbaren Ereignissen unabhängige Fälligkeit. Unter den Bedingungen, die ihren Zeitpunkt bestimmen, stehen die gesellschaftlichen Verhältnisse wohl an erster Stelle, doch wäre es irrig anzunehmen, dass das soziale Sein selbst die Formen erzeuge, in denen der Unschwung sich ausdrückt; diese Formen sind ebensowohl das Ergebnis einer psychologischen und stilgeschichtlichen wie einer soziologischen Motivation. Vom Standpunkt der soziologischen Kausalität erscheint die Psychologie als eine nicht zu Ende gedachte Soziologie, genauso wie vom Standpunkt der psychologischen Motivation die Soziologie nicht bis zum wirklichen Ursprung der seelischen Haltungen zu dringen scheint. Stilgeschichtlich gesehen, begehen aber beide, sowohl die Psychologie als auch die Soziologie, den gleichen Fehler: sie leiten das künstlerisch Eigenartige von heterogenen Motiven her und erklären die künstlerische Form mit etwas, das an und für sich "formlos" ist. Die Eigenart und die Komplexität des Kunstwerks können nur in einer beschreibenden Analyse bewahrt bleiben; jede pragmatische, sei es genetische oder teleologische, Erklärung löst sie unvermeidlich auf. Die Psychologie und die Kunstgeschichte haben jedenfalls in dieser Beziehung der Soziologie nichts vorzuwerfen.

Das oft so inadäquate Bild, das die Soziologie von der Kunst zeichnet, ist freilich nicht nur die Folge der methodologischen Unzulänglichkeit, die sie mit der Psychologie und der Kunstgeschichte teilt, sondern auch der verhältnismässig ausdruckslosen Sprache, in die sie die unendlich differenzierten künstlerischen Erscheinungen überträgt und die hinter der entwickelteren und dem künstlerischen Erlebnis von vornherein angemesseneren Sprache der Psychologie und der Kunstgeschichte weit zurückbleibt. Neben dem Reichtum und der Subtilität der Schöpfungen der Kunst erscheinen die Begriffe, mit denen die Soziologie arbeitet, geradezu armselig. Kategorien, wie höfisch, bürgerlich, kapitalistisch, städtisch, konservativ, liberal usw., sind nicht nur viel zu eng und schematisch, sondern auch viel zu unbiegsam, um der Eigenart eines Kunstwerks gerecht zu werden. Innerhalb jeder dieser Kategorien ist eine solche Varietät von künstlerischen Vorstellungen und Zielsetzungen möglich, dass mit den betreffenden Bezeichnungen wenig wirklich Relevantes berührt wird. Was wissen wir denn von den künstlerischen Problemen, mit denen Michelangelo zu ringen hatte, und von der Eigenwilligkeit seiner Wege und Mittel, wenn wir erfahren, dass er in der Zeit des Tridentinums, der neuen Realpolitik, der Geburt des modernen Kapitalismus und des beginnenden Absolutismus lebte? Wir verstehen wohl, wenn wir dies wissen, mehr von der Unruhe seines Geistes, von der Wendung, die seine Kunst zum Manierismus nahm, und vielleicht auch etwas mehr von der erschütternden Unartikuliertheit seiner letzten Werke; seine wirkliche Grösse und die Inkommensurabilität seiner künstlerischen Ziele bleiben aber ebenso unerklärt wie das Genie Rembrandts trotz unserer Kenntnis der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er sich als Künstler entwickelte und als Mensch zugrunde ging. Hier sind der soziologischen Forschung von vornherein feste Grenzen gezogen. Wenn es aber auch solche Grenzen gibt - was haben sie zu bedeuten? Soll man, weil die Soziologie unfähig ist, das letzte Geheimnis der Kunst eines Rembrandt zu enthüllen, auch darauf verzichten zu fragen, was sie zu leisten fähig ist? Verzichten auf die Erklärung der sozialen Voraussetzungen dieser Kunst und damit der stilistischen Eigenart, die sie von der Kunst der flämischen Maler, namentlich der Kunst von Rubens unterscheidet? Verzichten auf das einzige Mittel, das Licht auf den an und für sich kaum verständlichen Sachverhalt wirft, dass zwei so verschiedene Kunstrichtungen wie der flämische Barock und der holländische Naturalismus fast gleichzeitig, in unmittelbarer geographischer Berührung miteinander, bei gleichen Kulturtraditionen und nach einer ähnlichen politischen Vorgeschichte, nur eben unter verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen entstanden sind? Zugegeben: weder die Grösse von Rubens noch das Geheimnis von Rembrandt kann auf diese Art erklärt werden. Gibt es aber ausser der soziologischen Feststellung, dass Rubens seine Werke in einer höfisch-aristokratischen Gesellschaft und Rembrandt die seinigen in einer zur Verinnerlichung neigenden bürgerlichen Welt hervorbrachten, überhaupt eine brauchbare genetische Erklärung der in Frage stehenden Stilunterschiede? Dass Rubens im Gegensatz zu Rembrandt in Italien war und den italienischen Barock in sich aufnahm, ist eher ein Symptom als eine Erklärung. Einen Manierismus als Stilerscheinung gab es um die Wende des Jahrhunderts in den nördlichen Provinzen ebenso wie in den südlichen. Und protestantische Bestrebungen finden wir am Anfang im Süden sowohl wie im Norden. In Flandern gibt es aber infolge der spanischen Herrschaft einen anspruchsvollen Hof, eine repräsentative Aristokratie und eine prunkentfaltende Kirche, die es im biederen, protestantischen, den Spaniern mit Erfolg widerstehenden Holland nicht gibt. Hier gibt es dagegen einen bürgerlichen Kapitalismus, der liberal und von Prestigerücksichten frei genug ist, um seinen Künstlern zu erlauben, nach den eigenen Ideen zu arbeiten und nach der eigenen Fasson zu verhungern. Rembrandt und Rubens sind einzigartig und unvergleichlich; ihr Stil und ihr Schicksal sind es aber nicht. Sie stehen mit den Wendungen ihrer künstlerischen Entwicklung und ihrer Lebensgeschichte keinesfalls so allein da, dass man die Verschiedenheit ihrer Kunst einzig mit individueller Veranlagung und persönlichem Genie zu erklären hätte.

Die Soziologie ist nicht im Besitz des Steins der Weisen. Sie wirkt keine Wunder und löst nicht alle Probleme. Sie ist aber mehr als eine der vielen Einzelwissenschaften; sie ist - wie die Theologie im Mittelalter, die Philosophie im 17. und die Ökonomie im 18. Jahrhundert - eine Zentralwissenschaft, von der die ganze Weltanschauung des Zeitalters ihre Richtung gewinnt. Das Bekenntnis zu ihr ist ein Bekenntnis zur rationalen Durchdringung des Lebens und zum Kampf gegen Vorurteile. Die Idee, der sie ihre Schlüsselstellung verdankt, gründet sich auf die Entdeckung der Ideologienhaftigkeit des Denkens, die in den letzten hundert Jahren in den verschiedensten Formen, in der Enthüllung der Selbsttäuschungen bei Nietzsche und Freud ebensowohl wie im historischen Materialismus selbst, Ausdruck gefunden hat. Mit sich selbst ins reine zu kommen und sich der Voraussetzungen des eigenen Wesens, Denkens und Wollens bewusst zu bleiben, ist die Forderung, die sich in allen diesen geistigen Formen wiederholt. Die Soziologie bemüht sich, jene Voraussetzungen des Denkens und Wollens zu erforschen, die aus unserer sozialen Standortsgebundenheit folgen. Wenn sie bekämpft wird, geschieht es zumeist, weil die Beurteilung dieser Gebundenheit keine rein theoretische Angelegenheit ist; man gibt sie zu oder leugnet sie aus ideologischen Gründen. Viele wollen von der Soziologie nichts wissen und übertreiben ihre Unzulänglichkeiten, um sich der eigenen Vorurteile nicht bewusst zu werden. Andere sträuben sich gegen die soziologische Deutung'der geistigen Haltungen, weil sie auf die Fiktion der zeitlosen Geltung des Denkens und der überhistorischen Bestimmung des Menschen nicht verzichten wollen. Diejenigen aber, die auch in der Soziologie nur ein Mittel zum Zweck, nur einen Weg zur vollkommeneren Erkenntnis erblicken, haben ebensowenig Grund, die Bedeutung ihrer unbestreitbaren Grenzen wie die ihrer noch unerfüllten Möglichkeiten zu leugnen.
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Die misshandelte Realität II oder das romantische Gesicht der "Nouvelle Vague"

(Teil I s. Heft 40

FILM ALS ROMANTISCHER AUSWEG

Der Romantik blieb es vorbehalten, der Menschheit die konsequente Flucht in die somnambulen Welten der Träume zu entdecken. Die Kunst war hierzu Schrittmacher, Schlüssel, der das Geheimnis jedermann preisgab. Und bis heute wandern sie zahllos durch die weitaufgestossenen Tore, die Verheissung suchend. Selbst wenn diese Verheissung die hohe Position der Kunst längst aufgegeben hat: Gebrauchskunst geworden ist. Die Fluchtlinien der hohen und der niederen Kunst, der "Chimeres" des Gerard de Nerval und der "Tous les garçons et les filles" der Françoise Hardy schneiden sich in einem Punkt, dessen Ordinaten ROMANTIK und ROMANTISCHES FÜHLEN lauten.

Haben wir in unserer Vorbemerkung versucht, das Verfallensein des modernen Menschen an die Träume zu umreissen, zu zeigen, wie die Selbstentfremdung ihn geradezu in die Träume zwingt, so gilt es jetzt - und das ist nur die Untersuchung eines Teilgebietes - aufzuweisen, welche Rolle der Film, speziell der der NOUVELLE VAGUE dabei spielt. Die Behauptung lautet, dass eine romantische Geisteshaltung, die europäisch ist und die die Kunst der letzten 150 Jahre entscheidend beeinflusst hat, auch ihre Verwirklichung in den Filmen der NOUVELLE VAGUE gefunden hat.

(Arnold Hauser _...
Die Idee des Verlustes der Realität als einer unentbehrlichen Voraussetzung des künstlerischen Schaffens ist mit vorromantischen Lebensbedingungen geradezu unvereinbar; vor der Romantik wäre es einfach unmöglich gewesen, auf eine solche Idee zu verfallen. Die blosse Vorstellung eines verwirkten Lebens lag jenseits des Gesichtskreises des vorromantischen Künstlers. Sie wird erst im Zuammenhang mit der Idee einer Wahl zwischen Kunst und Leben, Werk und Welt, einem künstlerisch stilisierten und spontan sich verhaltenden Ich denkbar. Solange die Kunst als ein Handwerk und der Künstler als ein Produzent von gefälligen und nützlichen Dingen betrachtet wird, solange er für Zeitvertreib und Unterhaltung, Wissen und Bildung, Panegyrik und Propaganda zu sorgen hat, besteht keine Gefahr, aber auch keine Möglichkeit dafür, dass er den Zusammenhang mit der Realität verliert. Sobald er jedoch anfängt, Kunstwerke um ihrer selbst willen zu produzieren, neigt er dazu, die Welt und sein eigenes Ich als das blosse Rohmaterial seiner Schöpfung zu betrachten (PHILOSOPHIE DER KUNSTGESCHICHTE, S. 60).)

I

Die jungen Cinéasten, die sich in den fünfziger Jahren an die Regiepulte und Kameras drängten, zählen zur neuen Welle der romantischen Idee im Zwanzigsten Jahrhundert. Ihr "Realismus", das sollten ihre Filme bald erweisen, war eine raffiniert gebraute Mixtur aus vielen romantischen Ingredienzien, versetzt mit partiellen Auseinandersetzungen über die Gerechtigkeit der Zeit, mit politischen Anspielungen und ironischen Aperçus. Zwar gestattet die Apparatur, die zum Zustandekommen eines Films unerlässlich ist, nicht den totalen Stempel eines einzelnen, nicht die Verwirklichung aller Wünsche des KINO-AUTORS im Sinne der genialischen Seelenausstülpungen des romantischen Schreibers, aber die Malle, Chabrol, Truffaut und Godard wollten einen höchstmöglichen Einfluss ihres AUTOREN-ICH auf das Endprodukt; und sie verstanden es, ihren Absichten auf Ungestörtsein durch staatliche Zensoren, durch Geldgeber und Produzenten einen Namen zu geben: NEUE WELLE. Diese hat in den ca. acht Jahren ihrer Existenz etwa 180 Drehbücher in die Ateliers eingebracht, von denen nur 60 % jemals in die Kinos gelangten.

Das Etikett NOUVELLE VAGUE entstammt einer Untersuchung über das Verhalten der modernen Jugend, die Françoise Giroud in der Wochenzeitung L' EXPRESS veröffentlichte, und wurde von der gleichen Zeitung dann zur Charakterisierung von Marcel Carné's Film LES TRICHEURS ("Die sich selbst betrügen"; 1958) verwandt. (POSITIF 46/1962, S. 2. Im übrigen beziehen sich alle Jahreszahlen, die als Entstehungsjahr der zitierten Filme angegeben sind, auf den DICTIONAIRE D' UN NOUVEAU CINEMA FRAN€AIS, der im gleichen Heft veröffentlicht ist.) Carné seit QUAI DES BRUMES ("Hafen im Nebel"; 1938) und LE JOUR SELEVE ("Der Tag bricht an"; 1939) Meister in der poetischen Verklärung der Realität - Jean Gabin als der Prototyp des romantischen OUTCAST, weitabgewandt, die Welt für ihn ein romantisches Labyrinth, in dessen Gängen er sich selbst wiederzufinden sucht - wollte mit LES TRICHEURS ein Abbild der anarchischen Jugend der Jahrhundertmitte zeigen. Sein jugendliches Liebespaar, Jaques Charrier und Pascale Petit, huldigt in der Überhöhung der privaten Gefühle ebenso einem Romantizismus, wie die chaotische Umwelt, die sie umgibt, in der jeder einzelne seine Maximen setzt und an der Carné die Liebenden zerbrechen lässt. Je weniger man diesen Film, er ist ganz in den aufpolierten Traditionen des POETISCHEN REALISMUS gefertigt, von der Form her zur NOUVELLE VAGUE rechnen darf, um so mehr gehört er zu ihr, was die Art des Themas, das WAS der Handlung anbelangt: In der Totalität der Gefühle, die er reproduziert, gehört er in die Reihe der romantischen Versuche, für die er versehentlich den Untertitel NEUE WELLE lieferte.

II

Zum magischen Mythos erhebt Louis Malle in seinem Film LES AMANTS ("Die Liebenden"; 1958) das Gefühl:

Einer reichen, unbefriedigten Frau (Jeanne Moreau), die ihr Leben gelangweilt von den gesellschaftlichen Capricen der "haute volée" hinbringt, gelingt mittels einer reinen und absoluten Liebe zu einem jungen Mann der Ausbruch aus ihrem Milieu. Die Szenerie, in die diese Liebe gestellt ist, scheint den HYMNEN AN DIE NACHT des Novalis entnommen zu sein. Nicht nur, dass der Schilderung vor allem in den nächtlichen Szenen etwas Gleitendes anhaftet: Der Gang durch den Park, den die Frau in einem weichen, fliessenden Gewand unternimmt, wird zu einem Schweben durch einen vom Mondlicht seltsam verzauberten Garten, dessen Buschwerk und alte Weiden die Zutaten zu einem magischen Akt werden, als der die spätere Vereinigung dargestellt ist. Auch die Grundhaltung der Personen ist diffus, konturlos. Und indem Malle die Zentralszenen in die Natur verlegt, empfangen sie das Flair einer Urhandlung, in der der Mensch in die Nicht-Reflektion des Gefühls eintauchend als Gott und Geschöpf konstituiert. Dem entspricht eine impressionistisch verwandte Kamera, deren aufgesetzter Weichzeichner alle konturierenden Schärfen auflöst.

Dass diese Schilderung eines Emanzipationsvorganges, einer Rebellion des wahren Gefühls gegen das unechte, verwaschene misslingen muss, liegt daran, dass die Alternative, die Malle dem Zuschauer anbietet, die Verhältnisse im Grunde nicht ändert. Die Euphorie, untermalt von klassischer Musik, in der sich DIE LIEBENDEN befinden, wird von kurzer Dauer sein. Sie zerbrechen in dem Augenblick, in dem sich die Wirklichkeit des Alltags meldet. Schon, wenn es darum geht, sich das tägliche Brot zu verdienen, auf den gewohnten Luxus zu verzichten, zu arbeiten. Auf ein ähnliches Fixiertsein an die Romantik stossen wir in Malles VIE PRIVEE ("Privatleben"; 1961). Dieser Film, der das Portrait eines Stars zu entwerfen versucht, beweist bereits in seinen Eingangssequenzen mit ihrer von der Kamera (Henri Decae) bunt ins Bild gesetzten Märchenhaftigkeit seine Nähe zur Romantik. Die Welt, in der der Star (Brigitte Bardot) lebt, die Dinge, die ihn umgeben, die Verhaltensweisen, die ihm aufgezwungen werden, das Beschreiben all dessen vermittelt einen Existenzialismus, der das Schicksal bis hin zum minutenlangen Fall in das Nichts des Todes (Schlusssequenz) als ein romantisches Geworfensein begreift.

III

Zu den Merkmalen beider Filme - und anderer der NOUVELLE VAGUE, auf die wir noch kommen werden, gehört, dass die Gesellschaft nicht als Raum, innerhalb dessen, für - oder gegen den sich die Probleme der Menschen entwickeln, dargestellt wird. Die Gesellschaft erscheint nur als ein Pendant der Handlung, als Hintergrund, vor dem der Held auf der Suche nach der eigenen Autonomie agiert. Selbst die für jeden NEUE WELLE-Film obligatorischen Strassenaufnahmen, die die Protagonisten, wie beispielsweise Michel (Jean Paul Belmondo) in Jean Luc Godards A BOUT DE SOUFFLE ("Ausser Atem"; 1959), doch in ihre Umwelt zu stellen scheinen, das Anspielen auf politische Ereignisse etc., können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Charaktere, deren Schicksal gezeichnet wird, im tiefsten gesellschaftlich sind, Gegner der Gesellschaft, weil diese sie an ihrer totalen Selbstverwirklichung hindert. So muss die Rebellion gegen die Umwelt, die Michel versucht, sein sich Hinwegsetzen über alle Tabus als ein romantischer Versuch, sich selbst zu finden, gewertet werden. Und da die Welt sich dem entgegenstellt, muss der Titan Michel zerbrechen. Er stösst an seine Grenzen vor. Die Anstrengung, sie zu überwinden, endet mit seiner Vernichtung; oder in der romantischen Sehnsucht nach dem Tode, wo das Sein erst wirklich beginnt, stolpert er in grandiosem Taumel, die Kugel im Rücken die kleine Strasse entlang. Und selbst sein "Tu es dégeulasse", das er zum Schluss spricht, gilt nicht nur dem Mädchen, sondern auch der Gesellschaft, die es repräsentiert.

Die Vermenschlichung der Zustände innerhalb der Konsumgesellschaft, müsste nämlich, wenn die romantischen Rebellen nicht individuell, sondern gesellschaftlich handeln würden, bedeuten, dass sich aus der Lösung der Probleme des einzelnen eine Änderung für die vielen ergäbe, würde verlangen, dass hinter dem Gesamten eine progressive Utopie zum Vorschein käme. Statt dessen stellt sich heraus, dass dort nur die Idee von der schrankenlosen Freiheit des Individuums steht, deren anarchistischer Willkür sich alles unterwirft.

Die Öde der Provinz, wie sie in Claude Chabrols Erstlingswerk LE BEAU SERGE ("Der schöne Serge"; 1958) durch die Handlungsstränge schimmert, beeinflusst trotz ihres Realismus und des Kalküls, mit dem dieser ins Bild gerät, den Helden nur dahingehend, die anderen zum genügsamen Spiel mit sich selbst zu gebrauchen. A DOUBLE TOUR ("Schritte ohne Spur"; 1960) vergröbert noch die Tendenzen, die in LES COUSINS ("Schrei, wenn du kannst"; 1959) zutage getreten waren. In LES COUSINS bezieht die Handlung ihre Gegensätze aus dem Zusammentreffen eines jungen Mannes mit seinem mondänen Vetter in Paris. In dessen Wohnung im 16. Arrondissement tut sich ähnliches, was Carné schon in LES TRICHEURS beschrieb: Eine Party löst die andere ab, und deren orgiastische Abläufe, ein sich durch Alkohol in-Trance-Versetzen, um die eigene Existenz tiefer und wahrhaftiger zu spüren, über die totale Entmenschlichung hin zum Menschen zu gelangen, der in der Euphorie sich findet und entdeckt, sind in ihrer moralischen Haltlosigkeit MONDE ROMANTIQUE, wie wir ihn schon aus den GEFÄHRLICHEN LIEBSCHAFTEN des Chalderos de Laclos kennen. Der Cousin vom Lande unternimmt angesichts dieser chaotischen Zustände den Schrei, der ihm in jenem russischen Roulette, das das Ende beschliesst, zum Todesschrei wird. Auch er in seiner Suche nach der vollkommenen Liebe ein romantischer Typ. Selbst die vielgerühmte Nazi-Rede, deren exzellentes Spiel Brialy in den Augen Chabrols den Titel eines "Germanen" einbrachte, ist als dramatischer Akzent weniger eine Kritik am TAUSENDJÄHRIGEN REICH Hitlers als ein Mittel, um Macht - siehe der Jude, der mit den Worten "Aufstehen, Gestapo" geweckt wird - und Faszination auszustrahlen, Faszination durch das Unheimliche, wie sie in vielen romantischen Novellen zum Ausdruck kommt.

Waren die Figuren in LES COUSINS noch einigermassen profiliert, in A DOUBLE TOUR nehmen sie klischeehafte Züge an; dies durchaus in der Manier romantischer Klischees: Laszlo, der Vielgereiste, der sich über alles hinwegsetzt; der Mörder, an die Mutter fixiert und sich in den Klängen klassischer Musik suchend; der Vater, dessen Ausbruch aus seinem Milieu nur das Gehabe eines kleinen Seitensprunges hat; die Malerin Leda, vollends japanischer Kunst hingegeben. Selbst das Dienstmädchen, ironischer Gegenpart zum Geschehen, und die an schwarzen Humor gemahnenden Gesten des Gärtners sind nicht etwa Einbrüche des Realismus in die Handlung, sondern sie vervollständigen nur das romantische Arsenal, aus dem sie alle gekommen sind.

Auch die militante Misogynie Chabrols, die die vier Grossstadtverkäuferinnen in LES BONNES FEMMES ("Die Unbefriedigten"; 1960) zu mannstollen Chimären werden lässt, verschleiert die Welt. Das Liebesbedürfnis der Mädchen, die das grosse Gefühl suchen, macht aus der Realität ein graues Untier, das sich der Vollkommenheit, wie sie die Mädchen erstreben, entgegenstellt.

IV

Die Realitätsferne führt in vielen Filmen der NOUVELLE VAGUE zur Schaffung von Zwischenwelten, die zwar die Accessoires unserer Umwelt besitzen, ihrem geistigen Gehalt nach jedoch romantische Welten sind; wenn Roger Vadim, den man nur teilweise zur NEUEN WELLE rechnen kann, etwa die schon erwähnten LIAISONS DANGEREUSES - 1961 ("Die gefährlichen Liebschaften - 1961"; 1960) von Laclos verfilmt oder sich in ET MOURIR DE PLAISIR ("Und vor Lust zu sterben"; 1961) mit dem Thema des Vampirismus auseinandersetzt. In beiden Filmen geschieht der Einbruch des Unheimlichen: Der Wahnsinn, der die Protagonistin aus LES LIAISONS DANGEREUSES - 1961 von ihren Problemen befreit - den Helden trifft der Tod, und seine Gattin wird durch Feuer entstellt-liegt auf einer Linie wie die Vampire, die in Frauengestalt das Grauen in die Handlung von ET MOURIR DE PLAISIR hineintragen. In beiden Filmen führt Ausserweltliches die Entscheidung herbei. In ihre Physiognomie ist wie in LE REPOS DU GUERRIER ("Das Ruhekissen"; 1962) der Glauben an Ausserweltliches gemischt. Wenn dort Renaud Sarti (Robert Hossein), ein Titan des Gefühls, das sich für ihn im Sexus verwirklicht, in den romantischen Ruinen einer italienischen Kathedrale Besserung gelobt, so verführt das Dekor zu der Annahme, dass Wind und Natur, die durch die leeren Fenster und Türen der Kirche (!) lugen, nur die Symbole ausserweltlichen Einflusses sind.

Das Geheimnis bringt in allen drei Filmen die Lösung, und das Geheimnis ist es auch, aus dem Michel Drach zumindest in AMELIE OU LE TEMPS D' AIMER ("Amelie oder die Zeit der Liebe"; 1960) die Wirkung seiner Filme bezieht. Sein Kriminalfilm ON N' ENTERRE PAS LE DIMANCHE ("Man begräbt am Sonntag nicht"; 1959) versucht sich zwar am Konflikt eines Negers mit seiner Umwelt. Aber die Weise, wie das Paris aus ON N' ENTERRE PAS LE DIMANCHE in eine bestürzende Sammlung verschiedenster Eindrücke aufgelöst wird, erinnert an AMELIE. Paris erscheint als ein geheimnisumwitterter Moloch, ein Irrgarten, als dessen Alternative eben nur jener Mont Saint Michel zu gelten scheint, wo Amelie ihre Jugend hinbringt. Die Welt und ihre Wirklichkeit sind ins Märchen umgeschlagen. AMELIE OU LE TEMPS D' AIMER spielt gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Auf dem Mont Saint Michel, umgeben von Meer und Vögeln, in den dunklen Höhlen seiner Häuser, die zu frieren scheinen, wächst die Sehnsucht Amélies nach dem Ungewohnten, nach dem Neuen. Schillernd bricht es in Gestalt eines Zirkusdirektors in den summenden Lichtkreis der Petroleumlampe. Amelie versucht den Ausbruch in die Fremde, um dort zu sterben, überwältigt von der eigenen Melancholie. Diese mit Trauer inszenierte Meditation über Sehnsucht und Tod, über die Fesseln, in denen das Ich sich gefangen sieht und deren Überwindung stets die Selbstaufgabe bedeuten muss, ist Romantik.

Ein romantisches Pandämonium entwirft auch Francois Truffauts Film TIREZ SUR LE PIANISTE ("Schiessen Sie auf den Pianisten"; 1960). Truffaut, der sich durch Les 400 COUPS ("Sie küssten und sie schlugen ihn"; 1959) als sensibler Regisseur erwiesen hatte, schildert in TIREZ SUR LE PIANISTE die Geschichte eines schüchternen Pianisten, der, einst Virtuose in den grossen Konzertsälen, jetzt heruntergekommen in einem Vorortbistrot zum Tanz aufspielt. Die grosse Wende in seinem Dasein, der Moment, in dem sein Abstieg begann, war der Selbstmord seiner Frau. Von da an lebt er fatalistisch, den eigenen Stimmungen hingegeben, ein Gezeichneter, der den Halt verloren hat. Er existiert irgendwo ausserhalb der Welt. Die Dinge berühren ihn nicht mehr. Ohne ein pathologischer Fall zu sein, scheint seine Identität aus den Fugen geraten. Hier ist es, das Bild des an seiner individuellen Entfaltung gehinderten Menschen, dem sich nur mehr in der Musik die Realität verwandelt. Musik, in der permanenten Wiederholung der Titelmelodie, hat einen magischen Charakter.

Truffaut schildert diese Geschichte mit einem ironischen Unterton. Ironie ist vielleicht die einzige Distanz zwischen dem Autor und seinem Helden. In JULES ET JIM ("Jules und Jim"; 1961) tritt der märchenhafte Charakter der Truffaut'schen Welt noch deutlicher in Erscheinung. Der Entwurf einer reinen Liebe zu dritt gleicht einer ironischen Untersuchung über die Möglichkeiten menschlichen Fühlens.

Cathérine (Jeanne Moreau) ist die Angelfigur dieses Dreiecksspiels. Ihr Versuch zuerst bei dem Deutschen Jules (Oskar Werner) und dann bei dem Franzosen Jim (Henri Serre) die vollkommene Liebe zu finden, scheitert an der Tatsache, dass die Totalität des Gefühls unmöglich ist. Und folgerichtig schliesst der Film mit dem Tod, der für viele Romantiker der Ausweg aus dem irdischen Dilemma war: Cathérine fährt ihr Auto über eine Brücke, deren Mittelteil zerstört ist, und Jim sitzt mit ihr in diesem Auto, während Jules alles vom Stuhl eines Gartencafés mit ansehen muss. Die ganze Geschichte spielt von der Jahrhundertwende bis in die dreissiger Jahre. Sowohl Jules wie Jim sind Schwärmer, dem eigenen Gefühl mit einer Unmittelbarkeit hingegeben, allen Sinneseindrücken offen. Sie haben ihre eigene versponnene Welt, in der selbst Einbrüche wie der Erste Weltkrieg oder die im Film als Film gezeigte Bücherverbrennung durch die Nazis, kaum anderen Charakter haben als den einer kurzen Störung oder eines dramatischen Mittels, um das Geschehen zeitlich zu lokalisieren. Die Kamera (Raoul Coutard) untermauert noch das Märchenhafte der Handlung. Die Faszination durch die Landschaft am Meer und im Schwarzwald, der sie unterliegt, hat ein wenig von dem Gefesseltsein der französischen und deutschen Romantiker an die Wunderkräfte der Natur, als den Ort, wo der Mensch erst sein Menschsein erfährt, wo ihm seine Grenzen bewusst werden. Hier vollzieht sich der Aufstand des Gefühls gegen die Ratio, erkennt Jules die Unmöglichkeit, Cathérine vollkommen zu lieben, begreift Cathérine, dass auch eine vollkommene Liebe zu Jim nicht möglich ist. Und der Mensch, der mittels der Reflektion erkennt, dass der äusserste Zustand der Nicht-Reflektion nicht zu verwirklichen ist, wird sich der romantischen Dualität bewusst: Die Unendlichkeit des Gefühls wird in dem Moment unerreichbar, in dem der Fühlende seine Endlichkeit erfährt. In JULES ET JIM wird dieser Dualismus deutlich sichtbar. Daher die leise Ironie, die Truffaut anschlägt, Ironie als Ausweg, den der Romantiker beschreitet, um noch Romantiker bleiben zu können.

V

Wie ein Märchen nimmt sich auch der Film LES DIMANCHES AU VILLE D' AVRAY ("Sonntage mit Sybill"; 1962) des Regisseurs Serge Bourgignon aus. Pierre, ein ehemaliger Pilot der französischen Luftwaffe, der während eines Einsatzes in Indochina, bevor er angeschossen wurde, ein kleines Mädchen getötet hatte, kommt über diesen Vorfall nicht hinweg. Er lebt in Ville d' Avray: ein harmloser junger Mann, der auf der Suche nach seinem Bewusstsein ist. Seine Welt ist versponnen, seltsam. Eine Heilung bahnt sich erst an, als er jeden Sonntag ein kleines Mädchen besuchen darf. Aus dieser kindlichen Beziehung zwischen dem Mann und dem Mädchen - das allein in einem Ursulinen-Heim lebt, weil die Eltern es vernachlässigen - verändern sich die Dinge um die beiden. Die langen Spaziergänge im Wald, das Spiel mit den Kreisen auf dem Wasser, das kindliche Weihnachtsfest, welches die beiden im Wald halten, all dies erscheint als eine bessere Welt. Zwar versucht Pierre in dem Kind sein verlorenes Gedächtnis wiederzufinden, aber die ausgiebige Schilderung der kindlichen Welt, die im übrigen nur Pierres Freund, der Maler, versteht, lässt den Schluss zu, dass es sich hier um den alten romantischen Trugschluss handelt, dass erst Krankheit, psychisches Gestörtsein den Horizont erweitern und dem Menschen eine heile Welt schaffen, in der er als Gott und Mensch zugleich lebt. Dagegen spricht auch nicht der Schluss des Films, als Pierre, dem eine argwöhnische Bevölkerung die Polizei auf die Fersen gesetzt hat, auf seiner Flucht durch den Wald erschossen wird.

Mit dem Phänomen der Krankheit beschäftigt sich auch Agnès Vardas' Film CLEO DE 5 A 7 ("Mittwochs von 5 bis 7"; 1961). Eine kleine Schlagersängerin wartet zwischen 5 und 7 an einem Mittwochnachmittag auf den Befund ihres Arztes, der wahrscheinlich Krebs erbringen wird. Innerhalb dieser zwei Stunden wandeln sich vor den Augen der Heldin die Dinge. Die Menschen: ihr Liebhaber, ihr Komponist und ihr Textdichter, ihre Freundin verlieren die Bedeutung, die sie immer in ihrem Leben hatten. Auf eine ganz andere Weise als bei Pierre, dem kranken Flieger, aber dennoch tritt eine Erweiterung des Horizontes ein. Cleo sieht auf ihren Gängen durch die Stadt, ihrem Spazieren durch den Park, im Bistrot und im Atelier der jungen Plastiker die Realität auf eine neue Weise. Die Dinge bekommen einen anderen Stellenwert, sie verändern sich unterm Blick. Dass sich im Letzten die Furcht vor der Krankheit als unbegründet erweist, tut hierzu nichts zur Sache.

VI

Das Problem der Moral ist in kaum einem Film der NOUVELLE VAGUE von der Relevanz, als dass es das Verhalten der Helden irgendwie beeinflussen könnte. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern werden durch nichts als die Wünsche, Verlieben oder Abneigungen der jeweiligen Partner eines Verhältnisses reguliert. Dabei ist das Wort Partner noch zu sehr im bürgerlichen Sinne befangen, man sollte eher von Teilnehmern sprechen. Der romantische Liebhaber, wie er uns in den Filmen der NEUEN WELLE vor Augen kommt, nimmt an der Liebe teil, um durch sie seine wahre Existenz zu erfahren. Das bedeutet nicht, dass er nicht liebt, sondern, da er ein Romantiker ist und das Gefühl (die Nicht-Reflektion) über den Verstand (die Reflektion) stellt, betreibt er die Liebe mit jener Ausschliesslichkeit, die das romantische Ideal fordert. Er gehorcht einer eigenen Moral, die das Erlebnis bis zur Grenzsituation hin fordert.

Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist Jaques Demys Film LOLA ("Lola, das Mädchen vom Hafen"; 1960). Lola lebt mit ihrem kleinen Sohn in einer kleinen französischen Hafenstadt. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich durch Striptease und durch zeitweilige Prostitution. Aber es ist nicht das Gewerbe eines ordinären Strassenmädchens, das sie ausübt, sondern sie sucht in all den Männern, die sie mit nach Hause nimmt, ihren ersten Geliebten, den Vater ihres Jungen. Das wird offenkundig, als ein junger Mann, der sich in sie verliebt hat, erfährt, dass er vor dem zurückgekehrten Geliebten wieder in die eigene Einsamkeit zurückkehren muss. Zu dieser Geschichte montiert Demy noch die eines kleinen 14jährigen Mädchens, in der sich das Erlebnis Lolas zu wiederholen scheint. Der ganze Film spielt zudem noch in einer poetisch verklärten Umwelt, als ob Liebe und deren volles Auskosten, der einzige Sinn des Menschen sei. Die Kreisbewegung, in die die Handlung gespannt ist, entspricht jener romantischen Suche, die immer wieder zu den Ursprüngen zurückkehren will. Liebe ist hierfür das magische Mittel. Dass das Ende des Films Lola ihren Geliebten wiederfinden lässt, bestätigt nur diese These. Lola ist das glückliche Pendant zu Truffauts Cathérine und auch zu Godards Nana. Beiden ist auf verschiedene Weise die Rückkehr zu den glücklichen Inseln ursprünglichster Seligkeit nicht möglich.

VII

In allen Filmen, die wir bislang zitierten und an deren Beispiel wir romantische Einflüsse nachzuweisen versuchten, was eine Entfernung von der Realität bedeuten muss, entfällt die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz. Die Welten, die sie evozieren, sind Privatwelten, selbst wenn sie mit dem gesamten Inventar unseres Alltags ausgestattet sind. Das Problem des Eigentums, der ökonomischen Situation der Helden wird weitestgehend nicht berücksichtigt. Geld ist immer vorhanden. Sein Erwerb, falls er überhaupt notwendig ist, gleicht jenen Spielereien, die etwa Jean Pierre Cassel, der Protagonist aus Philippe de Brocas LES JEUX D' AMOUR ("Liebesspiele"; 1959), LE FARCEUR ("Wo bleibt da die Moral mein Herr"; 1960) und L' AMANT DE CINQ JOURS ("Liebhaber für fünf Tage"; 1960) anstellt: Geld ist nur Akzidenz.

Einen bewussten Bezug auf die Realität stellen eigentlich nur die Filme von Alain Resnais und die späteren Werke von Jean Lux Godard dar. Resnais' HIROSHIMA MON AMOUR ("Hiroshima mon amour"; 1959) untersucht die Liebesbeziehungen eines Japaners und einer Französin. Der eine hat den Schrecken des atomaren Angriffs auf Hiroshima, die andere Krieg in Frankreich erlebt. In ihren Gesprächen und ihrer Liebe werden sie sich ihrer Vergangenheit bewusst, die in Rückblenden immer wieder störend in ihre augenblicklichen Beziehungen eingreift.

L' ANNEE DERNIERE A MARIENBAD ("Letztes Jahr in Marienbad"; 1960) entwirft vor dem Betrachter eine sich selbst genügende Gesellschaft, deren Mitglieder kontaktlos in einem grossen barocken Hotel nebeneinander herleben. Beziehungen sind nicht mehr möglich. So beugt sich die Frau, als sie den Einflüsterungen des Mannes erliegt, die ihr suggerieren, sie sei letztes Jahr in Marienbad schon seine Geliebte gewesen, weniger ihrer Erinnerung als den Worten. Hier ist die verlorene Erinnerung, das mangelnde Bewusstsein mit analytischer Schärfe als ein Nachteil dargestellt, selbst wenn die gewohnte literarische Ambitioniertheit, mit der Resnais seine Filme zu umgeben versucht, zeitweilig störend wirkt, ein wenig verschleiert.

In MURIEL ("Muriel oder die Zeit der Wiederkehr"; 1963) klingt ein ähnliches Thema an. Die Menschen leben in der Unfähigkeit, miteinander zu sprechen; Helene mit ihrem Stiefsohn Bernard, den der Algerienkrieg zerrüttete, Bernard mit Françoise, die für ihn zeitweilig die Züge jenes Mädchens Muriel annimmt, das seine Kameraden in Algerien zu Tode folterten und an dessen Tod Bernard sich mitschuldig weiss, Alphonse mit Hélène, seiner ehemaligen Geliebten. Die Vergangenheit ist unwiederholbar und schuldig am unbehausten Lebensgefühl der französischen Kleinbürger der V. Republik.

Schuld am geistesgestörten Zustand des Protagonisten aus Henri Colpis UNE AUSSI LONGUE ABSENCE ("Noch nach Jahr und Tag"; 1961) ist ebenfalls das Vergangene. Dem Landstreicher, der Zeitungen sammelnd alltäglich am Bistrot seiner Frau vorbeikommt, haben die Schrecken des Zweiten Weltkrieges die Erinnerung genommen. Die Anstrengungen der Frau, ihrem Mann das verlorene Bewusstsein wiederzugeben, haben nur einen bedingten Erfolg: Nur eine spärliche Hoffnung auf Änderung konkretisiert sich. Dieser Film ist die Antipode zu den DIMANCHES AU VILLE D' AVRAY. Er zeigt nicht romantisch, sondern realistisch, zu was Kriege führen können. In seinem Stil ist Colpi Resnais sehr verpflichtet.

Benutzt Resnais durchweg literarische Mittel, um seine Absichten auf die Leinwand zu bringen, was teilweise ein Nachteil sein kann, gelingt es Godard, weniger in LE PETIT SOLDAT ("Der kleine Soldat"; 1960) und in UNE FEMME EST UNE FEMME ("Eine Frau ist eine Frau"; 1960) als in VIVRE SA VIE ("Die Geschichte der Nana S."; 1962) die Wirklichkeit literarisch ins Blickfeld des Zuschauers zu stellen. VIVRE SA VIE erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das zur Prostituierten wird, zur Ware in der Hand des Zuhälters, um schliesslich als die "verkauft" werden soll, zu sterben. Godard arbeitet in diesem Film mit den Mitteln des epischen Theaters Brechtscher Provenienz. Die Handlung kennt keinen dramatischen Ablauf mehr, sondern dokumentiert nur mehr in der Form von aneinandergereihten Bildern. In der Geschichte des Mädchens Nana erleidet die sich selbst entfremdete Menschheit ein neues Martyrium, nicht das der Jeanne d' Arc - Godard zitiert in einer Episode aus dem berühmten Film Dreyers - sondern das des Menschen von heute, der unternommen ist. Kein metaphysisches Reich wartet zum Schluss auf Nana, nicht die Krone, sondern nur das Ende, ein Ausgelöschtwerden. Durch die geschickt genutzte Verfremdungstechnik wird hier Exemplarisches deutlich.

Wenn hier versucht worden ist, auf kleinem Raum, was notgedrungen die Exaktheit der Argumentation hemmen muss, ein Phänomen darzustellen: Den Einfluss romantischen Gedankenguts in die Filme der NOUVELLE VAGUE konnte dies nur geschehen, indem gewisse Probleme zugunsten des Themas vernachlässigt wurden. Das "Romantische" finden wir in den meisten kulturellen Äusserungen dieser Zeit, nicht nur in der NOUVELLE VAGUE, sondern auch im Filmschaffen anderer Länder. Es durchzieht Literatur und Musik, und noch nicht alle Einflüsse sind geklärt. Es beginnt mit der Anfälligkeit der Menschen für die Träume. Die Frage nach dem WOHIN ist gekoppelt mit der Frage nach dem Verlust der Realität. Das entstellte Antlitz der Zeit finden wir in den meisten Filmen der NEUEN WELLE. Auf das heile Gesicht werden wir wohl noch einige Zeit warten müssen.       Wolfgang Vogel

(Im kommenden Teil soll versucht werden, die Romantik oder das romantische Phänomen am Beispiel des Novalis darzustellen. Dass Novalis ein Deutscher war, spielt hierbei nur eine sekundäre Rolle. Die Kenner der französischen Romantik, wie sie sich in den theoretischen Schriften Rousseaus und dem Sozialkritizismus Saint-Simons, der schon eigentlich kein Romantiker mehr war, wie sie sich in den literarischen Schriften von Hugo (Vorwort zu seinem Drama CROMWELL), von Merimée, Gautier, Flaubert, Sand bis hin zu Rimbaud, Baudelaire und Mallarmé zeigt, werden die Analogien zur deutschen Romantik durchaus feststellen. Besonders hingewiesen sei dabei noch auf zwei Bücher:

Werner Vordtriede NOVALIS UND DIE FRANZÖSISCHEN SYMBOLISTEN, Stuttgart 1963 und Ludwig Pesch DIE ROMANTISCHE REBELLION IN DER MODERNEN LITERATUR UND KUNST München 1962.

Die Romantik hatte als eine Freiheitsbewegung von universalem Ausmass begonnen: Politisch befreite sie das Volk unter dem Einfluss als demokratische Bewegung.

Sie löste den einzelnen aus der Gebundenheit des kirchlichen Ordo, indem sie das Ich mit Gott identifizierte. Philosophisch befreite sie das Ich, indem sie die Welt als einen Akt des Denkens deklarierte. Psychologisch löste sie die Anima von der Vormundschaft der Vernunft, das Irrationale vom Odium des Verdächtigen und die Leidenschaft vom Tabu der "guten Sitte". Der Mensch wurde ethisch nur mehr an sich selbst gemessen. Durch den absoluten Wert des Individuums attackierte sie die prädestinierte Stufenordnung der vor-industrialisierten Gesellschaft und "öffnete somit der unteren Klasse den Weg nach und nötigte die obere, sich nach unten zu begeben." Sie enthob die Wissenschaft ihrer dienenden Funktion und proklamierte eine Forschung, deren Zweck diese selbst sein sollte, nicht der Erweis, dass Wahrheit und Offenbarung ein und dasselbe seien. (Zitate nach Pesch) Dieser Bruch mit der Klassik, auf dem politischen Plan eingeleitet durch die von Rousseau inspirierten Revolutionäre des "Quatorze Juillet 1789", im Bereich des Philosophischen vorgezeichnet durch den Idealismus Fichte'scher Provenienz fand seine deutlichste Ausprägung in der Vita und dem Oeuvre des Friedrich von Hardenberg, bekannt unter dem Pseudonym Novalis. In dessen zwischen 1794 und 1801 verfassten theoretischen Schriften und literarischen Versuchen wird der Prospekt einer Weltsicht abgesteckt, deren Wirkung auf die Kunst der letzten hundert Jahre erst heutzutage vollends messbar ist, da wir ihren Einfluss auf die künstlerischen Vorstellungen der Moderne - also auch des Films erkannt haben.

Fichte begreift in seiner "Wissenschaftslehre" die Welt als einen Akt des Denkens. Ihr kausaler Zusammenhang entspricht einer Objektivation des denkenden Ich. Um die Welt zu denken, muss sich das Ich allerdings erst seiner selbst bewusst werden. "In der ,Urhandlung' setzt das Ich sich selbst, und dies vermag es nur, indem es sich von dem, was nicht Ich ist, unterscheidet. So objektiviert sich das Ich, es wird sich selbst zum Objekt. Diese ,Urhandlung' ist ein Akt der Reflektion."

In logischer Fortentwicklung dieses Systems bekennt Novalis: "Wir kennen die Schöpfung nur, insofern wir selbst Gott sind, wir kennen sie nicht, insofern wir selbst Welt sind." Damit wird der Künstler, der schafft, autonom. Die Autonomie, die den Mensch-Künstler ins Zentrum der Welt setzt, lässt nur die Wirklichkeit gelten, die er selbst gedacht und in diesem Denkakt geschaffen hat. Die Realität der Umgebung wird verachtet und ist allenfalls Medium der Phantasie. Die Identität Gott Ich ist jedoch erst dann vollkommen, wenn die Grenzen der Vernunft gesprengt sind. Aus den Worten "Analytisches Ich ist Ich mit Bewusstsein - synthetisches Ich, ohne Bewusstsein" setzt sich die Bilanz, dass nur das Unbewusste, der Zustand der totalen Nicht-Reflektion die totale Freiheit ermöglicht. (Novalis)

Aus dieser totalen Freiheit heraus beschreibt der Künstler die Welt, die er sich gedacht hat. "Wo der Mensch seine Realität hinsetzt, was er fixiert, das ist sein Gott, seine Welt, sein Alles." (Novalis) Hier liegen anarchische Züge vor: Da der Künstler nur sich selbst verantwortlich ist, folgt die Realität, die er umreisst, Gesetzen, die mit denen der erlebten Umwelt selten übereinstimmen.

Die Vorstellungen Novalis von der vollkommenen Autonomie kulminieren im Letzten in der Unabhängigkeit von allen Notwendigkeiten des Daseins, die zum "Akzidenz" werden, vom "Zufälligen", das mit dem Ende der Barbarei und dem Anbruch des "Tausendjährigen Reiches" verschwinden wird.

Das "Tausenjährige Reich" ist die Utopie einer entindividualisierten Massengesellschaft, die auch den Begriff des Eigentums nicht mehr kennt. Im Vergleich zur kommunistischen Gesellschaftstheorie Karl Marx', die ebenfalls Eigentum ablehnt, erweist sich allerdings: Während Marx sein System aus den ökonomischen Gegebenheiten entwickelt, ja die gerechte Verteilung des Eigentums geradezu zum Prüfstein der Ideologie wird, ist für Novalis Eigentum ebenfalls ein "Akzidenz". Aber in der Epoche der Vor-Industrialisierung - Ausbeutung war ihr hervorstechendstes Merkmal - das Eigentum zum "Zufälligen" erklären, heisst sich weit von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernen. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Utopie vom "Tausendjährigen Reich als Idee, und zwar als Vorstellung eines ehemals vorhandenen Ur-Zustandes, der in die Zukunft projiziert ist. Die starke Abhängigkeit von platonischer Ideenlehre verweist diese Vorstellungen in den Bereich des Metaphysischen, des unmöglich Weltfremden." Für Gott (d. h. uns selbst) gehen wir eigentlich umgekehrt: Vom Alter zur Jugend", schreibt Novalis.

Das Dilemma, in dem der romantische Mensch steht, ist ein Paradoxon: der Zustand der Nicht-Reflektion ist nur über einen Akt der Reflektion (das Vollziehen der Fichte'schen "Urhandlung") möglich. "Der romantische Gott, ein synthetisches Produkt, produziert den ihm gemässen Menschen. Der Romantiker bezahlt seine Selbstvergottung mit dem, was ihn zum Menschen macht: mit dem Geist, der Vernunft, dem Denken, der Reflektion, mit allem, wodurch er sich unterscheidet.

Novalis erkennt diesen Widerspruch sehr genau, und es gelingt ihm nicht, ihn zu überwinden. Da der Künstler nur in der Nicht-Reflektion, d. h. spontan schaffen kann, sinnt Novalis und mit ihm Schlegel auf mechanische und chemische Mittel, um zu verhindern, dass sich die Reflektion zwischen den Gott und sein Werk drängt. Das Werk muss das Signum des total Erdichteten tragen. Und wenn es sich um die zeitweilig doch unvermeidbare Wiedergabe von Erfahrenem handelt, dann nur in der Manier eines weitgehenden individuellen Impressionismus, der assoziativ Reales mit Irrealem vertauscht. Der Prozess geschieht vollkommen aus dem Inneren, in vollkommener persönlicher Willkür, deren "höchste Ordnung das Chaos ist", wie es Schlegel einmal formuliert.

Die Weltferne, die dieser kurz skizzierten Weltanschauung des romantischen Menschen das Gesicht gibt, lässt die eingangs beschriebene Befreiung des Menschen in einem mehr als spektakulären Lichte schimmern. Die historische Analyse erweist, dass sie nur für den künstlerischen Menschen gilt, dem ein weites Areal neuer, zumindest diskutabler Möglichkeiten geöffnet wurde. Gesellschaftliche Probleme hat die Romantik nicht gelöst, ja, war sie nicht imstande zu lösen. Freiheit erreichten nur die Ästheten. Der Gebrauch, den sie von ihr machten, hat allerdings immense Folgen: Das Verhältnis Künstler Wirklichkeit wurde endgültig gestört. Die Störung produzierte eine Unzahl neuer Seh- und Schaffensweisen, die sich nicht nur in der Literatur bis hinauf zum "nouveau roman", sondern auch im Bereich des Films niederschlugen.

Das Ausstülpen des Ich, das Lösen der Wirklichkeitsdarstellung von der Wirklichkeit, das Hineingeheimnissen des Unbekannten in das Bekannte, die Projektion des Aussergewöhnlichen auf das Gewöhnliche, das Beschliessen des Endlichen im Unendlichen, kurz die Romantisierung der Dinge scheint das Gebot der Stunde. Das Hohe und das Triviale ist ihm abhängig. Die Filmemacher und die Filmbetrachter sind gleichermassen in diesen Vorstellungen befangen.

Seit der Romantik sind Kunst und das Geniessen von Kunst Teilnahme an magischen Träumen und seit der Selbstentfremdung des industriellen Zeitalters Ersatzwelten, Äquivalenzen zur tristesse des Daseins, Ersatzbefriedigung. "Der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte!" (Freud) Und "das niedre Selbst wird mit einem besseren Selbst identifiziert." (Novalis)

Diese romantischen Tendenzen, dargestellt am Phänomen Novalis, sind europäisch, obwohl sie in Deutschland ihre Formulierung erfuhren. Denn latent waren sie vorhanden in den Manieristen der italienischen Renaissance, in den Schriften Giordano Brunos, William Shakespeares, Jakob Böhmes und Spinozas, ebenso wie in den Chants der Troubadoure, den höfischen Ritterromanen und ihrem ironischen Pendant, dem Don Quixote des Miguel de Cervantes, einem der bedeutendsten Versuche, die Realität der Welt der des Individuums anzupassen.

Wir entdecken sie bei Joyce, Wolfe, Faulkner, wie in den Traumwelten der französischen Surrealisten, im Expressionismus wie in der Malerei der Abstrakten von Kandinsky bis Pollock. Der entfesselte Titan spricht noch immer.

Den Katalog romantischer Topoi: Autonomie des. Einzelnen, Lob des Unbewussten, Ideal von Gestern statt Utopie von Morgen, das Zurück zum UR-Anfang. Ich contra Ich = Reflektion contra Nicht-Reflektion, der unter magischem Ritual vollzogene Tausch von Irrealem und Realem, das anarchische Chaos als Ordnung, die Romantisierung der Welt in einem permanenten "Inneren Monolog", diese Topoi, die wir am Beispiel des Novalis feststellten, finden wir auch in den Filmen der NOUVELLE VAGUE.
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IL GATTOPARDO Georges Sadoul sprach mit Luchino Visconti (Zurück zum Artikel in Heft 42 )

(Dieses Interview erschien in LES LETTRES FRAN€AISES und wurde von Barbara Reischel übersetzt.)

Visconti: "Das, was ich erzählen wollte", sagt mir Luchino Visconti", ist die Geschichte eines Mannes und das Abtreten einer Gesellschaft vermittels des Bewusstseins, das dieser Mann davon hat; das alles in einem fest abgegrenzten, historischen Rahmen. Ausserdem lag mir daran, alles mit echten Dekors bei den Innen- und Aussenaufnahmen zu inszenieren. Die Salons, in denen meine letzte Sequenz spielt, sind nicht (wie Sie geglaubt haben) im Studio aufgebaut, sondern es sind Räume des einzigen herrschaftlichen Palastes in Palermo, der dem Bombardement bei der Landung der Alliierten in Sizilien entgangen ist. Wir haben alle Einrichtungsgegenstände, die nicht in die Zeit vor 1860 gehören, entfernt, aber, indem wir die Einrichtung im allgemeinen bestehen liessen, haben wir dort den der sizilianischen Aristokratie eigenen Stil gefunden, der ja ein ganz anderer ist, als der römische oder der mailändische. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen sind in Italien gross, und es lag mir daran, genau den Stil des Milieus zu treffen, in dem Lampedusa geboren wurde und in dem die Personen seines Romans leben. Ich habe mir allerdings erlaubt, den Spaziergang der Verlobten in den grossen verlassenen Räumen des Palais der Salina in einer herrschaftlichen Villa in der Umgebung Roms zu drehen. In Sizilien habe ich die Fassaden, die zu sehr beschädigt waren, neu verputzen lassen, aber die einzige wirkliche Rekonstruktion war das Observatorium des Prinzen, das von meinem Architekten Mario Garbuglia entworfen wurde."

Was aber auch immer die Zuschauer von der Superproduktion (sie hat 2 Milliarden 700 Millionen Lire gekostet) gedacht haben mögen, Visconti hat nur echte Dekors verwendet, genau wie 1947 für LA TERRA TREMA, einem totalen finanziellen Reinfall.

Wir waren uns schon in Cannes begegnet. Obwohl Visconti glaubte, dass er nie wieder einen Film würde drehen können, hatte er mir damals gesagt, dass er nicht sterben wolle, bevor er nicht die beiden anderen Teile seiner geplanten sizilianischen Trilogie gedreht habe. Ich habe ihn gestern gefragt, ob er auf diesen grossen Plan verzichtet habe.

"Aber ich habe den zweiten Teil doch realisiert, mit ROCCO UND SEINE BRUDER. Die Familie stammt zwar aus Lukanien und nicht aus Sizilien, aber doch immerhin aus dem Süden. Durch das Familienfoto, das in beiden Filmen vorkommt, wollte ich die Verbindung sichtbar machen, die zwischen ihnen besteht. Für mich ist dieses Foto ein wichtiges Dokument, denn es vergegenständlicht die Familienbande."

Sadoul: Für die Werbung von DER LEOPARD hat Visconti ein Foto der Familie Salina ausgeben lassen, das auf wunderbare Weise den Stil jener vergilbten Abzüge trifft, wie sie uns unser zweites Kaiserreich hinterlassen hat. Betrachtet er vielleicht diesen Film als den letzten Teil seiner Trilogie?

Visconti: "Er gehört zum selben Zyklus, aber er steht am Rande meiner Trilogie, deren dritter Teil voraussichtlich die Geschichte einer bürgerlichen Mailänder Familie sein und die Entwicklung der Familie erzählen wird, die Cirro gegründet hat. Zwischen ROCCO (wo es beginnt) und DER LEOPARD findet man mit Recht eine Familienähnlichkeit. Die beiden Filme gleichen sich wie zwei Brüder, die sich nicht ähnlich sehen, denen ihre gemeinsame Abstammung aber zahlreiche gemeinsame Züge verleiht. Ist es schliesslich nicht dieselbe Hand, die beide Filme geschrieben hat?"

Sadoul: Diese Bemerkungen über die noch unvollendete Trilogie von Visconti haben mich zu LA TERRA TREMA zurückgeführt. Als wir damals in Cannes in einem kleinen Cafe miteinander sprachen, war ich fast der einzige, der einen Regisseur kannte, den Frankreich noch nicht kannte. Wir konnten uns eine oder zwei Stunden unterhalten, ohne dass jemand ihn grüsste oder ansprach. Heute können wir uns ruhig in eine stille Ecke auf der Terrasse des Carlton zurückziehen, die Journalisten und die Fotografen jagen Visconti, der von mehreren Mitarbeitern beschützt wird, trotzdem. Und ich erinnere mich an die Reden, die er mir um 1949 hielt. Nachdem er LA TERRA TREMA schon begonnen hatte, hatte er die Produktion unterbrechen müssen. Seine Mitarbeiter waren nicht bezahlt worden. Und er hatte das Schiff nach Rom genommen, in der Hoffnung, dort einige Millionen aufzutreiben. Seine Schritte führten ihn nach Cinecitta. Dort drehte man in riesigen Dekors FABIOLA. Den ganzen Tag lang fielen Rosenblätter auf die tausend Statisten einer römischen Orgie. Damals hatte er darüber nachgedacht, dass das Geld, das für diesen Rosenregen verschwendet wurde, ihm genügt hätte, LA TERRA TREMA zu beenden. Nichtsdestoweniger, so behaupteten böse Zungen, hätte ein Spezialflugzeug für DER LEOPARD mehrere Wochen lang die Rosen, die die Salons für den Ball Ponteleone schmückten, von Nizza nach Palermo geflogen. Ich hätte es nur berechtigt gefunden, wenn ein so grosser Regisseur wie Visconti über entsprechende Mittel hätte verfügen können, und ich fragte ihn, ob dieses Detail authentisch sei.

Visconti: "Ganz und gar nicht, sagte er mir. Wir hatten in Sizilien soviel Rosen, wie wir wollten. Wahr ist, dass im Juni, als wir die Sequenzen in der Villa Salina drehen wollten, alle Pflanzen im Garten durch die Trockenheit verdorrt waren, und dass wir die Rosenstöcke, von denen Lampedusa in seinem Roman des längeren handelt, neu pflanzen mussten. Man kann mir nicht vorwerfen, dass mein Film zu teuer gewesen ist, wenn man bedenkt, dass die Produzenten, als sie das Unternehmen planten, den Hauptdarsteller für 600 Millionen Lire engagierten. Sie haben sich gedacht, dass ein Film nie zu teuer ist, wenn er viel mehr einbringt. Mit nur einer Aufführungsdauer von 45 Tagen in zwölf italienischen Städten hatte DER LEOPARD, kaum am Anfang seiner Karriere, schon 700 Millionen eingespielt. Ich für meinen Teil finde keinen Geschmack am Kolossalen. Ich brauche, wenn das Sujet einmal feststeht, nur die Mittel, um meinen Film zu schreiben."

Sadoul: Ich stelle ihm die Frage: Warum schreiben Sie?

Visconti: "Warum? Um Geschichten zu erzählen, nicht um des schönen Stils willen. Ich gebe mir immer Mühe, weniger gut zu schreiben als ich möchte, trockener, weniger ausgeschmückt. Obwohl es mir manchmal passiert ist, in diesen Stil zu verfallen, lasse ich die Kalligraphie. Ich möchte gern, dass man meinen Stil nie bemerkt. Der Stil von Stendhal ist ein Ideal, aber ohne Zweifel ist es zu hoch, als dass ich es jemals erreichen könnte. Und ich möchte gerne hoffen, dass man eines Tages sagen wird, es sei etwas Stendhalsches in meinen Filmen.

DER LEOPARD folgt genau dem Buch von Lampedusa. Allerdings habe ich die beiden letzten Kapitel, die etwas ausserhalb des Romans stehen und bei denen ich mich frage, ob der Autor sie selbst veröffentlicht hätte, zurücktreten lassen. Sie hätten mich gezwungen, auf zuviel Schminke zurückzugreifen, um meine Darsteller zwanzig Jahre älter zu machen. Das mag ich nicht. Und habe ich nicht schliesslich in meiner letzten Sequenz, jener auf dem Ball, den Tod des Prinzen Salina gezeigt? Das einzige, was ich mir hinzuzufügen erlaubt habe, sind die Kämpfe in Palermo, die im Buch zwar angedeutet, aber nicht beschrieben sind, und die ich erweitert habe. Mir lag daran, sie am Ort selbst aufzunehmen. Die Anhänger Garibaldis werden also auf dem Märtyrerplatz erschossen, wo sie auch wirklich gestorben sind, und der seit 1860 nach ihnen benannt ist. Wir haben die elektrischen Leitungen, die Strassenlampen, die Fernsehantennen usw. nicht mit ins Bild genommen und so alles in den alten Zustand gebracht. Nur eine Tür, die damals bestand, haben wir rekonstruieren lassen.

In meiner Adaption habe ich auch die ,Montage' des Romans etwas verändert. So steht z. B. das Gespräch mit dem Priester in dem ärmlichen Gasthaus, wo die Familie Salina Rast hält, im Buch an ganz anderer Stelle. Aber sie leitet auch die Sequenz ein, wo in Donnafugata ein Offizier sich ans Klavier setzt, um ein Lied des Sizilianers Bellini zu singen, und mit dem Satz ,An den Orten, die ich liebe, sehe ich euch wieder' das Gedenken an die Toten heraufbeschwört. Da zeige ich die Familie Salina wie eine Versammlung von lebenden Toten. In gesellschaftlicher Hinsicht ist sie vom Tode gezeichnet.

Der ganze Film wird von der Atmosphäre des Todes überlagert. Vom Tod einer Klasse, eines Individuums, einer Welt, einer bestimmten Mentalität, bestimmter Privilegien. Es hat sich nichts verändert, und doch ist alles anders. Als die Familie in der Kirche ein Tedeum singt, findet sie die Bauern genau wie früher mit den Hüten in der Hand vor. Und trotzdem wird einer von ihnen, der auf erstaunliche Art reich geworden ist, sie verdrängen, sie unter die Erde bringen _... Der Druck des Todes, seine Vorahnung sind zwei meiner Hauptthemen. Ich glaube nicht, dass sie schon einen meiner vorausgegangenen Filme so beherrscht haben. Dies Thema ist auch der Kernpunkt in der grossen Schlusssequenz, wo das Alte seinen (grossen Ball gibt, um dem Neuen Platz zu machen."

Sadoul: Dann sprachen wir von Proust. Es war angekündigt worden, Visconti würde UN AMOUR DE SWANN verfilmen. Aus dem Projekt ist nichts geworden, und würde er eines Tages A LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU adaptieren, wird er wohl eher ALBERTINE DISPARUE wählen, weil er dort das Bild einer Zuchthausstrafe zeichnen möchte. In diesem Zusammenhang vergleiche ich die Sequenz des grossen Balls in DER LEOPARD mit dem Empfang bei der Marquise von Villeparisis, dessen Hauptthema eigentlich politisch ist, da es ja unentwegt um die Affäre Dreyfuss geht. Visconti sagt mir, dass er bei seinem LEOPARD wirklich oft an Proust gedacht hat. Hatte er nicht in einem Text, den ich noch nicht kannte, Antonello Trombadori erklärt:

Visconti: "Man hat geschrieben, dass ich in DER LEOPARD vor allem von der Evokation der ,Reminiszenzen' und der ,Vorahnungen' fasziniert gewesen sei, wegen einer Tendenz, sich in die Vergangenheit und in dunkle, uneingestandene, irrationale Vorahnungen einer nicht klar zu definierenden Katastrophe zu flüchten. Und folglich habe ich mich deshalb mehr auf Marcel Proust berufen, als beispielsweise auf Giovanni Verga. Falls eine solche Opposition darauf hinaus will, Proust unter jene Romancier einzureihen, die die Beziehungen zwischen innerem und sozialem Leben verneinen, und Verga unter jene, die alles nur auf die Dimensionen der wirklichen Tatsachen reduzieren, dann würde ich diese Alternative als verlogen und deformierend ablehnen. Aber wenn jemand sagt, Lampedusa habe verstanden, die Themen des sozialen Lebens und der Existenz auf eine Art anzugehen, bei der der Realismus von Verga und die ,Reminiszenzen' von Proust sich treffen, dann erkläre ich mich einer Meinung mit ihm. Denn unter diesem Gesichtspunkt habe ich den Roman, den ich verfilmen wollte, oft gelesen und meinen Film gedreht. Es ist mein bewusster Ehrgeiz, dass man sich durch Tankredi und Angelika, durch die Ballnacht im Palais Ponteleone, durch die Verbindungen von Don Calogerao und durch die Bauern in der Nacht des Plebiszits an Odette und Swann erinnert fühlen möge."

Sadoul: Ich frage Visconti nach seinen Plänen.

Visconti: "Ich habe schon mit der Arbeit für ,Joseph und seine Brüder' angefangen. Das ist ein Teil eines grossen Projekts, nämlich der Verfilmung der Bibel (wobei Robert Bresson für die Genesis Regie führen soll). Ich habe dieses Sujet gewählt, weil es wieder das einer Familie und ihrer Entwicklung ist, wie LA TERRA TREMA, ROCCO und DER LEOPARD. Ich bin schon in Südägypten gewesen, wo ich meinen Film drehen will. Ich habe dort strahlendes Licht und erdige Farben gefunden, die an Sizilien erinnern, obgleich sie härter, stärker, akzentuierter sind. Mein Traum wäre, Joseph' von ägyptischen Bauern spielen zu lassen, deren menschliche Qualitäten mich tief beeindruckt haben. Ich will auch noch ein zeitgenössisches Sujet ohne Schauspieler und Stars aus der Bibel nehmen. Im selben Stil möchte ich später in Algerien L' ETRANGER von Camus drehen. Dies Sujet habe ich vielleicht nicht ganz frei gewählt, aber ich konnte doch nicht widerstehen, als man es mir vorschlug _..."

Sadoul: Natürlich kann ein Regisseur, wie gross und bekannt er auch sei, sich seine Filme nicht immer aussuchen. Und er bewahrt sich in seinem Werk eine Vorliebe für bestimmte Stoffe. Als ich Visconti danach frage, antwortet er mir, dass an erster Stelle LA TERRA TREMA und ROCCO stehen, an zweiter OSSESSIONE, SENSO und DER LEOPARD. Es folgen BELLISSIMA, LES NUITS BLANCHES und ein Sketch von Noi Donne. Visconti sagt, dass er jetzt bei 7 1/2 sei, indem er sich auf 8 1/2 und Fellini, einen Cinéasten, den er versteht und bewundert, bezieht. Was seinen LEOPARDEN betrifft, weist er auf dessen Inhalt hin.

Visconti: "In der Ballszene sitzt der Prinz Salina am selben Tisch wie ,der Sieger von Aspromonte', der General, der Garibaldi besiegt hat. Der Aristokrat kann den Widerwillen, den ihm dieser alte Soldat einflösst, nicht überwinden. Bei anderer Gelegenheit begegnet er dem Piemontesen Chevally, der die neue italienische Bourgeoisie repräsentiert und dem ich absichtlich das Aussehen Cavours gab. Die beiden Männer sprechen miteinander, ohne sich jedoch zu verstehen. Es ist wie die Begegnung zweier Gespenster."

Sadoul: Es stimmt, sage ich mir, diese Szene ruft das Bald hervor, das Chirico einmal malen wollte: die Begegnung zwischen Cavour und Napoleon III. in Plombières als Begegnung zweier Gespenster (die sich in diesem Fall wie zwei Diebe auf einem Markt unterhalten).

Visconti: "Ob die Bedeutung, die ich dem LEOPARD geben wollte, wohl in Frankreich, wo man unsere Geschichte ziemlich schlecht kennt, verstanden wird? In Italien hat man sie sehr gut verstanden. Palmiro Togliatti hat mir einen Brief geschrieben, in dem er mir mitteilte, wie sehr und warum ihm mein Film gefallen hat. Einige Wochen später waren die Wahlen, und als die Journalisten den Sekretär der kommunistischen Partei fragten, womit er die Zeit zwischen der Abgabe seiner Stimme und den ersten Resultaten verbracht habe, antwortete er ihnen: ,Ich habe mir den LEOPARD noch einmal angesehen, und er hat mir noch besser gefallen als beim erstenmal.' "

Sadoul: Ein Meisterwerk beeindruckt alle, die den Film wirklich lieben _... DER LEOPARD hat die Jury in Cannes beeindruckt. Es ist das erstemal, dass Visconti einen "Grand Prix" bekam. Venedig hatte ihm nur Trostpreise für LA TERRA TREMA und LES NUITS BLANCHES gegeben, bevor eine politische Intrige ROCCO den "Goldenen Löwen" nahm, um ihn (so möchte man glauben) der PASSAGE DU RHIN zu geben. In Cannes suchte Visconti seine Freude nicht zu verbergen, als er seine "Goldene Palme" vor den Blitzen der Fotografen und den Fernsehkameras schwenkte. Nach dem "Grand Prix" sahen wir uns nicht wieder. Visconti war in aller Eile nach Spoleto abgereist, um dort LA TRAVIATA zu inszenieren. Dieser Renaissancemensch, der alles kann, beherrscht die Kunst des Theaters und die (so verschiedene) des Films. Schaffensfreude und Lebensfreude ist bei ihm dasselbe. Ich hatte ihn nie so beschäftigt, so voller Leben gesehen, wie dieses Jahr in Cannes _...
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Das wahre Ende des Krieges Der polnische Spielfilm II (Teil I in Heft 40 und Teil III in ; Heft 42)

Stadien der Reife

Jerzy Plazewski, Mitherausgeber des Bandes "La Cinématographie Polonaise" und Autor der Artikel in "Cahiers du Cinéma" Nr. 80, 82, 96, charakterisiert die Zeit um 1955, die für den polnischen Spielfilm von so ausserordentlicher Bedeutung war, mit dem Ausdruck "maintenant c' est permis". Damals fielen die Schranken der offiziell-offiziösen Einschränkungen durch die Forderungen dessen, was man als "sozialistischen Realismus" bezeichnet und was doch nur wenig mehr war als der Rückzug auf die wohlfeile Kunstdoktrin von der "interpretierenden Wiedergabe der Wirklichkeit" durch Stellungnahme im Sinne der Partei. Wir wollen im folgenden auf Inhaltsangaben verzichten, soweit Handlungselemente nicht von Wichtigkeit für die Dramaturgie und die Bildstruktur des Werkes sind.

Das Neuartige an Adrzej Wajdas POKOLENIE (Eine Generation-1954/55) war wohl für die Zeit, zu der er uraufgeführt wurde, die geradezu revolutionäre Technik der Montage. Plazewski schreibt in den "Cahiers du Cinéma" Nr. 82: "Die Auseinandersetzung mit der Ideologie ist in diesem Film von der Dialogebene in diejenige des Bildes und der Assoziationen in der Montage ebenso verschoben wie in die Gesamtheit der Ausstattung und der Umwelt. Die ,Westernseite' des Films wurde absichtlich unterdrückt. So hat Wajda, was die ursprüngliche Fassung des Drehbuchs angeht, auf alle die Effekte verzichtet, die gewöhnlich die Cinéasten und besonders die Regiedebütanten anziehen: Das Attentat auf eine deutsche Strassenbahn, ein Zug, der aus den Schienen springt und zerfetzt wird, die Hinrichtung eines Provokateurs und der Partisanenkampf im freien Waldgelände." Die Reduktion der Handlungselemente auf die Bilderreihen ist eine der Methoden, die noch Wajdas späte Filme, wie SIBIRSKOIJ LEDY MAGBET (Blut der Leidenschaft - 1962), auszeichnen. Was dort als überlegene Ausnutzung der Scope-Leinwand in Erstaunen versetzt, die Konfrontation von Interieur und gestischen Impulsen der Darsteller mit der Kargheit der staubgrauen Landschaft, das ist nur die gereifte Transposition der aus POKOLENIE bekannten Stilmittel.

POKOLENIE erzählt die Geschichte der Generation, die um 1942 etwa 18 Jahre zählte. Der Film, der unter der künstlerischen Oberleitung von Aleksander Ford entstanden ist, hat sich-vielleicht gerade deswegen-von den Einflüssen dieses grossen alten Regisseurs befreit. Die epische Erzählweise Fords, seine zum Teil pathetischen Symbole wie in ULICA GRANICZNA - 1949, MLODOSC CHOPINA - 1951/52, und vor allem in PIATKA Z ULICY BARSKIEJ - 1954, sind durch Wajda, der die besten Szenen und "neuesten" Einstellungen hinter dem Rücken seines Lehrmeisters gedreht hatte, auf ihren realistischen Kern reduziert und zeigen in der Aussparung von Handlungspartikeln (- die vortreibenden Geschehnisse liegen in den Schnitten -) die für ihn charakteristische gradlinig-verkürzte Dramaturgie. "Was mich am meisten an diesem Film interessiert hat, war zu zeigen, dass die Liebe in einer bestimmten politischen Konstellation zum Sterben verurteilt sein kann und dass der Mensch, trotz eines ideologischen Engagements, sich nicht seiner Gefühle entäussern kann und immer Herz und Mitgefühl behält", so rekapituliert Wajda die Essenz von POKOLENIE. Wir können hinzufügen, dass das ebenso für KANAL - 1957 wie für POPIOL I DIAMENT - 1958 gilt: der politische Mensch, der gezwungen wird, innerhalb der ideologischen Fronten die richtige zu wählen, gerät mit seiner eigenen Emotionalität in Widerstreit und erliegt schliesslich der Ideologie; der Schluss aller drei Filme ist pessimistisch. Der Weg zurück in die unreflektierte Domäne der Emotionen und Sentimente ist verstellt durch die politischen Implikationen, die sie in einer derartigen Zeit mit sich bringen.

So ist keine der 322 Einstellungen von POKOLENIE im "sozialistisch-realistischen" Sinne positiv zu nennen, und Sätze wie: "Es handelt sich um euch, dass ihr das durchmacht wie Menschen und Menschen bleibt - 187. Einstellung" werden vollkommen verdrängt durch einen solchen wie: "Vielleicht ist es leichter für die Sache zu fallen, als für sie zu leben! - 313. Einstellung". Womit sich schon von hier die Brücke zu POPIOL I DIAMENT spannt; die Kluft, die sie zu überbrücken trachtet, ist die zwischen Erinnerung und Erlebnissphäre, zwischen Idealisierung und Realität. Plazewski überschrieb ein Kapitel über Wajdas Filme mit "L' amour, La haine, La mort" - Liebe, Hass und Tod; innerhalb dieser Extrempunkte befinden sich die Menschen Wajdas, und was man bei ihm subjektiven Realismus nennt, oder romantische Züge - das ist nichts anderes als der Versuch, die Enden Liebe, Hass und Tod zu einer Synthese zu zwingen, die dem Individuum Raum lässt zum Leben. Die Verknüpfung dieser drei menschlichen Verhaltensweisen hat Ado Kyrou unter dem Titel "Le visage féminin de la révolution" in POSITIF Nr. 21 versucht; er schreibt dort, dass die Liebe mit dem Kampf sich verwirkliche und der Widerstand, für viele nur ein Zeitvertreib oder Suche nach Abenteuer am Anfang, den Menschen zu sich selbst führe.

Wajdas junge Gegen-Helden aus POKOLENIE und Maciek aus POPIOL I DIAMENT werden von der Revolution (beziehungsweise deren Vorbereitung) angezogen. In POKOLENIE sind deutliche Anklänge an den Western, allerdings nur in den Dialogen und in den Gesten der Jugendlichen, Zeichen für die Entheroisierung der jungen Partisanen. Die Kritik, die Wajda bis in die lyrischen Szenen zwischen Dorota und Stach, den beiden Hauptgestalten des Films, vortreibt, richtet sich gegen die Dehumanisierung des Menschen, der zwischen den Forderungen der Ideologie und seiner angestrebten Individualität steht. Die Modifikationen dieser Situation, in der sich Wajda selbst befunden hat, da er für den Kampf gegen die Okkupatoren noch zu jung war und für die jetzt Jungen schon zu alt ist, durchzieht sein filmisches Werk. Die pessimistische Struktur der Handlungen seiner Filme erlebt durch die sensitive Bildgestaltung Züge reiner Menschlichkeit; man hat Wajda einen sentimentalen Regisseur genannt - sofern damit seine Option für das Recht auf eine ungestörte und humane Gefühlswelt gemeint ist, so ist der Satz richtig. Die ästhetische Konstruktion seiner Filme, denen eine klassische Einfachheit zu eigen ist, ist immer zentriert um die individuelle Situation eines einzelnen Menschen. Seine Filme spielen zeitlich alle, bis auf NIEWINNI CZARODZIEJE (Die unschuldigen Zauberer - 1960) und SIBIRSKOIJ LEDY MAGBET, im oder nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Prädisposifionen der Hauptgestalten sind ohne das Ereignis Krieg oder Okkupationszeit nicht denkbar; daher bleiben die Gestalten in dem letztgenannten Film auch schemenhaft flach oder aber diabolisch monströs.

Die Montage seines Erstlings POKOLENIE ist in der Assoziationsbreite, bei der Zusammenhänge über die Situation und nicht über die Handlung hergestellt werden, eng der von POPIOL I DIAMENT verwandt. Die Parallelführung in den Hotelzimmern zwischen Maciek/Krystyna auf der einen und Szczuka auf der anderen Seite korrespondiert der in der feudalistisch ausstaffierten Wohnung der reaktionären "Ehemaligen" auf verblüffende Weise: es werden die konkurrierenden Pole des politischen und privaten Bereichs zu einer doppelten dramaturgischen Klammer gesetzt. Zum einen geben die beiden Handlungselemente die Randzonen des Films in politischer Hinsicht und deren aktuelle Problematik an, zum anderen liegt zwischen ihnen das Fluidum des psychologischen Bogens diametraler Charaktere Wajdas grosse künstlerische Fähigkeit, atmosphärische Dichte in seine Dramaturgie durch die Bildmontage hineinzuschmelzen, wird auf kongeniale Weise durch das kameratechnische Vermögen seiner Photographen Jerzy Wojcik und Jerzy Lipman ergänzt. Die Intensität der abgebildeten Gegenstände und die Konturiertheit der an und mit ihnen lebenden Menschen erleben ihren Höhepunkt in POPIOL I DIAMENT. Die Härte der Kontraste in KANAL, die den Aufnahmen von der Liquidation des Warschauer Ghettos die unerreichte und grauenvermittelnde Intensität und plastische Vielfalt des mimischen Ausdrucks gaben, ist in POPIOL I DIAMENT zu einer Weichheit der Konturen zurückgenommen, die das Geschehen auf sehr realistische Art verfremdet. Das Sterben Szczukas und Macieks ist durchschossen von Szenen aus dem sich auszehrenden Siegesfest, auf dem Redaktion und Fortschrittlichkeit einander zum Totentanz im hereinbrechenden Frühdämmerlicht treffen. Aus dieser Konfrontation (- die der zwischen Liebesszenen und Kampfaufnahmen in KANAL entspricht -) entsteht die eigenständige Realistik des Films, die im übrigen die des Romans von Jerzy Andrzejewski, der zusammen mit dem Regisseur das Skript verfasst hat, gleichkommt und die literarische Sprache des Buches in eine auf langsame Weise strömende im Film umsetzt. Man hat gegen Wojcik, der POPIOL I DIAMENT aufgenommen hat, den Vorwurf des "barocken Expressionismus" (Philippe Haudiquet) gemacht; vielmehr scheint uns, wenn man dem Kameramann schon eine Klassifikation zuteilen will, der Begriff "subjektive Sensibilität" angemessener. Einmal, weil Wojcik die Gestalten als Projektionen ihrer Handlungen mit der Behutsamkeit eines liebevollen Freundes zeichnet und zum weiteren, weil die Innenschau, die durch die Dichte der Aufnahmen erreicht wird, einer distanzierten Subjektivität gleichkommt.

Auch die nächsten Filme Wajdas bleiben im Spannungsfeld des Krieges: LOTNA - 1959 und SAMSON - 1961. Während LOTNA die polnischen Lanzenreiterattacken gegen deutsche Tanks im Jahre 1939 als Ausgangspunkt für Kritik am Traditionsbewusstsein der damaligen Offizierschargen nimmt, ist SAMSON die Geschichte eines Juden, die die sich steigernden Stadien der Verfolgung bis hin zu einem deutschen Konzentrationslager schildert. Die Bewusstseinsanalyse des Jakub Gold, die Wajda leistet, ist gleichzeitig die der damaligen Zeit aus dem Blickwinkel der heutigen; damit ist eines der wesentlichen Merkmale wajdascher Filme aufgedeckt: Sie versuchen nie, der Historizität ihres Stoffes dadurch zu entgehen, dass sie die Position des "Erzählers", also in allen Fällen die des Apparates, als gleichzeitig simulieren. Die Distanz der Jahre, die zwischen Damals und Heute liegt, bleibt gewahrt, auch ohne dass Rückblenden und dramaturgische Schleifen angebracht werden. Wajdas Episode in L' AMOUR A VINGT ANS, das Letzte was er bisher gedreht hat, schliesst den Bogen seines Werkes zurück zu POKOLENIE: Die Entheroisierung und das Beharren auf dem Recht zur Individualität, die unendlich schwer geworden ist, sind Grundelemente, die erneut variiert auf die Leinwand gebracht werden.

Die Zeit, zu der Wajdas erster Film entstand (- die Kurzfilme sollen unerwähnt bleiben -) war auch die, als sich das polnische Filmwesen weiter verbesserte. In den Produktionsangaben finden sich heute immer Angaben zur "Equipe", die den Film gemacht hat. Diese Zusammenschliessungen erwuchsen im Zuge der Dezentralisierung und Verselbständigung der Filmproduktion. Heute gibt es von diesen "Equipen" insgesamt acht, die jeweils einen filmischen und einen literarischen Oberleiter haben. Die Namen dieser Leiter sind zum grösseren Teil die bekannter oder auch noch junger Regisseure oder Szenaristen. Es sind dies: STUDIO (A. Ford/H. Hubert), KADR (J. Kawalerowicz/T. Konwicki), RYTM (J. Rybkowski/A. Scibor-Rylski), START (W. Jakubowska/J. Putrament), KAMERA (Jerzy Bossak/J. S. Stawinski), ILLUZJON (L Starski/Z. Skowronski), DROGA (A. Bohdziewicz/A. Braun), SYRENA (J. Zarzycki/J. Pomianowski).

Die Namen der anderen "grossen" Regisseure, die neben Wajda dem polnischen Film den unverwechselbaren Stempel der Reflexion über die Geschichte und das Bewusstsein einer Nation aufgeprägt haben, sind hierzulande nur mit einem oder gar keinem Film bekannt geworden.

Von Jerzy Kawalerowicz kennen wir ausser POCIAG (Nachtzug - 1959) keinen Film, besonders deshalb nicht, weil die offene Zensur des sogenannten INTERMINISTERIELLEN AUSSCHUSSES und wahrscheinlich für immer das ausgereifteste Werk dieses Regisseurs, MATKA JOANNA OD ANIOLOW (Mutter Johanna von den Engeln - 1960/61), vorenthalten wird. Über den ersten Spielfilm Kawalerowiczs wurde im ersten Teil dieses Aufsatzes bereits etwas gesagt (s. Heft 40 ); sein zweiter, CELULOZA (1954) besteht aus zwei Teilen, die zusammen über vier Stunden Laufzeit haben und thematisch mit GROMADA (1951) eng zusammenhängen. Sie heissen CELULOZA und POD GWIADZDA FRYGIJSKA (Unter dem phrygischen Stern) und lassen sich, sujetmässig, am ehesten mit Staudtes ROTATION vergleichen, wenn auch Kawalerowicz die Geschichte des Mannes, der zu politischem Bewusstsein heranwächst, aus einem anderen Milieu heraus entwickelt. CIEN (Schatten - 1956) ist in seiner kriminalistischen Struktur vielfach mit Hitchcock verglichen worden, besonders natürlich in Frankreich, wo die Vorliebe für diesen grossen Mystifikateur kultische Ausmasse annimmt. CIEN spielt - und das tut Hitchcock nie - die geheimnisvollen Umstände des Todes eines Unbekannten gegen die Bürokratie aus, zum Teil in offenen Anspielungen, zum Teil durch untergründige Parallelen. Schon auf diesen Film trifft, formal betrachtet, die "Suche nach der Form" zu, die Kawalerowicz in allen späteren Filmen betreibt. "Die Möglichkeiten der filmischen Erzählung können erweitert werden. Ich persönlich interessiere mich für alles, was diese Ausdehnung zulässt. Die Kenntnis der Methode, mit der Kamera ,zu schreiben', eröffnet dem Kino neue Wege und Perspektiven." Dieser Satz des Regisseurs enthält Programm und Schlüssel für viele seiner Filme, zumal er selbst an anderer Stelle sagt, dass POCIAG ein formaler Wendepunkt seines Schaffens war. Die Ausleuchtung der kühlen Bilder - von Jerzy Lipman in PRAWDZIWY KONIEC WIELKIEJ WOJNY (Das wahre Ende des Krieges - 1957), Jan Laskowski in POCIAG und Jerzy Wojcik in MATKA JOANNA OD AN1OLOW - führt zu den für die beiden letzten Filme charakteristischen Schwarz-Weiss-Kontrasten, die bei aller handlungsmässigen Verschlungenheit, wie sie etwa bei PRAWDZIWY KONIEC gegeben ist, zur Aufhellung durch das Bild führt. Gerade dieser Film fand wegen seiner vier Rückblenden, die aus der Nachkriegszeit in die Zeit des Krieges und vor dessen Beginn zurückführen, einige Kritiker, die von der Inkohärenz des Werkes sprachen.

Ein Mann, der während der Okkupation in einem Konzentrationslager Qualen und Schmerzen erdulden musste, lebt nach dem Krieg mit seiner Frau zusammen, die sich ihm entfremdet hat. Da er zeitweilig epileptische Anfälle bekommt und die Sprache verloren hat, will seine Frau ihn los werden. Die erste Rückblende berichtet aus der Perspektive der Frau über den gemeinsamen Ball als Jungverheiratete. Die drei anderen präsentieren aus der Sicht des Kranken Stationen seines Lebens. Die Korrelation, in der die Rückblenden stehen, ergibt die strukturelle Zusammensetzung des Films. Die Zeit, die wieder normal zu sein scheint, macht aus sich heraus das Verständnis der Vergangenheit schwer, wenn nicht sogar unmöglich; die Frau kann als repräsentativ für die genommen werden, die den Krieg, den "grossen Krieg", nur aus der Erinnerung anderer kennen und sich unter den Schrecken der Konzentrationslager nichts denken können. Die Rückblenden laufen zum Teil übereinander und ergeben ein Muster, in dem sich die Wahrheit befindet, die Genauigkeit des Zustandes, der gezeichnet wird. Kawalerowicz subjektiviert die Handlung durch die Bildkonzeption, die sich von PRAWDZIWY KONIEC WIELKIEJ WOJNY als Regel abstrahieren lässt, an der der Regisseur, in Form von ästhetischen Nachträgen, immer weiterarbeitet.

Der Titel des Films, von dem eben die Rede war, dient unseren Ausführungen als Titel; DAS WAHRE ENDE DES KRIEGES, so wäre ein vorläufiges Fazit aus dem gleichnamigen Film zu ziehen, liegt noch immer in der Zukunft, an der wir erst angefangen haben zu arbeiten. Die psychologischen Dispositionen der handelnden Personen sind primär durch den Einfluss des vergangenen Krieges bestimmt, dessen Nachwirkungen als relevant gezeigt werden. Der Rückgriff auf den Krieg als Basiselement der Handlung, der bei Wajda und Kawalerowicz festgestellt wurde, trifft für einen anderen Regisseur ebenso zu. Andrzej Munk, der im September 1961 während der Dreharbeiten zu PASAZERKA tödlich verunglückte, nimmt innerhalb der Gruppe der "Neuen" (Wajda, Kawalerowicz und Has) eine singuläre Stellung ein. Weder besitzen seine Filme die Melancholie derjenigen Wajdas, noch die formale Brillanz der von Kawalerowicz; von dem poetischen Realismus, der mit Has assoziert wird, trennen ihn wesentlich das aufklärerische Temperament, die mit einer subtilen Ironie behandelten Szenarios und der kritische Inhalt seiner nach aussenhin so konventionellen Filme. Wie Berghahn in "Filmkritik" hervorgehoben hat (6/61), war Munks CZLOWIEK NA TORZE (Der Mann auf den Schienen - 1956) der erste explizite Vorstoss gegen die herrschende Ideologie, der die administrativen Missstände beim Namen nennt. Die manifesten Aussagen des Films reproduzieren den Trend der Intellektuellen in Polen um 1956, eine Erneuerung der erstarrten Kunstformen zu versuchen.

Der 1957 gedrehte zweiteilige Film EROICA, dessen Drehbuch von demselben Mann geschrieben worden ist, der auch das Szenario zu KANAL hergestellt hatte, ist der wohl antiheroischste Film, der in Polen überhaupt gedreht worden ist. Er lässt einen Mann in die Fährnisse der Politik hineingleiten, die ihm unverständlich sind und lässt ihn widerwillig zum Kämpfer werden. Er versucht, sich zurückzuziehen, um nicht mit den Gefahren des Krieges in Kollision zu geraten, aber es gelingt ihm nicht. Wie Orzechowski, der "Mann auf den Schienen", ist Dzidzius aus EROICA ein unpolitischer Mensch. Munk geht es um die Aufdeckung der Widersprüchlichkeiten zwischen dem, was die Politik verspricht, für den einzelnen zu tun, und dem anderen, was sie ihm dann realiter zufügt. Die Deformation des Bewusstseins unter den Einflüssen des Krieges zeichnet beide Nichthelden: sie verstehen sich letztlich selbst nicht mehr. Die satirischen Bezüge, die offene Kriegserklärung an die Heroisierung der unsinnigen Opfer der militärischen und Partisanenführung hat in Polen den Film ebenfalls bei vielen Zuschauern auf Ablehnung stossen lassen. Was hier noch mit der Realität des Aufstandes in Warschau kontrastiert wird, hat in ZEZOWATE SZCZESCIE (Schielendes Glück - 1960) offen satirisch-parodistischen Charakter. Im Gegensatz zu Dzidzius aus EROICA ist Jan Piszczyk aus dem Film von 1960 ganz einfach ein Drückeberger. Seine erste politische Betätigung trägt ihm Prügel ein und alle weiteren sind ebenso unglücklich. Die deutschen Soldaten sehen in ihm den polnischen Spion, die polnischen Mitgefangenen im Lager halten ihn für den von den Deutschen gekauften Schnüffler und Denunzianten. Alles was er tut, scheitert, weil er seine Absichten ehrlich bekennt und sie nicht mit einer "Aktion Gemeinsinn" kaschiert. So bringt er es auch nach dem Krieg zu gar nichts. Seine Karriere nimmt ein ebenso plötzliches wie natürliches Ende: wieder einmal haben sich die Zustände geändert und Piszczyk sich nicht rechtzeitig arrangiert, so dass es mit dem Aufstieg vorbei ist. Die glänzenden Dialoge des Fiims, die Schnittfolgen aus langsamen und schnellen Einstellungen und die ironische Dichte des Bild-Textgebäudes machen diesen Film zu einer Satire auf die in der Verwaltung und in der Wirtschaft üblichen Kriechereien, besonders die ideologischen. Der elfte Film Munks, PASAZERKA, wurde von Witold Lesiewicz zusammen mit der Gruppe KAMERA bis heute leider nicht zu Ende geführt.       Peter H. Schröder [Korrektur in Heft 42: Pasazerka war der "letzte" Film Munks.]
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Amerikas "Schwarze" Serie (Teil 2 s. Heft 42 )

Zur Definition

So wie UNDERWORLD (Josef von Sternberg, 1927) die Reihe der klassischen amerikanischen Gangsterfilme einleitet (vgl. hierzu H. P. Kochenrath DER GANGSTERFILM in Heft 39 ) so wurde John Huston 1941 gedrehtes Erstlingswerk THE MALTESE FALCON (Die Spur des Falken) zum Ausgangspunkt einer neuen Serie der Hollywoodproduktion, die von den internationalen Filmhistorikern einstimmig als DIE SCHWARZE SERIE bezeichnet wird. So übereinstimmend, wie ihr Beginn festgesetzt wurde, so konstatierte man auch ihr Ende: den Beginn der fünfziger Jahre.

Der Begriff des SCHWARZEN, obgleich dort niemals exakt definiert, wurde aus dem Instrumentarium der Literaturkritik übernommen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ihn für seine Anwendung auf den Film neu zu formulieren. Zu dieser Definition mögen einige Filme dienen, die von der "orthodoxen" Kritik gemeinhin als "schwarz" bezeichnet werden, und die sich weiterhin deshalb besonders eignen, weil sie alle in Deutschland bekannt sind und zum Teil noch verliehen werden. Damit wird dem Leser die Möglichkeit gegeben, die hier vorgebrachten Theorien über die Serie nachzuprüfen, soweit er bereit ist, jene dunkelsten und abgelegensten Hinterhofkinos aufzusuchen, in denen diese filmhistorisch wichtigen Filme hierzulande nun einmal gezeigt werden.

Diese Beschränkung auf nur wenige Filme macht es notwendig, wichtige mehr oder weniger "schwarze" Filme der angrenzenden Bereiche des psychologischen, sozialkritischen Films wie des dokumentarischen Polizei- und Gangsterfilms auszulassen, Produktionen also, die Regisseure, wie Otto Preminger, Fritz Lang, Edward Dmytryck, Jules Dassin, Elia Kazan, Henry Hathaway, Billy Wilder, William Dieterle, Alfred Hitchcock, William Wyler und Robert Siodmak, gross gemacht haben, deren Filme besonders durch ihre "schwarzen" Seiten brillierten.

Für unsere Klassifikation mögen also dienen:

THE MALTESE FALCON (Die Spur des Falken, John Huston, 1941)
THIS GUN FOR HIRE (Die Narbenhand, Frank Tuttle, 1942)
GILDA (Gilda, Charles Vidor, 1946)
THE LADY FROM SHANGHAI (Die Lady von Shanghai, Orson Welles, 1947)
DARK PASSAGE (Die schwarze Natter, Delmer Daves, 1947)
OUT OF THE PAST (Goldenes Gift, Jaques Tourneur, 1947)
MACAO (Macao, Josef von Sternberg, 1951)

Bereits zweimal war die Vorlage verfilmt worden, die John Huston für sein Debüt gefunden hatte: der gleichnamige Kriminalroman von Dashiell Hammett. Hammett gilt als Begründer einer Schule des "schwarzen" amerikanischen Kriminalromans und zählt zusammen mit Raymond Chandler und James Cain zu deren besten Vertretern (vgl. Meino Büning NEIN ZU DR. NO in Heft 40 ). Selbst ehemaliger Privatdetektiv, war Hammett bestens mit der zwielichtigen Atmosphäre der Gangsterwelt vertraut; kannte er die fragwürdigen Methoden ihrer Vertreter, die von der meistens als korrupt dargestellten Polizei eifrig nachgeahmt wurden; kannte er auch die mannigfaltigen Beziehungen zwischen Gangstertum und bürgerlicher Welt, insbesondere zur Politik.

Der Malteser Falke ist eine kleine Plastik aus purem Gold, nach der eine Gruppe untereinander rivalisierender Gangster sucht. Der Kampf wird mit allen Mitteln geführt. Der Privatdetektiv Sam Spade (Humphrey Bogart) wird in diese Auseinandersetzung hineingezogen, nachdem sein Partner bei der Durchführung eines geheimnisvollen Auftrags einen gewaltsamen Tod gefunden hat. Sein Interesse, das sich zuerst nur auf die Aufklärung dieses Verbrechens richtete, gilt bald der Statuette, nachdem Brigid O'Shaugnessy (Mary Astor) ihn geschickt in ihre Pläne eingespannt hat. Der Schluss kommt überraschend: endlich im Besitz des Falken, stellt sich dieser als Imitation heraus.

Der Film, als billige B-Produktion erstellt, überraschte durch seine Zeichnung einer undurchsichtigen Welt des Verbrechens, der Gangster, der verkrachten Existenzen. Der bis dahin im Kriminalfilm übliche Aufbau, die logische und geradlinige Lösung eines Falles, wurde verleugnet. Kaum eine Wendung des Geschehens war für das Publikum vorauszusehen. Die verschiedenen Beziehungen Spades zu seiner Umwelt, etwa: das Liebesverhältnis zu der Frau seines Partners, das beim Auftauchen Brigids unmotiviert aufgegeben wird; sein Verhalten gegenüber der Polizei und sein Arrangement mit den Verbrechern, das nur materiellen Interessen entspringt und das sich am besten dort zeigt, als ein Sündenbock für den Mord an Spades Partner gesucht wird, und der nervöse, psychopathische Berufskiller dazu ausersehen wird. Als sich herausstellt, dass Brigid die wahre Täterin ist, überlässt er sie bedingungslos der Polizei, obwohl sich zwischen ihr und ihm so etwas wie Liebe gebildet hat; und schliesslich die Vergeblichkeit der Bemühungen, als er erkennt, dass der Falke eine Imitation ist.

Mit THE MALTESE FALCON bahnt sich auch eine vollkommen neue Typologie des Kriminalfilms an. Wichtigste Figur darin ist Humphrey Bogart, dessen moralische Zweideutigkeit auf der Schwelle zwischen bürgerlicher Welt und der Welt des Verbrechens sich durch die gesamte Serie ziehen soll. Bezeichnend hierfür sind die Brutalität, mit der er seine Gegner verfolgt, und die Negierung der Legitimation der Polizei. Die in Verfolgung seiner materiellen Interessen gezeigte Misogynie, die sich schon in den literarischen Vorlage Hammetts fand, spiegelt sich in seinem Verhalten zu seiner ehemaligen Geliebten und zu Brigid. Diese Misogynie wird in THE MALTESE FALCON noch durch die Typisierung des feisten und brutalen Gangsterchefs (Sidney Greenstreet) und einen nervös-agilen Griechen (Peter Loire) unterstrichen. In Mary Astors Darstellung kündet sich ein weiterer Typ an: die Frau ist nicht mehr wie bisher in den Kriminalfilmen erotisches Aperçu der Gangsterwelt oder Heimchen am Herd als verfolgte Unschuld. Sie wird vielmehr aktiviert, sie handelt, sie entwickelt eigene Pläne innerhalb der Welt des Verbrechens, wobei sich ihr zwielichtiger Charakter in moralischer Hinsicht entdeckt.

Ein Jahr nach THE MALTESE FALCON drehte Frank Tuttle THIS GUN FOR HIRE. Den Stoff entnahm er einem Roman von Graham Greene, dessen Werke gemeinsam mit denen der "schwarzen" Autoren Hammett, Cain und Chandler den literarischen Background der Serie bestimmen. Allerdings bezogen sich die Adaptionen allein auf die vordergründige Handlung seiner. Romane. Fritz Lang drehte so seinen MINISTERY OF FEAR (1943, in Deutschland nicht erschienen, da antifaschistisch) und Herman Shumlin CONFIDENTIAL AGENT (1945). Graham Greenes Original-Szenario zu Carol Reeds THE THIRD MAN zeugt weiterhin von der Verwandtschaft des Autors mit der SCHWARZEN SERIE.

In THIS GUN FOR HIRE wird ein Berufsmörder mit dem an Poe erinnernden Namen Raven von seinen Auftraggebern, einem Agentenring, betrogen und mit gestohlenen Banknoten bezahlt. Er beschliesst, sich zu rächen, wird aber bei der Polizei denunziert und getötet, nachdem er jedoch seine Rache noch ausführen konnte.

In der Hauptrolle dieses Films sah man zum erstenmal einen Schauspieler, dessen Darstellungen sich aus der Serie und aus dem amerikanischen Kriminalfilm überhaupt nicht wegdenken lassen: Alan Ladd. Seine ausgeglichene, eigentlich hübsche Physiognomie kaschierte eine latente Brutalität, die unvorbereitet freigesetzt wurde. Von daher bildet er den Gegenpol zu Bogart, in dessen Gesicht sich die Mischung von Sadismus und Leiden bereits ausdrückt. Alan Ladd ist ein psychopathischer Verbrecher, wenn das auch durch die rasante Handlung seiner Filme verdeckt wird. So erklärt er in THIS GUN FOR HIRE der Polizeiagentin Ellen (Veronika Lake, für die der Film ebenfalls Start ihrer Karriere war), warum er tötet: "Eine Frau. Ich träume von einer Frau. Sie hat mich immer verprügelt. Sie wollte das Böse aus mir herausprügeln. Mein Vater wurde gehenkt. Meine Mutter starb bald darauf, und ich musste dann bei dieser Frau leben: meine Tante! Vom ersten Tag an hat sie mich geschlagen, bis ich vierzehn Jahre alt war. Eines Tages erwischte sie mich mit einem Stückchen Schokolade. Sie schlug mich mit einem glühenden Feuerhaken. Dabei brach mein Handgelenk (siehe deutscher Titel, d. V.) Plötzlich hatte ich ein Messer in der Hand und stiess es ihr in den Hals. Von dem Tage an war ich ein Mörder. Man steckte mich in eine Besserungsanstalt. Da prügelte man mich auch. Aber ich freue mich, dass ich sie getötet habe."

Durch solche psychologische Motivierung der Kriminalität, die ebenfalls durchgehende Erscheinung der "Schwarzen Serie" ist, wurden der Figur des Verbrechers neue Elemente hinzugefügt, die die Stereotypie etwa der im Gangsterfilm der frühen dreissiger Jahre angesiedelten Personen aufhoben.

In ihrer umfassenden Monographie PANORAMA DU FILM NOIR AMERICAN beschreiben die Autoren Raymond Borde und Etienne Chaumeton die Anfangssequenzen von THIS GUN FOR HIRE, in der die Zwiespältigkeit des "engelhaften" Mörders Ladd bestens zur Geltung kommt: "In einer notdürftig eingerichteten Mansarde ist Philip Raven gerade aufgestanden. Er wirft einen letzten Blick auf seine Waffe und gibt seiner Katze ein wenig Milch. Bevor er geht, um seinen Mordauftrag auszuführen, vertraut er das Tier in kaltem, unfreundlichem Ton der Zimmerfrau an. Diese rächt sich, indem sie das Tier quält, nachdem er gegangen ist. Aber er geht noch einmal hinauf und ertappt sie dabei. Ohne ein Wort zu sagen, schlägt er sie zweimal mit voller Kraft, worauf sie heulend zu seinen Füssen fällt. Wieder schüttet er dem Kätzchen ein wenig Milch hin, streichelt es einen Augenblick und geht wieder weg, die ganze Zeit über schweigsam, unempfindlich - seinem Schicksal entgegen."

Ein weiterer interessanter Zug des Films liegt in der Verlagerung der Geschichte in das Milieu der Agenten, die als Wirtschaftskapitäne getarnt sind. Hier geht es um eine Formel für Giftgas. "Sie verkaufen es (die Formel) ans Ausland. Und wir bekommen es eines Tages wieder als Bomben. Aber als Bomben auf unsere eigenen Städte", sagt die Polizeiagentin in Einsicht ihrer patriotischen Pflicht. Dass Raven sich ebenfalls ein wenig an dieser politischen Seite engagiert, geht auf Kosten der amerikanischen Kriegssituation. Konsequent aber legt der Regisseur zum Schluss des Films den Hauptakzent wieder auf die Rache des Verbrechers und versagt sich die Rehabilitierung seines Helden durch zweifelhaften Patriotismus.

Auch diesem Film liegt wieder Misogynie als Wesenszug des Helden zugrunde. Sie offenbart sich aus dem gestörten Verhältnis in seiner Kindheit. Aber auch hier ist der Regisseur konsequent: als sich zwischen Raven und Ellen, die in seiner Gewalt ist, eine tragische Romanze zu entwickeln scheint, zerstört Tuttle diese sofort durch rasches Weitertreiben der Handlung. Ravens letzte Worte verurteilen Ellen als eigentlich an seinem Tode Schuldige.

THE MALTESE FALCON und THIS GUN FOR HIRE wurden durch die wenigen "schwarzen Filme" der Kriegsjahre nicht wesentlich ergänzt. Die Interessen der Filmwirtschaft lagen zu sehr auf der Zeit angemesseneren Themen. So kam die Blüte des "Schwarzen Films" erst nach dem Kriege während der Jahre 1946 und 1947 zustande.

Aus der Fülle der 1946 gedrehten Filme ragt besonders GILDA heraus, der die kurze aber markante Tradition der Serie fortsetzt. Johnny Farrel (Glenn Ford) ist nach Südamerika gekommen, um neu anzufangen, nachdem seine Frau ihm das Leben zur Hölle gemacht hat. Durch Falschspiel und dunkle Geschäfte erwirbt er sich die Freundschaft eines Spielbankbesitzers,. dessen Geschäftsführer er bald wird. Von einer Reise bringt dieser Gilda mit, die er geheiratet hat. Gilda ist Farrels ehemalige Frau. Wegen einer dunklen Affäre muss Mundson, ihr Mann, untertauchen und täuscht seinen Tod vor. Johnny übernimmt nun als testamentarischer Erbe neben der Spielhölle auch Gilda, jedoch nur aus Anhänglichkeit zu seinem ehemaligen Chef. Gilda, die versucht, seine Liebe wieder zu erwecken, wird von Johnny aus Rache gequält. Als sie dennoch wieder zusammengekommen sind, erscheint Mundson auf der Bildfläche. Beim Versuch, das Paar zu töten, wird er erstochen.

Was sich hier als allen Gesetzen der Moral widersprechender Reisser gibt, ist geschickt servierte Popularpsychologie: Mundson nimmt für Johnny Vaterstelle ein, die auch nach seinem Verschwinden durch die Atmosphäre, durch das Dekor (Mundsons Photo hängt weiterhin in Johnnys Schlafzimmer) erhalten bleibt. Der so gehemmte Held kann sich erst dann befreien, als Mundson, dessen letzter Auftritt kurz und phantomhaft inszeniert wird, seinen Tod findet.

Frappierend war jedoch die Darstellung der Titelfigur Gilda durch Rita Hayworth. Die mythische Statue des Pinupgirls wurde zerstört, aggressive Erotik wurde sichtbar. Jacques Siclier beschreibt eine der exhibitionistischen Szenen der Hayworth in seinem Buch LE MYTHE DE LA FEMME DANS LE CINEMA AMERICAIN (Paris 1956): "Eines Abends exhibitioniert sie sich öffentlich im grossen Saal des Spielkasinos, schreit ihre Frustration allen ins Gesicht, indem sie ein furchtbar erregendes Lied (Put the Blame on Mamie) singt; indem sie mit der Eleganz des erotischen Raffinements ihre langen Handschuhe auszieht, die wie lange, schwarze Strümpfe ihre Arme schmücken." Ihre Frustration, ihre geschlechtliche Unsicherheit zeigt sich weiterhin in bestimmten "männlichen" Attributen ihrer Kleidung; sie ist das Gegenstück zu dem effeminierten Charakter Johnnys. Wenn man vom Schluss des Films absieht, ist auch dieser Film in der Behandlung seiner Heldin misogyn.

Die in GILDA begonnene Veränderung des Frauenbildes wird fortgesetzt und gesteigert in Orson Welles' THE LADY FROM SHANGHAI. Wiederum wird die Frau von Rita Hayworth dargestellt. Orson Welles spielt selbst den naiven Helden, den aus dem Krieg heimgekehrten Michael O'Hara, der in eine Welt von Hass und Skrupellosigkeit gerät. Dort findet er Elsa Bannister, die die Inkorporation des Reinen und Schönen in dieser Welt zu sein scheint. Er wird in die gegenseitigen Mordpläne ihres Mannes, eines reichen Rechtsanwalts (Everett Sloane) und seines Kompagnons hineingezogen. Für 5000 Dollar erklärt er sich bereit, einen Mord vorzutäuschen, um Elsa mit sich nehmen zu können. Der Mord geschieht wirklich. Unschuldig vor Gericht angeklagt, entkommt er. Auf der Flucht, die ihn in das Spiegelkabinett eines Rummelplatzes führt, wird er Zeuge, wie Bannister und seine Frau sich gegenseitig niederschiessen.

Das Bild der Idealfrau, das die Kleiderschränke unzähliger GI's während des Krieges schmückte, der Mythos der Rita Hayworth des Pinupgirls, wurde nach der Vorbereitung in GILDA endgültig zerstört und zerbarst mit den Spiegeln des Rummelplatzes. Hinter der Maske des Reinen, des Schönen verbargen sich nun auch Immoralität, Geldgier und abgründige Kriminalität. Das in THE LADY FROM SHANGHAI den "gefährlichen" Frauen der schwarzen Filme, die am eindrucksvollsten von der "blonden Mörderin" Barbara Stanwyck dargestellt wurden.

Ebenfalls 1947 entstand ein Film, dessen Titel fast programmatisch für die gesamte Serie wirkt: DARK PASSAGE. Der deutsche Titel bezieht sich auf eine Frau, die den Helden aus Rache unschuldig ins Gefängnis brachte.

Der Film beginnt mit dem Ausbruch Vincent Parrys (Humphrey Bogart) aus dem Zuchthaus San Quentin. Das erste Drittel zeigt die Ereignisse fast ausschliesslich aus der Sicht des Ausbrechers mit Hilfe einer extrem subjektiven Kamera, wie sie konsequenter kaum jemals angewandt wurde: das Zusammentreffen mit einem Mädchen (Lauren Bacall), das ihn durch die Strassensperren bringt und versteckt, das Aufsuchen eines Freundes, der später unter geheimnisvollen Umständen ermordet wird, eine Gesichtsoperation bei einem mysteriösen Hinterhofmediziner. Trotz seines neuen Gesichts wird Parry von einem Erpresser verfolgt, dessen Gegenwart durch verschiedene, unerklärliche Details angedeutet wird. Parry tötet den Erpresser. Die Denunziantin begeht Selbstmord, indem sie aus dem Fenster springt und nachdem sie ihm die Wahrheit gesagt hat. Inzwischen ist auch die Polizei auf ihn aufmerksam geworden. Parry gelingt es jedoch, den Kordon zu durchbrechen. In einem südamerikanischen Ort trifft er seine Freundin wieder.

Ausser der typischen Person Bogarts finden wir in diesem Film eine verzweigte, nicht vorauszusehende Handlung, deren Unberechenbarkeit im Selbstmord der Denunziantin gipfelt. Die von Bogart entwickelte Brutalität scheint allerdings motivierter durch die psychologische Wirkung der Verurteilung und des Aufenthalts im Zuchthaus als in THE MALTESE FALCON.

Ein weiterer Film des Jahres 1947 ist typisch für die "Schwarze Serie". In OUT OF THE PAST wird wiederum ein Privatdetektiv (Robert Mitchum) in eine für ihn unerklärliche Handlung hineingezogen, die schliesslich seinen Tod bedeutet. Sein Gegner ist ein verschlagener Spielhöllenbesitzer (Kirk Douglas), der ihn beauftragt, eine mit 40 000 Dollar durchgebrannte Freundin aufzuspüren. Es kommt zu einem Verhältnis zwischen dem Detektiv und dem Mädchen, das sich wieder löst. Die Handlung enthält eine Unsumme von Brutalität und undurchsichtiger Dramatik. In die Galerie der "Schwarzen Serie" passt sich die ordinäre und brutale Physiognomie Robert Mitchums bestens ein. Auch die kalte Raffinesse des Mädchens zeichnet den Film als schwarz aus.

Mitchum hat auch die Hauptrolle in Josef von Sternbergs MACAO. Sternberg, der etwa 10 Jahre keinen Film mehr gemacht hatte, nahm wieder sein ureigenes Thema auf: die Exotik Asiens und die attraktive Erotik in einem Milieu gestrandeter Existenzen. Jane Rüssel vertritt hier die Rolle der erotischen, geheimnisvollen Dame, die als bankrotte und diebische Barsängerin sich jedoch den Ideen des Regisseurs nicht anpasst, wenn man dazu die Rollen von Marlene Dietrich in SHANGHAI EXPRESS (1931) und von Gene Tierney in SHANGHAI GESTURE (1941) vergleicht. Den Forderungen des "Schwarzen Films" kommt eher Gloria Grahame als Gangsterbraut mit mitleidigem Herzen entgegen, weil sich in ihr die typische moralische Doppeldeutigkeit besser manifestiert. Der Film zeichnet die düstere Atmosphäre der asiatischen Hafenstadt nach, die in den Exterieurs der Strassen und der mit Netzen bedeckten Boote besondere Attraktivität gewinnt und den oben erwähnten Filmen des Regisseurs kaum nachstehen. Gelungenste Sequenz ist ohne Zweifel die Verfolgung des Heiden durch die Gangster, die ihn für einen amerikanischen Detektiv halten, über die Boote und Netze, deren Struktur zusammen mit der Verteilung von Licht und Schatten wie auch den Bewegungen der Kamera eine Ungewisse Spannung im Zuschauer hervorrufen.

Aus den hier aufgezeigten Beispielen lassen sich leicht die wesentlichen Punkte extrahieren, die zu einer Definition der SCHWARZEN SERIE herangezogen werden müssen: Alle Handlungen spielen in einer Atmosphäre der Unmoral, des Verbrechens, das einmal organisiert als Gangstertum geschildert wird ohne sich innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft selbst abspielt. Die Kriminalität enthüllt sich in all ihren Formen. An der Tagesordnung sind Mord, Rauschgifthandel, Glückspiel, Bestechung, Erpressung, Denunziation.

Das Geschehen in diesen Filmen wird nicht in der Art der Reportage von aussen her geschildert, sondern aus der Sicht der teilnehmenden Personen. Eklatante Beispiele hierfür sind der monologische Kommentar O'Haras in THE LADY FROM SHANGHAI und die extrem subjektive Kamera in DARK PASSAGE. Allen Filmen ist eine in sich verschlungene Handlung eigen, die nicht nach den Prinzipien der logischen Aufklärung, wie sie der traditionelle Kriminalfilm zeigte, gelöst wird. Unerwartete Ereignisse geben dem Geschehen den Charakter des Unerklärlichen, des Onirischen, des Absurden. Die personellen Konstellationen, das Verhältnis der Akteure untereinander sind dauernder Veränderung unterworfen. Der Zuschauer wird durch die Veränderungen und durch das plötzliche Auftreten der Gewalt in eine besondere, dem Grauen ähnliche Spannung versetzt.

Die Filme siedeln ihre Handlung fast immer in der Gegenwart und in den USA an, wodurch gesellschaftskritischen Tendenzen Raum gegeben wird. Die Übertragung der Handlung in andere Gebiete, wie in GILDA, MACAO oder in Episoden von THE LADY FROM SHANGHAI und OUT OF THE PAST, unterstreicht einen diesen Filmen spezifischen Amerikanismus durch die Darstellung des exotischen Milieus. Die Welt des Privatdetektivs (THE MALTESE FALCON, OUT OF THE PAST) erweist sich als unberechenbar, geheimnisvoll und korrupt. Der Privatdetektiv ist wie alle Helden der Serie moralisch zwiespältig. Sein Beruf weist ihn als Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft aus, seine Methoden sind die der Gangster. Die Kriminellen werden aus dem Gangsterfilm der dreissiger Jahre entwickelten Charakterschema befreit und psychologisch differenziert. Die Identifikation von moralischen Kategorien mit physiognomischen Erscheinungen (etwa Italiener = Gangster) wird in ihr Gegenteil verkehrt (Alan Ladd). Auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ist keine Gewähr mehr für die Moralität und Integrität der Person. Vertreter der Polizei werden als korrupt und nicht weniger kriminell dargestellt. Die Nebenrollen werden sorgfältig besetzt (der Erpresser in DARK PASSAGE oder der psychopathische Berufskiller in THE MALTESE FALCON).

Das Bild der Frau, der amerikanischen Frau, als Manifestation der Reinheit und der Moral wird zerstört. Die Heldinnen werden als kaltberechnend gezeichnet und moralisch disqualifiziert. Die Liebe zum Helden wird materiellem Interesse geopfert. Misogynie ist durchgehende Erscheinung der "Schwarzen Serie".

Der Traumcharakter der Filme wird durch das realistische Dekor nicht gestört, sondern durch Verwendung der ungewöhnlichsten Schauplätze noch unterstrichen wie durch das forcierte Tempo von Inszenierung und Montage. Die Photographie folgt dem klassischen Helldunkel der germanischen Schule. Die bisher erwähnten Filme sind sämtlich im Schwarz-Weiss-Verfahren gedreht, obwohl eine reflektierte Farbenregie den scheinbaren Widerspruch "Schwarze Serie"- Farbfilm aufheben könnte. Das Geschehen auf der Leinwand wird auf eine Spielebene verdichtet. Selbst Orson Welles macht von den tiefenscharfen Einstellungen aus CITIZEN CANE in THE LADY FROM SHANGHAI nur spärlichen Gebrauch.

Diese wesentlichen Elemente, die die Filme der "Schwarzen Serie" bestimmen, finden sie noch in einer Vielzahl anderer Produktionen des beschriebenen Dezenniums. Ihre Geschichte und ihre Quellen wie auch die verschiedenen Beziehungen zu Genres und die sich wandelnden politischen und sozialen Hintergründe sollen einem Artikel in Heft 42 vorbehalten sein.       Hanns Fischer
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Filmliteratur

Eisenstein

Unsere Kenntnis der Werke Eisensteins ist fragmentarisch geblieben. Engstirnige Zensoren verhinderten meist - jüngst erst wieder bei ALEXANDER NEWSKY - Vorführungen in der Originalfassung. Die Auseinandersetzung mit Eisenstein kann deshalb für uns nur eine vorläufige sein. Allein schon aus diesem Grunde verdient jede Veröffentlichung Eisensteinscher Schriften ein besonderes Interesse.

Bisher waren von seinen Filmmanuskripten im Westen nur das nachträglich hergestellte Protokoll zu PANZERKREUZER POTEMKIN, eine Textsammlung zu QUE VIVA MEXICO und Auszüge aus anderen Filmen zugänglich. Ivor Montagu, der sich wie kaum ein anderer um das Werk Eisensteins bemüht, hat nun

S. M. Eisensteins SCREENPLAY
IVAN THE TERRIBLE
Verlag Simon ond Schuster, New York, 1962, 320 S., $ 6,50

in einer vorbildlichen Ausgabe herausgebracht.

Nach Jurenew wurde das Szenarium zu IWAN DEM SCHRECKLICHEN schon im Frühjahr 1941 fertiggestellt. Danach veröffentlichte Eisenstein einige Artikel, die über den geplanten Film Auskunft geben sollten. Er schrieb damals: "Ich studiere sorgfältig die Chronik, historische Werke, Volkslieder und Sagen über den Schrecklichen. Vor mir steht die Aufgabe, die Züge dieses ,Poeten der staatlichen Idee des 16. Jahrhunderts' im Film wiedererstehen zu lassen". Erst 1943 publiziert Eisenstein das endgültige Szenarium, dem die Übersetzung in der vorliegenden Ausgabe entspricht. Es ist noch in zwei Teile aufgeteilt, obwohl die Filmfassung nachher auf drei Teile projektiert wurde. Tatsächlich fertiggestellt wurden jedoch nur die ersten beiden Teile (1944 und 1946). Eisenstein wich schon bei der Montage des ersten Films von seiner ursprünglichen Konzeption ab; Teil II (des Szenariums) wurde ebenfalls in einen zweiten und dritten aufgespalten. Von dem letzteren sollen noch vier Rollen erhalten sein: Eisenstein starb im Jahre 1948.

Eisensteins ursprüngliche Konzeption des IWAN wird also dem vorliegenden Szenarium entnommen werden können. Der vorzügliche einleitende Aufsatz des Herausgebers bringt dazu die Erklärungen, die zum Verständnis des Werkes notwendig sind. In den Text selbst wurden Szenenbilder und vor allem Zeichnungen Eisensteins eingefügt (er fertigte zu IWAN allein über 2000 an, von denen der grösste Teil noch erhalten ist), die zusammen mit der stilisierten und bildhaften Sprache Eisensteins eine Visualisierung' für den Leser durchaus ermöglichen, über die endgültige Filmfassung der Teile I und II orientieren dann die im Anhang veröffentlichten ,Notes on the film transcripts', die nach den in der UdSSR gesetzlich vorgeschriebenen Montagelisten erstellt wurden. Eine Bibliographie, aufschlussreiche Anmerkungen von V. Nikolskaya (Sketches on the Margins) und schliesslich ein Aufsatz Eisensteins über seine Zeichnungen beschliessen diesen sorgfältig edierten Band, der ähnlichen Publikationen als Vorbild dienen sollte. Innerhalb der Sammlung Cinema, von der wir schon berichteten, erschien in diesem Jahr

S. Eisenstein: Erinnerungen
Verlag Die Arche
Zürich 1963, 224 S., DM 14,80,

nachdem zuvor die Sammelbände (Aufsätze I' und ,Vom Theater zum Film' veröffentlicht worden waren. Zwei Jahre vor seinem Tode begann Eisenstein auf dem Krankenlager mit der Aufzeichnung seiner Erinnerungen. Das Studium der lose aneinandergefügten Kapitel beweist erneut den universellen Geist Eisensteins und zeigt Einflüsse auf, denen bei einer Interpretation seines künstlerischen Schaffens nachzugehen wäre.

Es fehlt natürlich auch nicht an Anmerkungen zu seinen Filmen. Interessant dürften seine Bemerkungen zu den berühmten Kronleuchtern aus OKTOBER sein, die von jeher die Interpreten fesselten: ,Viel treffender und eindrücklicher für den Zuschauer aber gelang mir die Wiedergabe des Klirrens der kristallenen Palastleuchter als Antwort auf das Knattern der Maschinengewehre auf den Plätzen. Denn hier wird durch den visuellen und dynamischen Effekt - durch das Schaukeln der kristallenen Anhängsel - ohne weiteres die akustische Assoziation ausgelöst'.

Nach grundsätzlichen Bemerkungen zur Nahaufnahme, dem ,intellektuellen Film', über Daguerres Werk und die Farbe im Film folgt dann der Bericht über seine Begegnungen mit den Grossen des Films, seine Eindrücke in Hollywood: die big bosses und Sternberg, Stroheim, Lubitsch etc. Seine Hollywood-Projekte: Verfilmung von Dreisers ,Amerikanischer Tragödie' und Suter's ,Gold-Drehbücher', die fertig wurden, von Eisenstein dann aber nicht verfilmt werden durften. Vielleicht entschliesst man sich eines Tages doch noch zur Veröffentlichung. Sein Kommentar zu dem unvollendeten Mexikofilm, den ,stumpfsinnige Vandalen' ihn nicht beenden liessen, soll hier zitiert werden: "Aber du, Vorübergehender, glaube nicht, das hier Beschriebene in den filmischen Versionen meiner von unreinen Händen verschnittenen Varianten finden zu können, die fremde Regisseure aus dem Material montierten, das wir über das wunderbare Mexiko gesammelt haben! Zunichte gemacht sind die Ideen durch sinnlose Kombinationen, durch verzetteltes Material, durch den Verkauf der Negative für einzelne Filme, zerschlagen das Ganze, mit Füssen getreten die monatelange Arbeit _..."

Man sollte dieses Buch seinen Gegnern und Zensoren verehren: vielleicht werden sie nun endlich die Bedeutung Eisensteins begreifen lernen.       J. J.

Handbuch VI (Zurück zur Besprechung in Heft 49 )
Im Vergleich zu 6000 FILME , jenem Handbuch der Katholischen Filmkritik also, das schnell und zuverlässig Auskunft über die bis Ende 1958 in Westdeutschland gezeigten Filme gibt, bietet der fortsetzende Band
Filme 1959/61
Verlag Haus Altenberg Düsseldorf 1962 480 Seiten, DM 36,-
einige Ergänzungen, die den Informationswert des Nachschlagewerkes noch erhöhen. An der allgemeinen Konzeption als lexikalischer Index wurde festgehalten. Dieser Index erfasst nun aber auch die Filme, die lediglich im Deutschen Fernsehen zu sehen waren. Drehbuchautor, Erstaufführungstermin und die eventuelle literarische Vorlage des Films sind jetzt ebenfalls den Produktionsangaben zu entnehmen. Beträchtlich erweitert wurde der zweite Teil des Buches: er enthält neben Angaben zu Festival- und Akademiepreisen vor allem ein Lexikon der Regisseure, das allerdings auf die genannte Berichtszeit beschränkt blieb. Gerade aber dieses Lexikon sollte bei einer Neuauflage so erweitert werden, dass wenigstens die in Deutschland gezeigten Filme vollzählig genannt würden.

Unbeachtet blieb leider auch hier das ewige Stiefkind der deutschen Film-Publizistik: der Kurzfilm. Nur wenige Ausnahmen wurden berücksichtigt. Zugunsten einer Dokumentation künstlerisch relevanter Kurzfilme erscheinen jedoch einige der aufgenommenen Beiträge - zum Beispiel die Reden anlässlich der Verleihung der deutschen Filmpreise - entbehrlich.

Die ,Tafel der Toten' sollte erweitert und teilweise auch verbessert werden, wobei die Schwierigkeit, konkrete Angaben zu erhalten, von uns durchaus nicht unterschätzt wird. Nur: dass Erich von Stroheim nicht nur Darsteller, sondern auch Autor und Regisseur - von seiner Tätigkeit als Filmarchitekt einmal ganz abgesehen - war, dürfte ohne grössere Schwierigkeiten zu erfahren gewesen sein.

Was nun die teilweise problematischen Wertungen anbetrifft, - darüber haben wir schon in FILMSTUDIO 40 geschrieben. Dass es sich aber auch bei diesem Band wieder um eins der unentbehrlichen Nachschlagewerke handelt, soll erneut hervorgehoben werden.       Vö.

Bilanz der Traumfabrik

Hans Hellmut Kirst: Bilanz der Traumfabrik.
Bruckmann Querschnitte; DM 12,80; München 1963.

Zuerst denkt man an einen Buchhalter. Die Bilanz, die er der Traumfabrik aufmacht, zeigt ihren Konkurs. Jedoch das liegt Kirst fern, Gewissenhaftigkeit und bürokratische Akkuratesse fehlen, wo nur "kritische Randnotizen zur Geschichte des Films" prätendiert sind. Lobenswerte Selbstbescheidung?

"Als seinen eigentlichen Beruf bezeichnet der Verfasser zahlreicher erfolgreicher Romane den Journalismus. Kirst arbeitet an einer grossen Tageszeitung, und es ist sein besonderer Stolz, heute zu den bedeutendsten Filmkritikern Deutschlands zu gehören." In der Sprache seines Metiers kurz Vollblutjournalist genannt. Nur unter diesem Aspekt ist der selbstvergessene Übermut zu verstehen, der von kritischen Randnotizen spricht, und das Räsonieren über Film im Landesjargon meint. Denn wären die Filme so gemacht, wie Kirst über sie schreibt, wir kämen wohl nie über den westdeutschen Kitschstandard hinaus. Dennoch ist "dieses Buch eine Liebeserklärung an den Film. Aber es ist durchaus möglich, dass er das nicht merkt." Wahrscheinlich. Art und Weise, in der er um ihn wirbt, hat seine FAZ-Kollegin, die mehr der lyrischen Genremalerei zugeneigte Brigitte Jeremias, einmal als "Hack-Hack"-Methode charakterisiert. Wenn der Film sich noch nicht vollständig prostituiert hat, wird er auf Kirsts plumpe Anrempeleien nicht reagieren. Dabei hat er durchaus den Drang zum Höheren. Le bourgeois gentil' homme. Er will "Filmkunst", im Jargon des Buches "Filmkunscht" ausgesprochen. Jedoch nirgends macht er sich die Mühe zu erläutern, was er darunter versteht. Man meint, er habe von Ästhetik oder Soziologie noch nie etwas gehört.

Die Anfangsgründe der Nationalökonomie scheinen ihm jedoch bekannt zu sein. Sie reichen aber nicht weiter als zu der Allerweltsweisheit, dass Film nun eben ein Industrieprodukt sei. Wie es diesem Industrieprodukt (Kirst nennt diesen ganzen Komplex immer recht allgemein Geld, Kasse) möglich sein sollte, künstlerische Relevanz zu erlangen, darauf vermag ein Autor von Landserepen, auch wenn er zu den bedeutendsten Filmkritikern Deutschlands zählt - was ja bekanntlich nicht viel heisst, solange auch Friedrich Luft dazu gehört -, darauf vermag ein Berufsjournalist natürlich keine Antwort zu geben. Die vollständige Abwesenheit einer kritischen Methode - worauf man sich am Ende gar noch etwas zugute hält - führt zu einem gigantischen Wust farblosen Geschwätzes, oberflächlich-markigen Geredes, wie es feuilletonistischer Filmpublizistik eigen ist. Selbst der gute Wille - und der ist Kirst nicht abzusprechen - vermag allein nicht der Traumfabrik die wahre Bilanz aufzumachen. So bleibt sein Beitrag zur allbekannten "Krise des Films" innerhalb der Branche, gegen die zu schreiben er vorgibt. Die "Randnotizen zur Geschichte des Films" sind so weit vom Zentrum kritischer Reflexion entfernt, dass es kaum verlohnt, sie zur Notiz zu nehmen, es sei denn um festzustellen, dass wir in Hans Hellmut Kirst so etwas wie einen Arthur Brauner der Filmpublizistik vor uns haben.       W. Sch.

Erinnerungen

Hilde Ophüls berichtet im Nachwort von den interessanten, filmverfallenen jungen Pariser Menschen', die nach dem Tode Max Ophüls' immer wieder zu ihr kamen und den Verlust des grossen Vorbilds beklagten: es waren jene, die dann bald darauf die Erneuerung des französischen Films verwirklichen oder journalistisch unterstützen halfen. Seine eigentlichen Verehrer hat Max Ophüls in Frankreich gefunden. Dieses Land ermöglichte ihm auch seine grossen Erfolge - LA RONDE (1950), LE PLAISIR, (1951), MADAME DE _... (1953) und schliesslich LOLA MONTEZ (1955).

Es waren die Filme eines vollendeten Stilisten, die im Grunde eine heile Welt schilderten und von der Zerrissenheit ihres Schöpfers nichts ahnen liessen: Max Ophüls, geboren in Saarbrücken, ein Mann des Theaters (Wien, Frankfurt/M., Breslau und Berlin), erste Regie bei der UFA, dann, bald nach der Premiere von LIEBELEI, über Paris nach Amerika die Emigration. ,Ich nahm Abschied von ihnen. Ich nahm Abschied von der deutschen Sprache, in der ich zum Regisseur herangewachsen war. Ich nahm Abschied von den Versen, die mich hatten zum Schauspieler werden lassen _...' Max Ophüls hat unter diesem Abschied sehr gelitten, vor allem später in Hollywood. Der Erinnerungsband

Max Ophüls: Spiel im Dasein. Eine Rückblende
Henry-Goverts-Verlag Stuttgart 1959 238 Seiten, DM 15,80

endet 1941, dem Jahr seiner Ankunft in Amerika und wurde geschrieben, als er lange Zeit keine Beschäftigung finden konnte. Ohne Ressentiment, ohne Klage bleibt Ophüls immer der liebenswürdige und brillante Erzähler, der er auch in seinen Filmen war: die Erinnerungen eines grossen Unpolitischen, der verzeihen wollte und in seiner Bescheidenheit nicht von dem sprach, was ihn erschütterte. Wir wissen davon nur aus dem Nachwort. Er selbst schreibt an einer Stelle: ,Seit jenen Jahren arbeite ich an einem Buch, das wohl nie veröffentlicht werden wird, weil es sich nirgends einreihen lässt. Dieses Buch glaubt, dass Elend noch keine Kunst ist, und überspringt es deswegen. Es zeichnet auch nichts von mir selbst auf, nur die Gestalten, die mir begegnet sind und die mir unvergesslich bleiben, weil sie menschlich waren - mitten im Grauen. Mein Beruf musste im Chaos wohl schlafen gehen.' Vornehmlich von der Begegnung mit Menschen erzählt Max Ophüls auch in diesem Band; und natürlich von dem unbekannten Max Oppenheimer, aus dem dann schliesslich Max Ophüls wurde.       Vö.

Monographien

Den Lesern dieser Zeitschrift ist JEAN MITRY kein Unbekannter mehr; wir haben in Heft 37 ein Gespräch über den Western mit diesem vielseitigen Cinephilen gebracht. Er ist seit 1924 ,dabei': als Kritiker, Sekretär des ersten französischen Filmclubs, Mitbegründer der Cinémathèque Française, Dozent des IDHEC und schliesslich auch als Autor einiger Kurzfilme. Die bekanntesten dürften PACIFIC 231 (1949) und SYMPHONIE MECANIQUE (1956) sein. Seit 1954 betreut Mitry die Sammlung Editions Universitaires, deren Bände durch gründliche und umfangreiche Unterrichtung gegenüber vergleichbaren anderen französischen Reihen auffallen. Er selbst veröffentlichte u. a. in dieser Sammlung

John Ford, Tome I + II
Paris 1954 150 und 120 Seiten, je NF 6,20

und

Charlot et la 'Fabulation' Chaplinesque
Paris 1957, 210 Seiten, NF 6,20

Die beiden Bände über John Ford stehen heute nicht mehr nur in der Bibliothek des Ford-Spezialisten. Mitry folgt, nachdem er die Situation des Westerns im Jahre 1916 untersucht hat, chronologisch den Filmen John Fords, wobei die Studien zu seinen ,drei Meisterwerken' - STAGECOACH (1939), THE GRAPES OF WRATH (1940) und THE LONG VOYAGE HOME (1940) - einen breiten Raum einnehmen. Hier findet er am deutlichsten die typisch Fordsche ,vision du monde', sein ,univers' bestätigt, das herauszuarbeiten Mitry sich zur Aufgabe gemacht hatte.

Seine Studie über Chaplin ist eine kritische Auseinandersetzung - die Kenntnis der Chaplin-Literatur wird vorausgesetzt - mit der Person und dem Mythos Chaplins, der comique chaplinesque und entwirft eine critique psychologique et sociale. Eine ausführliche, chronologische Biographie und natürlich ein Index der Filme Chaplins sind beigegeben.       eff

Fernsehen - heute und morgen. Referate und Diskussionen vom 5. Internationalen Kulturkongress der Landeshauptstadt München 1962.
224 S. Laminierter Einband, DM 8,50, C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh.

Der Bertelsmann Verlag hat es in seinem Bemühen um eine Vervollständigung des

deutschsprachigen Film- und Fernsehschrifttums unternommen, die Referate und Diskussionsbeiträge des 5. Internationalen Kulturkongresses aufzuzeichnen. Der Kongress stand unter dem Leitwort "Fernsehen". Die angesehensten Fachleute aus Fernsehschaffen und -Wissenschaft nahmen teil. Man kann dieses "Unternehmen des Verlages nicht genug loben, zeigt die Aufzeichnung doch in einer Konzentration, wie sie sich wohl selten genug herbeiführen lässt, welche Haltung unsere Fernsehprominenz zum Medium Fernsehen einnimmt. So kann man aus den einzelnen Beiträgen einen übermässigen Respekt vor der Technik herauslesen. Man sollte sich endlich damit abfinden, dass "die grossen Errungenschaften der Technik gebraucht und verbraucht werden, wie die Kühe das Gras fressen", wie Einstein es formuliert hat. Daneben wird wie immer die unkontrollierbare Komponente der visuellen Kommunikation weit überschätzt. Unterstellt man dem Bild die Möglichkeiten eines teuflischen Dämons, so lässt sich gar trefflich im Dunkeln streiten. Wie erfrischend stehen daneben die angelsächsisch nüchternen und klaren Äusserungen Stuart Hoods, des Programmdirektors von BBC-Television. Welchen Wert theoretische Äusserungen dieser Art für das Fernsehen überhaupt haben, lässt sich schwer abschätzen. Von Qualität war selten genug die Rede.

K. Peltzer: Fotografieren aus dem ff;
275 S., Leinen: DM 27,80; Ott-Verlag, Thun u. München.

Bislang stand dem Fotografen und Kameramann nur das recht kleine und bescheiden aufgemachte "Photo-Fach-Begriff-ABC" von W. H. Döring zur Verfügung, wenn er sich in einem lexikografischen Werk schnell informieren wollte. Jetzt hat es der Ott-Verlag unternommen, ein wesentlich umfangreicheres und reich bebildertes Fotolexikon herauszugeben. Hauptsächlich auf den Bedarf des Amateurs abgestimmt, beschränkt sich dieses Buch nicht auf eine trockene Erklärung der Begriffe, sondern gibt in einer Reihe von Schwerpunktartikeln eine grosse Zahl praktischer Ratschläge, Tips und Faustregeln. So löblich es ist, komplizierte Zusammenhänge durch eine volkstümliche Ausdrucksweise verständlich zu machen, scheint der Verfasser in dieser Richtung doch ein bisschen zu weit gegangen zu sein, so dass eine grosse Anzahl unpräziser und sogar unhaltbarer Formulierungen zu finden sind. (Beispiel: S. 59, Der Unendlichkeitspunkt "ist das Verhältnis Brennweite/Blendenzahl") Weitere Stichproben ergaben überflüssige und verhängnisvolle Fehler. So werden z. B. die einfachen Begriffe "Objekt" und "Objektiv" häufig durcheinandergebracht. (Siehe S. 179 "13. Grundsatz: Belichtung durch Objektivmessung bestimmen") Dass sich dieser Fehler sogar in den Prospekt des Buches eingeschlichen hat, setzt dieser unerfreulichen Arbeit ein besonderes Glanzlicht auf. Grobe Fehler in Tabellen sind für den Fachmann zwar leicht zu durchschauen, können aber für den Amateur verhängnisvoll werden und mindern die Zuverlässigkeit dieses Buches ganz erheblich. (So wird auf S. 60 einem 10-mm-Objektiv bei Blende 8 und Einstellung 0,6 m ein Schärfenbereich von 0,25 m bis Unendlich zugebilligt, bei Einstellung 6 m allerdings nur von 5,63 m bis 6,43 m.) Verweisungen im Text auf die Bildtafeln fehlen völlig, so dass die teilweise recht anschaulichen Tafeln beinahe wertlos werden. Sollte aus diesen Gründen der vom Verlag vielfach erwähnte "Fachlehrer für Fotografie an einer bekannten Fotofachschule" es vorgezogen haben, als Mitarbeiter anonym zu bleiben? Einer Neuauflage wäre eine äusserst gründliche und sachkundige Überarbeitung zu wünschen.       We.
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Rückumschlag

Alle Künste können und müssen war- ten. Sie warten oft den Tod ihres Au- tors ab, um zu leben. Kann sich der Film zu den Musen zählen? Jede Muse ist arm. Ihr Geld ist angelegt. Die Mu- se des Films ist zu reich, sie kann zu leicht mit einem einzigen Schlage ver- nichtet werden. Ausserdem ist das Kino nur ein Durchgangsort, eine Zerstreu- ung, an die das Publikum sich leider gewöhnt hat, sie nur mit halbem Blick anzusehen, während für mich die Bil- dermaschine ein Mittel gewesen ist, bestimmte Dinge in der visuellen Spra- che, anstatt über den Umweg von Tinte und Papier zu sagen.       Jean Cocteau
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