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Vorwort       Filmdaten bis 1920       Filmdaten ab 1920       Filmdaten noch nicht hier       Nicht-Filmdaten

Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 39, Mai-August 1963

Inhalt
Editorial
Iwans Kindheit
Sex and Crime
Eisenstein - Renaissance
Wolf als Grossmutter
Film und Filmkritik
Franz Everschor
Prof. Dr. Ludwig Gesek
Dr. B. Kleinert
Enno Patalas
Dr. Georg Ramseger
Dr. Martin Schlappner
Dr. Fritz W. Schwarzbeck
H. D. Steinbichler
Heinz Ungureit
Distanz des Nicht-Distanzierten
Der Gangsterfilm
Index amerikanischer Gangsterfilme
Die Wahrheit ist nicht Realismus
Brief aus Helsinki
Martin-Hilfen
Rettung durch die Betriebswirtschaftslehre?
Panzerkreuzer Potemkin (Bronenosez Potiomkin)
Oktober
Die Generallinie
Que viva Mexico!
Alexander Newski
Mein grosser Freund Shane
Jules und Jim
Das Mädchen Rosemarie
Labyrinth der Leidenschaften
Professor Mamlock
Eine Frau ist eine Frau
Nachts, wenn der Teufel kam
Der Fall Gleiwitz
Wenn die Kraniche ziehen (Letjat Shurawlij)
Ein Amerikaner in Paris


Editorial

Ab dieser Nummer wird FILMSTUDIO in neuem Format erscheinen. Die Formatumstellung will dem berechtigten Wunsch unserer Leser entgegenkommen, die nach einem übersichtlichen Text und nach grafischer Klarheit verlangen. Andererseits haben wir uns zur Änderung des "Image" unserer Zeitschrift entschlossen, um FILMSTUDIO noch ausführlicher, noch "informativer" und noch umfangreicher zu machen. Zugleich wird durch das neue Format der Charakter unserer Zeitschrift als Quarterly stärker betont.

Entschiedener als bisher schon wollen wir unsere Intentionen auf das Gesamtphänomen Film richten, jenseits von problematischer Film-Kunst-Kritik und grafisch gut gestalteten Filmfeuilletonismus. Zudem erlaubt das wachsende Interesse des deutschen Filmpublikums eingehendere Untersuchungen und Erörterungen spezieller Probleme des Films, ohne dass wir von vornherein gezwungen wären, in den verhängnisvollen Zirkel esoterischen Rotwelschs zu verfallen. Unter diesem Aspekt ist die Vielfalt der Artikel dieses Heftes zu verstehen.

So widmet sich einer unserer Beiträge dem Gangsterfilm, einem Genre, dem hierzulande noch nie die gebührende Aufmerksamkeit gezollt wurde. Erst der unterschwellig und offene Einfluss dieses Filmtyps auf das Schaffen der jungen französischen Regisseure (Godard, Chabrol, Truffaut) weckte ein gewisses Interesse. Dabei ist es bis heute vorwiegend geblieben. (Den umfangreichen Index zu diesem Artikel können wir aus Platzgründen erst in Nr. 40 abdrucken.) [Wird hierher vorgezogen.]

Grundtendenzen des aktuellen deutschen Films versucht "Sex and Crime" aufzuzeigen. Gedacht ist der Artikel als eine Fortsetzung der Arbeiten von Schmieding und Hembus, die, beide 1961 erschienen, sich nur auf den Film der fünfziger Jahre beziehen konnten. Die Lücke bis zum hic et nunc sucht unser Versuch zu schliessen. Dies scheint uns um so notwendiger als das dauernde Lamento, der (west)deutsche Film sei schlecht (was er realiter ist), längst zum Vorwand geworden ist, ihn einer kritischen Reflexion gar nicht mehr zu würdigen.

Unsere Umfrage unter Filmkritikern und -Journalisten will ein Panorama der Meinungen und Prognosen für die Zukunft des Films geben. Als Beitrag zur Diskussion bringen wir ein Originalinterview mit Claude Chabrol, das im diesem Frühjahr in Paris entstand und einen Aufsatz des jungen russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij, dessen IWANS KINDHEIT in diesen Tagen in der Bundesrepublik anläuft; ein Film, der ohne Dowshenkos und Eisensteins filmische oeuvres nicht zu denken wäre. Über die Eisenstein-Renaissance in der UDSSR berichten wir in einem weiteren Beitrag. Inzwischen wurde noch bekannt, dass der Henschel-Verlag für das Frühjahr 1964 die Edition des ersten Bandes einer sechsbändigen Eisensteinausgabe plant.

Distanz des Nicht-Distanzierten sucht auf einige Momente der Godardschen Ästhetik aufmerksam zu machen; Probleme des Realismus, wie sie sich anhand von Vivre sa vie ergeben.

Unser Journal unterrichtet über die Situation des gegenwärtigen finnischen Films, nimmt Stellung zu Dr. Martins Filmhilfen und rezensiert einige Bucherscheinungen, die die Betriebswirtschaftslehre des Films zum Thema haben.

Theodor W. Adornos provokante Polemik gegen den Film hat seit ihrer Erstveröffentlichung 1951 nichts von ihrer Schärfe und Wahrheit verloren.       WS
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Iwans Kindheit von Andrej Tarkowski

Es war für mich immer, wenn ich mit Besuchern des Films IWANS KINDHEIT zusammenkam, gleichermassen erfreulich, sowohl Lob als auch freundschaftliche Kritik an dem Film zu hören. Vielleicht wäre es nützlich, den Teilnehmerkreis solcher Gespräche, wenn wir einen Film hinter uns haben und den nächsten durchdenken, zu erweitern.

Die Erzählung "Iwan" von W. Bogomolow erhielt und las ich zusammen mit dem Szenarium, an dem man mir zu arbeiten vorschlug. Sie erschien mir besser als die vielen sentimental-didaktischen Geschichten über junge Helden, in denen es völlig unvermeidlich folgende Episoden gibt: 1. Der Kleine täuscht einen feindlichen Offizier; 2. der Kleine wird in Uniform gesteckt und mit Konfekt gefüttert; 3. er wird von einer Militäreinheit - einer Grenzwache, einem U-Boot oder einem Garnisonsorchester - adoptiert.

In W. Bogomolows Erzählung fesselt uns der Charakter des Haupthelden durch die klare Entwicklung des Themas, wie sie uns - wenn auch viel grossartiger - F. M. Dostojewski in einigen seiner Gestalten zeigt. Es ist ein Charakter, der vom Krieg geboren und von ihm verschlungen wird.

Man möchte hinter der sorgfältig wiedergegebenen Episode aus dem Krieg die harten Veränderungen erkennen, die der Krieg im Leben eines Menschen mit sich bringt, hier eines sehr jungen Menschen. Man möchte wahrheitsgetreu die Stationen der Verbitterung und des Widerstands aufdecken und den inneren Kampf mit dem Wahnsinn des mörderischen Krieges zeigen. Gerade deshalb sind die in den Film eingeblendeten Träume von so wichtiger ideell-kompositorischer Bedeutung. Besonders wichtig ist der letzte Traum, den wir im Film erst sehen, nachdem wir erfahren haben, dass Iwan hingerichtet wurde. Der Zuschauer erblickt den Helden, der schon nicht mehr auf der Welt ist, und nimmt Bruchteile seines wirklichen und seines möglichen Schicksals in sich auf. Dieser letzte Traum - der Lauf über die Sandbank - wurde keineswegs deshalb gedreht, um das Finale des Films aufzuhellen (wie einige meinen); das wäre in einem Werk, in dem die Mehrzahl der Helden umkommt, falsch und geschmacklos (dass unsere Position als Filmschöpfer optimistisch ist, ist eine andere Sache). Hier wollten wir eine poetische Filmtragödie drehen.

Unter diesem Aspekt gesehen, ist auch die Linie der Mascha keineswegs eine "zusätzliche Dosis Liebe" und Cholins Zurückhaltung gegenüber Mascha kein Tribut an die Keuschheit des Dramaturgen und des Filmverleihs. Der Kuss über dem Laufgraben ist, meines Erachtens, verfremdet und assoziiert sehr indirekt einen Kuss am Grabe. Auch das ist wiederum ein tragisches Bild, jedenfalls sehe ich es so. Der Walzer kann ein bräutlicher Rausch sein oder ein anderer, der Puschkinsche "Rausch der Schlacht vor eines Abgrunds finstrer Nacht". Und das war das, was wir brauchten.

Wir suchten lange nach einer Stelle für den "Tanz der Birken" und sahen uns Dutzende von Hainen an. Wir fanden dann einen bei Moskau. Der Kameramann Wadim Jussow war begeistert. Während der Aufnahme ging ich neben ihm her und gab durch Händeklatschen den Takt an: "Eins-zwei-drei _..., eins-zwei-drei _..." Und wirklich, diese sterile Struktur des schönen, stillen Birkenwaldes deutet irgendwie, wenn auch sehr, sehr indirekt, den unabwendbaren "Hauch der schwarzen Pest" an, in dessen Umkreis die Personen des Films leben. Wir knüpften in dem Film Episode an Episode, indem wir von poetischen Assoziationen ausgingen. Die Montage wurde von Emotionen diktiert und nicht von der direkten Folge der Ereignisse.

In W. Bogomolows Erzählung wird die Darlegung der Abenteuer der Aufklärer durch die Atmosphäre gespannter Erwartung ersetzt; man spürt, wie die Front auf die entscheidende Stunde wartet. In einer solchen Situation nähen die Soldaten Knöpfe an, reinigen die Waffen, hören Schallplatten und sehnen sich nach dem Zuhause. Es werden Briefe geschrieben, Erinnerungen leben auf, und die Menschen befinden sich in einem besonders nervösen Zustand. Der moderne Film hat Mittel zur Analyse solcher verzögerter Momente angesammelt, ihm ist der Gedanke "das Leben ist wie die herbstliche Stille" nicht mehr fremd. Aber das Aufblenden einzelner Szenen, ähnlich den schnell wechselnden Gegenüberstellungen Pudowkins in "Das Ende von Petersburg" oder den Schlachten-Fetzen der "Vorstadt" von Barnet, wird heute wohl kaum mehr die Wahrheit über den Krieg ausdrücken können. Meines Erachtens muss der Film heute eine grössere Fülle von Informationen vermitteln.

In einem bestimmten Entwicklungsstadium der Filmkunst wurde es möglich, stark akzentuierte, mitunter plakathafte Bilder zu montieren, ohne von der Wahrheit abzuweichen, und so den Stil der Filmerzählung zu bilden. Einen grossen Teil dieses Films aber füllen die langsam dahinfliessenden Minuten des Wartens, Verzögerungen und Pausen, die jedoch keineswegs leere Stellen im Sujet bilden. Wenn es uns gelänge, den direkten Sujetablauf noch mehr durch eine verzögerte, nervöse Spannung zu ersetzen, kämen wir der Lösung unserer Aufgabe näher. Unser Film ist noch nicht völlig durchdacht. Vieles ist nicht gelungen, vieles haben wir nicht mehr geschafft. So riet man mir, die Episoden mit dem Alten in den Dorfruinen herauszunehmen (auch mir selbst erschien das ratsam), aber es war zu spät dazu.

Die Gegenüberstellung in der Art Kirche - Krieg, Tempel - Artilleriebeschuss ist schon zu abgedroschen. Es gelang uns aber nicht, eine Landschaft für eine weniger herkömmliche Lösung zu finden. Der Kommandostand und die Stellungen sollten nach unseren Vorstellungen in einer bizarr aussehenden keramischen Fabrik untergebracht werden. Während der ganzen Zeit des Artilleriebeschusses sollte ein menschenleeres Bild schmalspuriger Gleise gezeigt werden, auf denen sich Loren, beladen mit rohen Halbfabrikaten, unter dem Einfluss der Explosionswellen verschieben. Ich beneide M. I. Romm sehr, der über genügend Willenskraft und Mittel verfügte, um in NEUN TAGE EINES JAHRES die Szene, in der Gussew und seine Frau dem Verlagern der radioaktiven Platte zuschauen, durch ein einfaches Entlanggehen Batalows vor dem Hintergrund der Mosfilm-Mauer zu ersetzen; hier wurde die literarische Symbolik des Szenariums durch ein Element der bildhaften Filmkunst ersetzt _...

Manchmal aber erweist sich der Zwang der konkreten Arbeitsbedingungen als nützlich, und die Schwierigkeiten und die Unmöglichkeit anderer Varianten sind gleichsam als ein "künstlerischer Wink" der Natur aufzufassen. So hatten wir folgenden Plan für die Landung der Aufklärer am gegenüberliegenden Ufer: dichter Nebel, schwarze Gestalten, aufflammende Leuchtfeuer; von den Gestalten fallen Scharten auf den Nebel, eine Art körperlose Skulpturen. Aber schon der leiseste Wind in der überschwemmten Flussniederung (dort wurde der "überschwemmte" Wald aufgenommen) hätte unseren Nebelschleier ganz bestimmt zerstört. Daraufhin dachten wir uns verschiedene Aufnahmearten für die Landung beim Aufflammen der Leuchtfeuer aus, die wir unabhängig voneinander montieren wollten, so zum Beispiel: Aufflammenim Bild zwei Menschen, die Schulter eines dritten, Schwenkung nach rechts; Aufflammen - drei kleine Gestalten in der Ferne, die sich von uns fortbewegen; Aufflammen - im Bild Augen und nasse Zweige _... usw. Dann entfiel auch die Montage mit dem "Aufflammen", und wir nahmen das Material auf, das im Film verwendet worden ist, und es erwies sich als das Einfachste und zugleich Inhaltsreichste.

Aus den Erfahrungen mit diesem Material spürte ich eine Gesetzmässigkeit, die ich, wenn auch nicht formulieren, so wenigstens skizzieren möchte. Die Mängel der modernen Regie sind mehr oder weniger allgemein. Zu ihnen gehört die viel zu geradlinige Sprache der Bilder. Wenn der Held beim Gespräch mit einer Frau den Fuss auf den Stuhl stellt, auf dem ihre Kleidung hängt, so bedeutet das, dass in ihren Beziehungen ein "Riss" entstanden ist, dass er sie nicht mehr liebt _... Da das Bild "das Wesen ausdrücken soll", wie es in Lektionen so schön heisst, sehen wir sofort das Oberflächliche der Szene. Die Handlung wird hier konstruiert, obwohl zwischen dem psychischen Zustand und dem physischen Verhalten eines Menschen in Wirklichkeit gewöhnlich keine direkte Übereinstimmung besteht.

Das viel zu offensichtlich arrangierte Bild, der zur Schau gestellte Untertext, ist ein Teil der noch allgemeineren Erscheinung, dass das Bild den literarischen Anforderungen oder denen der direkten Anschaulichkeit unterworfen wird. In einem der nie veraltenden Filme, in "Atalante" von Vigo, gibt es eine Episode, in der das Mädchen und der junge Matrose, soeben vermählt, von der Kirche aus zum Schleppkahn gehen; unter den Klängen der traditionellen Harmonika wandern sie um drei grosse Heumieten herum, wobei sie bald verschwinden, so dass vor uns die leere Landschaft liegt, bald wieder von neuem auftauchen. Was bedeutet das? Ist es ein Brauch, ein Tanz der Fruchtbarkeit? Nein, die Bedeutung der Episode liegt nicht in der literarischen Nacherzählung, nicht in der Symbolik, nicht im sichtbar Metaphorischen, sondern in dem konkret angereicherten Leben. Es ist eine mit Gefühl erfüllte Form.

Meines Erachtens haben solche Begriffe wie der intellektuelle Film und der intellektuelle Schnitt keine besondere Perspektive _... Der Film bleibt etwas Emotionales, und man muss das drehen, was erlebt, erfühlt und erlitten, und nicht das, was konstruiert wurde. (Obwohl auf dem Gebiet des Montage-Rhythmus die Filme S. M. Eisensteins ein wertvolles Beispiel bleiben werden: Der auf das Gefühl einwirkende Rhythmus hilft uns, die tiefen Tiefen der Psyche direkt, ohne assoziative Stützen, zu berühren.)

Das Spezifikum unserer Kunst müssen wir auf der Grundlage von Emotionen ausarbeiten. Wir haben uns lange der Prosa untergeordnet, und das führte zu immer negativeren Folgen. Auch der poetische Film seinerseits hat seine Schattenseiten: Als junge Kunst verfällt er leicht in Manieriertheit. Aber nicht nur die Filmschöpfer, sondern auch die Zuschauer wollen sich aus der Logik der Schablonen befreien. In einer Diskussion über unseren Film IWANS KINDHEIT im Klub der Moskauer Universität sagte ein Student: "Es ist gut, dass bei Ihnen die Pferde Äpfel fressen. Hafer und Heu sind uns längst übergeworden."

Man muss von der Poesie lernen, mit wenigen Mitteln und wenigen Worten eine grosse Fülle von emotionalen Informationen zu vermitteln. Bei der Poesie zu lernen ist für die Filmschaffenden auch deshalb gut, weil man dadurch gezwungen wird, Zurückhaltung zu üben, aufrichtig zu sein und in die Welt hineinzuhorchen. Filmpoesie besteht nicht nur in bunten Gläsern und blütenreichen Katafalken - ich denke an den Film "Der Mensch geht der Sonne nach"-, sondern auch in der grösseren Verdichtung, in der grösseren Fülle.

Wenn im Film "Ein Menschenschicksal" die Kamera über Sokolow gleitet, der aus der Gefangenschaft geflohen ist, liegt in ihrer Bewegung, in dem Wogen des Getreidefeldes und in der Gestalt des Soldaten soviel Freiheitsdrang und soviel Willen _... Nur das peitschende Hundegebell kommt etwas zu früh auf das Phonogramm. Man hätte ihn noch so verweilen lassen sollen, hier, in diesem Feld, unter dem leisen Wind, in seinem Russland!

Wenn es darum geht, sich von den literarisch-belletristischen Schablonen zu lösen, wenn man sich entschlossen hat, Hand in Hand mit der Poesie und der Musik zu gehen, muss man feststellen, dass der Druck der traditionellen Malerei für die Leinwand noch schädlicher ist. Die Regisseure greifen oft noch immer lieber dazu, die Gestalt zu konstruieren, anstatt sie im Leben ausfindig zu machen. Erst vor kurzem konnte man in dem Film "Othello" ein ganzes Bildermuseum zum Shakespeareschen Text finden.

Meines Erachtens ist heute einer der wesentlichsten Momente für die ästhetische Wahrheit eines Films das Gefühl des Regisseurs und des Kameramannes für die Eigenart des Films. Der Erfolg hängt von der Fähigkeit des Regisseurs ab, ein konkretes Milieu zu entwerfen und zu finden, und von der Fähigkeit des Kameramannes, es "einzufangen".

Ein filmisch wiedergegebener Gedanke ist besonders klar und zugleich unaufdringlich. In einer Szene aus dem Film "Erde" von Dowshenko und Demuzki, bei der von einem sehr niedrigen Punkt aus die Arbeit des Pflügens aufgenommen worden war, wurden zwei Arten des Aufpflügens, des Aufiockerns gegenübergestellt: die schwarze, aufgepflügte Erde und die weissen, gleichsam aufgepflügten Wolken.

Durch das "Einfangen" des Milieus auf das Filmband (hier ist es besonders wichtig, dass der Kameramann Feingefühl besitzt; Wadim Jussow besitzt es in hervorragendem Masse), durch die Schaffung eines Bildes, das auf den Zuschauer durch die Kontraste oder durch die Einheit ihrer Zeichnung wirkt, wird der Weg geöffnet, die "literarische Erzählung" durch das "Filmgeschehen" zu verdrängen. Da geht ein Mensch an einer weissen Mauer aus Muschelkalkstein entlang; die Form der Blöcke, die Art der Fugen und das gleichsam darin kondensierte Rauschen ewiger Meere schafft den einen Kreis von Ideen und Assoziationen, den einen Teil der Charakteristik. Der andere erscheint dann, wenn wir den Gegensatz nehmen und der Held sich vor dem Hintergrund eines düster-grauen Meeres und schwarzer, unregelmässig angeordneter, pyramidenförmiger Bäume bewegt. Seine Kopfhaltung ist verändert, er setzt sich mit soeben erst gezogenen Schlussfolgerungen auseinander. Mit anderen Worten, wir gehen nicht den Weg des Verstandesmässig-Logischen, bei dem die Worte und Handlungen von Beginn an gewertet werden, sondern den Weg des Poetischen. Auf diese Weise kommen wir von der Literatur los und können schliesslich mit den Worten Puschkins sagen:
Was mühst du dich, Prosaiker,
mir kannst du jeden Gedanken geben _...

Ich sage alle diese Gedanken keineswegs als Deklaration. Ich weiss nicht, wie es mit den Antiromanen und den Antifilmen ist, aber ich bin für Antimanifeste.
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Sex and Crime

Die Krise des deutschen Films und die Tendenzen der sechziger Jahre

"Etwas ist nicht geheuer, damit fängt das an. Aber zugleich muss nach dem Weiteren, das hier das Nähere ist, gefragt werden."       Ernst Bloch

I - Wovon wir ausgehen

Wir gehen von der Krise des deutschen Films aus. In der er sich befindet, weil es ihn so gibt, wie er ist. Von der Krise, die begonnen hat, lange bevor die Auguren es herauslesen konnten. Die schon verspürbar war in den ersten Ansätzen der Produktion nach 1949, also ehe man sie materiell in der Filmwirtschaft zu spüren bekam. Die zur deutschen Nachkriegsproduktion gehört, weil das eine nur mit dem anderen zusammen gedacht werden kann. Deshalb, weil man beides immer nur isoliert betrachtet hat: Gesellschaftspolitik und Film. Und weil die Geschichte des bundesrepublikanischen Films die seines künstlerischen Zerfalls bis zur völligen Provinzialität ist. Nicht hinab: darüber hat er kaum jemals gestanden.

Aber nichts zerfällt nur so. Das lässt sich beweisen durch das Bestehen von Filmkulturen innerhalb Europas, an die man nicht heranreichen wird, wenn sich nichts Entscheidendes ändert: die gesellschaftliche Struktur der Bundesrepublik. Eines ist sicher jetzt richtig: wo der Film ernst genommen wird und wo man ihn als eine zu erlernende Wissenschaft nimmt, dort ist er zur Kunst fähiger als hier. Was vernachlässigt wird und nur geschäftliche Interessen wecken kann, das geht ein.

Dem künstlerischen Zerfall ging der gesellschaftliche voraus. Und das in einer Zeit, als die Gesellschaft sich etablierte. Oder gerade deshalb?

Wenn Film Henkerware sui generis ist, dann ist mehr als nur etwas "nicht geheuer". Nur fängt es damit nicht an. Es ist das Ende vor der Entwicklung nach vorne.

Es sprechen vom künstlerischen Zusammenbruch' erstaunlicherweise immer auch die, denen der letzte deutsche Krieg zusammengebrochen' ist. Mit dem sich Dreinschicken und dem Hinweis auf die Schicksalshaftigkeit, gleichsam so, als ob nichts daran zu ändern gewesen wäre, Mythos und Schicksal, Untertanenmentalität und Restauration verschränken sich zum intellektuellen Bankrott, an dem dann allerdings unter den genannten Prämissen nichts mehr zu ändern ist. Darin liegt mehr, als nur staatlich sanktionierte Dummheit: die Unfähigkeit, bewusst demokratisch zu denken.

"Das Weitere, das hier das Nähere ist", soll nur punktuell sichtbar gemacht werden, jeweils mit dem Blick auf die heutige Situation. Uns scheint es nachweisbar, dass sich politische und gesellschaftliche Restauration am Ableben des deutschen Films verifizieren lassen.

Der Autor verweist an dieser Stelle auf die 1961 erschienenen Publikationen von Joe Hembus und Walther Schmieding.
(Walther Schmieding: KUNST ODER KASSE - Der Ärger mit dem deutschen Film - Rütten und Loening - Hamburg 1961
Joe Hembus: DER DEUTSCHE FILM KANN GARNICHT BESSER SEIN - City-Buch bei Schünemann - Bremen 1961)

Die beiden Bücher sind Modelle, wobei ihr Rang unterschieden werden muss. Schmieding geht mit mehr analytischer Schärfe als Polemik vor, zeichnete die Verknüpfungen von Politik der Regierung und Politik der Filmwirtschaft nach und bestimmt das Dilemma als wechselseitig und nicht von einander ablösbar. Wogegen Hembus mehr die wirtschaftliche Krise im Auge behält und somit den Denkkategorien aufsitzt, gegen die er polemisiert. Verständlicherweise fehlen in beiden Veröffentlichungen Hinweise auf die Situation der letzten beiden Jahre fast ganz, da die Entstehung der Bücher wahrscheinlich in das Jahr 1960 fällt, wo vieles noch anders war als es heute ist. Nicht schlechter, sicher aber noch weniger ausgeprägt. Hier will der Autor ergänzend einsetzen, die Weiterentwicklung kennzeichnen und darüber hinaus aus dem Vorausgegangenen das Nachfolgende ableiten. Zur Systematik sei noch angemerkt, dass der Autor in einem ,repräsentativen Eklektizismus' die präzisere Methode des Darstellens sieht, da er die Bedenken gegen das bewusste Auswahlprinzip unter dem Gedanken der didaktischen Vorgehensweise nicht teilen kann, die alle diejenigen vorbringen, denen der Einblick ins Ganze fehlt, weil sich ihnen die Teilsymptome verweigern. Die Einschränkung liegt bei den Reflexionen auf den Film der Bundesrepublik. Die DDR-Produktionen sollen später einmal analysiert werden. Der Zusammenhang zwischen diesen und jenem ist der beider Staatengebilde.

II - Es ist so gekommen, weil es so kommen musste

"They resolved to leave means neither of ingress nor egress to the sudden impulses of despair or of frenzy from within".       E. A. Poe

Zuerst ist zu fragen, was gekommen ist. Die abschliessende Antwort, der schlechte deutsche, der schreckliche deutsche' Film, ist wenig profund, noch weniger befriedigend. Sie dementiert, dass er auch hätte besser werden können, so zum Beispiel, wie er es einmal war, worauf sich allerdings nur die wenigen Privilegierten besinnen können. Eher ist es anders richtiger: weil die Voraussetzungen, die man zugrundelegte, nicht die der Wirklichkeit waren, exakt so, wie es sich auch in der Geschichtsauffassung des deutschen Nachkriegsfilms verhält. Und weil der Zusammenbruch' des nationalsozialistischen Krieges nicht als die alleinige Konsequenz der nationalsozialistischen Politik genommen wurde, die bei der Errichtung eines neuen Staates hätten kritisch im Auge behalten werden müssen. Weiter, weil die Freiheit der ersten Nachkriegsjahre eine missverstandene äussere, aber keine adäquat interpretierte von innen heraus war. Der leichtfertig herbeigeführte Irrtum wurde folgerichtig zur Hypothek von beidem: der offiziellen Regierungspolitik und der offiziösen der Filmwirtschaft, wobei es bemerkenswert ist, wie sich die Hände trafen, die man sich bereitwillig, der Kompromisse und Konzessionen wegen, zugestreckt hatte. In beider Gesichtsfeld wurde das Vorausgegangene wegdiskutiert, allerorten war die Rede vom Neubeginn, dessen Unmöglichkeit und Irrealität man gar nicht im Stande war zu prüfen, weil man auf den Schutthalden der Diktatur das luftige Gebäude der Demokratie unvermittelt errichten wollte. Das Ergebnis, wie es sich uns heute anbietet, ist ebenso desillusionierend wie konsequent. Man hatte sich arrangiert, hingenommen, was inakzeptabel hätte erscheinen müssen, aber als das Akzeptabelste der Welt suggeriert worden ist, hatte hingenommen, was durch keine sanktionierte Abfindung entschädigt werden kann, weil der Neubeginn doch so verheissend gewesen ist. Er war es aber nicht.

Die Kongruenzen sind stringent. Die Datierung der Bundeswehrpolitik und die Rehabilitierung des Soldatenheros und des unbedingten Gehorsams sind nicht die einzigen Entsprechungen. Die filmische Aufbereitung wurde zur Vorbereitung der politischen Intentionen. Auch der starke Mann an der Spitze des Staates, der eigentlich alles richtig macht, war im Film schon viel eher stark und bewunderungswürdig. Das wird sich zeigen.

Das demokratische Plansoll des 're-educating', das sich mit der freien Marktwirtschaft so trefflich verträgt, da beiden der Zwang zum Gutsein und zur Liberalisierung administrativ eingebrannt ist, war mit geringen Anstrengungen schnell abgeleistet. Recht eigentlich erfolgte die Demokratisierung durch den Film überhaupt nicht. Die wenigen Filme, die den Nationalsozialismus und den Weg zu ihm in Thematik und Gestaltung integrierten, ohne Apologie der Verbrechen zu sein, weil an Hand von Randproblemen das Ganze pauschal rehabilitiert wurde, sind schnell aufgezählt. Wie ernst es einem gerade demokratisch gewordenen Staatsgebilde, dessen Mündigkeit zur Demokratie heute noch, besonders nach den Vorkommnissen des letzten Jahres, füglich bestritten werden kann, mit der Aufklärung und Bildung seiner Gesellschaft war, sei kurz belegt. Als 1955 in Cannes der Film NUIT ET BROUILLARD von Alain Resnais gezeigt werden sollte, protestierten offizielle Bonner Regierungsstellen gegen die geplante Aufführung mit der Begründung, es werde dem Ansehen des jungen deutschen Staates geschadet. Wie Ulrich Gregor in der ZEIT mit Recht dazu bemerkte, musste mit zwingender Notwendigkeit der Eindruck entstehen, die bundesrepublikanische Regierung identifiziere sich vorbehaltlos mit den Verbrechen der nationalsozialistischen Aera, deren mörderische Folgen von Resnais der Welt gezeigt werden sollten. Zwar hatte der Protest keinen Erfolg, dem Ansehen der Bundesrepublik aber war geschadet worden, durch diese selbst. Ein paralleler Vorgang zeigte sich 1962, als es um die sogenannte ,antideutsche Welle' ging, deren man die italienischen Filmproduzenten zieh. Die Protestaktionen gegen diese Welle, deren Herkunft nur allzu bekannt erscheinen muss, war ,antideutscher' als ihr Objekt.

So war dann der ,Neubeginn' zwielichtig wie alles, was man unternahm, oder besser: unterliess, um die Vergangenheit ,zu bewältigen'. Man hatte sie eher durch Vergessen überwältigt. Die chauvinistische Überheblichkeit, die aufmuckt, wenn dem Nazi das Haar auf dem Kopf gekrümmt wird, ist decouvrierend genug. Die Flut der KRIEGSFILME, die in eigener oder Co-produktion während der fünfziger Jahre hergestellt wurden, sind bis auf höchstens zwei Ausnahmen (DIE LETZTE BRÜCKE - Regie Helmut Käutner - 1954 und DIE BRÜCKE - Regie Bernhard Wicki - 1959) allesamt apologetisch, wenn nicht sogar reaktionär. Schmieding widmet diesem Abschnitt der deutschen Nachkriegsfilmgeschichte eines der besten Kapitel seines Buches - ,Des Teufels Generäle'. Diese Filme, mit ihren karikierten und dämonisierten Typen, waren zweckgebundene Entschuldigungen für den zu Recht verlorenen Krieg. Die latente Sehnsucht nach Autorität und befehlsgewohnte Untertanen waren Voraussetzungen ihres Erfolges. Und sie hatten welchen. Die Bundeswehr und die NATO, den Präventivkrieg und den brutalsten Antikommunismus haben sie respektabel gemacht.

Das Sujet der Filme, die geringen Differenzen in der Typologie und deren detaillierte Dramaturgie können dem Aufsatz Schmiedings entnommen werden. Es bewahrheitet sich indessen, dass die zunehmende ideologische Verhärtung und der nur nach rückwärts gerichtete Blick zur Vernebelung und zum Verrat der Wirklichkeit führten, ein Vorgang, der bis heute, konsequenterweise, noch nicht abgeschlossen ist. Die konkrete, messbare, rationale Einsicht in Zusammenhänge sozialpolitischer Art, das Aufspüren der 'hidden persuaders', der Hintermänner des Wunders und des gleichzeitigen Rückschritts, alles das ist im deutschen Film der Nachkriegszeit unauffindbar. DIE BRÜCKE von Wicki, ROTATION von Wolfgang Staudte (1948) und DER UNTERTAN (1951) vom gleichen Regisseur, LISSY (1957) und STERNE (1959) von Konrad Wolf, sind Ausnahmen, die nur die Regel der herrschenden Affirmation bestätigen. Zumal vier dieser Filme DEFA - Produktionen sind, die zu der Zeit noch liberaler war, als sie es heute ist. Gerade am Beispiel Staudtes lässt sich der Niedergang exemplifizieren: die beiden angeführten Filme dieses Regisseurs sind bedeutend, anschliessend ging er in die Bundesrepublik und nahm dort das Thema seines nicht zweifelfreien Films DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) wieder auf. Die von ihm gedrehten Filme sind, in ihrem Insistieren auf die schon längst allgemein ,bewältigten' Themen, renitent und im guten Sinne aufrührerisch. Die Zeit jedoch, in der diese Filme von Staudte produziert wurden, lässt diese Besessenheit kaum noch zu. Oder aber, sie nimmt sie nicht mehr wahr. Der letzte Film Staudtes, DIE DREIGROSCHENOPER (1963), ist der künstlerische Bankrott des Regisseurs. Der Niedergang, der den vorausgegangenen Filmen schon immanent war, ist hier zum Durchbruch gelangt. Der Ausstattung ist Staudte erlegen, die allerdings selbst schon Niederlage genug ist.

Die ,sozialkritischen' Filme der späten fünfziger Jahre zeigen das Stigma der Gesellschaft in der Umkehrung. Weder sind soziale Wirklichkeit, noch kritische Beobachtung ihnen in Wahrheit zertifizierbar. Die Leistungen noch des schwächeren Teils der 'serie noire' des amerikanischen Films der vierziger Jahre stehen über denen des deutschen des genannten Zeitraums vor 1960. An ihnen wird der Satz Ernst Blochs zur Wahrheit über den deutschen Film, obgleich er ehemals dem amerikanischen der Traumfabrik gegolten hatte: "Und selbst die Sozialkritik, die früher hie und da in einigen Amerikafilmen vorkam, sie war damals schon, dem Kapitalismus gegenüber, wenig mehr als das Raffinement einer kritischen Apologie _... mit Stacheln nur noch gegen die Wahrheit."

Die Frage jedoch, die wir diesem Abschnitt voranstellten, ohne sie expressis verbis als eine solche zu formulieren, ist zu beantworten durch ihre Neuformulierung: es ist so gekommen, weil die Bedingungen der Gesellschaft, die in sich eher regressiv als progressiv war und es noch immer ist, nur zuliessen, dass es so kommen konnte. Das Fehlen der relevanten politischen Opposition korrespondiert dem Mangel an filmischer Avantgarde. Wie in der aufblühenden Wirtschaft, so in der Filmwirtschaft nur das: Tüchtigkeit und Handwerk.

III - Profit und Verlust

Man hat nicht nur zugelassen, dass es so kam, sondern korrekter: der Versuch seitens der Filmwirtschaft, zu verhindern, was noch möglich war, ist unterblieben. Film als reine Industrie - ("Wir sind doch kein Kulturbetrieb, wir sind doch eine Industrie") -, ohne die Einsicht in seine kulturelle Bedeutung, die starre Fixierung der Kasse ohne die Möglichkeit zu sehen, dass Film mehr sein muss, als blosse Industrie, um mit Recht FILM genannt werden zu können, diese Theoreme, die auch ausschliesslich praktiziert wurden, sind ruinös schon vom Ansatz her. Die Argumentation der Produzenten ist oberflächlich und unreflektiert. Gerade aus der Perspektive des Profits gesehen, darf die Fähigkeit des Films, Kunst sein zu können, nicht geleugnet werden, weil auch das die Geschäfte verdirbt. Die ökonomische Borniertheit ist der Untergang der rentablen Ökonomie. Das Konsumdenken, das diesen Satz kennzeichnet, ist Signum der hochindustriellen Gesellschaft. Der Kunde sei König, heisst es überall, aber noch nie hat sich ein König solchermassen dem Diktat der Verschleierung unterwerfen müssen. Die Bedürfnisse, die noch nach Kriegsende als echte Notwendigkeiten vorlagen, sind längst über den Sättigungsgrad hinaus befriedigt. Die Kulturindustrie, deren Gesetzmässigkeiten die gleichen sein müssen, wie die der Restindustrie, korrumpiert noch jene, die sich herausgehalten haben.

Der Profit ist messbar. Die Bilanz sorgt dafür. Nur das Messbare ist das Profitable. Die Risiken der Kunst werden durch künstliche Risikofreiheit ersetzt, untergeordnet der Partitur der Gewinn- und Verlustrechnung. Der Massenbetrug der 'public-relations' ist jener der Industrie, die davon lebt. Die Freiheit, deren man sich so lauthals rühmt, ist längst durch die Werbung abgeschafft. Die obstinante Dummheit, für wahr zu halten, was in sich das Unwahre ist, nicht wahr haben zu wollen, dass die gedrillte Fiktion des sogenannten Publikumsgeschmacks nur die Projektion des mangelnden eigenen ist: das ist bereits die Krise der Filmwirtschaft. Nicht die der Kunst - darum geht es doch heute schon längst nicht mehr.

Die überstürzende Rastlosigkeit der ,Jahre zum Wunder' hatte, konsequent der Lehre vom Umschlag der Quantität in Qualität, die behagliche Sattheit und relative Zufriedenheit zur Folge, die die ,wunderbaren Jahre' mit ihrem Einklang auszeichnet. Dass dabei Selbsttäuschung der vermeintlichen Nutzniesser vorliegt, ist selbstverständlich. Oder, unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Bedingungen: die Beseitigung der ökonomischen Krise des einzelnen Bürgers und das Sichentwickeln der Solidität führten zur Krise des Films, weil dieser die Verbesserungen und damit verknüpften Wandlungen des Unterhaltungsbedürfnisses nicht gesehen hat. Da nunmehr nur noch das Beste gerade soeben gut genug ist, wird alles zurückgewiesen, was noch gestern frisch war. Dass die Krise gerade einen Hauptzweig der Kultur betrifft, die gleichwohl diese Kategorie als quasi Beleidigung zurückweist, zeigt wie die angeblichen Privilegien und Präferenzen der Kultur, deren Liberalität und Autonomie, unter dem ökonomischen Druck und den Nötigungen der Wirtschaft, korrumpiert und zerspellt werden. Und es beweist weiterhin, dass die Filmwirtschaft dem zugehört, wovon sie sich absentieren will: der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung. Durch die paar schönen Stunden im Kino soll suggestiv und doch so deklamatorisch die Vorstellung im Zuschauer wachgerufen werden, das Unwirkliche sei das Wahre, der Schein die Wirklichkeit, und umgekehrt, diese draussen nur jener drinnen auf der Leinwand. Die Kalkulation ging auf andere Weise stimmig auf, als die dachten, die sie vorkalkulierten: der Schein, den man zu sehen wünschte, war ein anderer geworden als der, den man zu produzieren fähig war.

Vorfabrizierte Panoramen, die fixativ den Sektor Unterhaltung zur Goldmine machten, die nicht mehr im Himmel gelegen war, sondern auf der Erde ausgebeutet wurde. Die schönen Träume vom grünen Gras, der roten Heide und dem blauen Meer waren durchsetzt schon vom Folgenden: die mögliche Vernichtung durch atomare Kräfte, an die man sich zu gewöhnen hatte. Der potentiellen Katastrophe und der physischen Auslöschung der Menschen geht zur Zeit die psychische voraus. DAS LEBEN MIT DER BOMBE ist dem gleichen Fatalismus zuzurechnen, wie die Akzeptanz des Nationalsozialismus als Fatum. Das allgemeine Arrangement mit der Macht hat im Film längst stattgefunden.

In der verlorenen Heimat und deren rustikalen Muffigkeit etablierte sich rüstig und fidel der Heimatfilm. Die Einschätzung der betrügerischen und zynischen Fiktion der Liese Müller von der Strasse, die aus dem Kontor ins Kino eilt, spiegelt die fehlende Einsicht ihrer Urheber ins Bewusstsein der Zuschauer: Sie liebt diesen Film, nicht, weil sie glaubt, jemals so leben zu können-feudal und ländlich sittlich, hochherrschaftlich und zurückgezogen exklusiv-sondern weil sie ahnt, dass es ein Traum ist, irreal und verurteilt, es zu bleiben - deshalb liebte sie ihn. Ihre eigene Situation war noch so miserabel, dass der Traum vom besseren Leben im Heimatfilm befriedigt werden konnte. Solange galten diese Vignetten etwas: der Familienfilm, die süsse Sünde und die Reise ins Glück. Mittlerweile ist durch Teilbefriedigung der elementarsten materiellen Wünsche die geforderte Ersatzbefriedigung eine durchaus andere geworden.

STEFANIE liebten alle noch, STEFANIE IN RIO war unattraktiv, ganz einfach deswegen, weil der Zuschauer doch nie nach Rio de Janeiro wird fahren können. Den Zauber der Ferne vermag nur noch der Dokumentarfarbfilm unverfälscht zu vermitteln. Keine Handlung, die kontrolliert werden kann, stört die Prädisposition. Der Millionär, der den Muff des Hinterhauses durch den weniger penetranten seiner Vierzehn-Zimmer-Villa substituiert, war durchschaut und nicht mehr so gefragt. Auch LIANE war nackt nur einmal ein schönes Geschäft. Das Amerika der TRAPPS interessierte weniger als ihr Wien. Liese Müller, die es gar nicht geben kann, war dem Filmproduzenten vorausgeeilt. Dem Tod in Hollywood war der in Geiselgasteig gefolgt.

Als Reisen noch unmöglich war, da ausserhalb der finanziellen Möglichkeiten, genügte Heimat, die Einschränkungen der effektiven' Wirklichkeit zu kompensieren. Als die ersten Italienurlauber braungebrannt und enthusiasmiert zurückkamen, kamen die Italienfilme en vogue, um auch die teilnehmen zu lassen, die noch nicht den Augenschein gegen dessen Widerschein auf der Leinwand setzen konnten, auch, um die Italienwelle zu stimulieren. Da Urlaubszeit Erholung ist, sich alles dann ins Ideale verklärt, waren die einschlägigen Filme durch und durch idealisiert und völlig unwahr. Nicht Italien war zu sehen, sondern die Eindrücke des freudig gestimmten Urlaubersinns. Attraktiv konnte daher Italien auch nur solange sein, als nicht jedermann an ihm partizipieren konnte.

Fernsehen locken die Zuschauer vom Parkett der Kinos in den Sessel der Komfortwohnung: das ist nur richtig, wenn man subsumiert, dass niemand sich locken lässt von etwas, das ihn nicht anspricht. Wer die Wahl hat zwischen der illusionären Breitwand und dem illusionären Bildschirm, der wählt mit Recht den Bildschirm. Das Interesse der Zuschauer am Film hat nachgelassen, weil jenes des Films am Zuschauer immer geringer geworden ist. Die Produzenten glaubten der Rentablität gewiss sein zu können, nachdem sie die Idee einer Serie von Genrebildchen zuwege gebracht hatten, dieser Abfolge steriler Dosen geträumten Kitsches, in der die filmische Wirklichkeit für sie wirklich wird. Die 'pattern', woran man sich in diesen Kreisen orientiert, sind die des Standardfabrikats ohne dessen mögliche Qualität. So kam es, dass plötzlich die Realität der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung eine andere geworden war, als man sie trainiert hatte, darzustellen. Jenseits des Gesichtsfeldes der Filmwirtschaft war ein so gewaltiger Strukturwandel vonstatten gegangen, der denen entgehen musste, die sich nie um die Wirklichkeit vor den Ateliers bekümmert hatten.

Die relative Sattheit zu Hause postuliert andere Reize, neue, stärkere. Nach der Ausweitung des Televisionssystems war Kino in seiner abgestandenen Form schal geworden. Der behagliche Fernsehstuhl, mit den Accessoires des guten Lebens zur Seite, ist verlockender als die enge Kinoreihe, es sei denn, sie hat mehr zu bieten, als die von ihr gewohnte und vom Fernsehen konzedierte Kost. Da aber der Bildschirm dazu bestimmt ist, Sonne ins Heim zu bringen, nicht aber nackte Brutalität oder brutale Nuditäten, gab es für die am Boden liegende Filmwirtschaft eine Chance.

IV - Das serielle Verbrechen

"Leider gibt es auch Wallace, bei dem es trotz einer so guten Sache wie dem ,Sechsten Sinn des Mr. Reeder', besonders leicht möglich ist, nicht gefesselt zu sein."       Ernst Bloch

Und sie wurde genutzt. Edgar Wallace, dessen Bücher schneller geschrieben wurden, als der Setzer sie für den Druck fertig machen konnte, hat ca. 150 Kriminalromane in der Nachfolge Sir Arthur Conan Doyles geschrieben. Die Auflagenziffern bei GOLDMANN liegen hoch in den Millionen. Dieser Kolportagevorlagen bemächtigte sich der Film im Jahre 1959.

Die RIALTO-PRODUKTION drehte bis heute zwölf Filme nach Romanen von Wallace, je einen die KURT-ULLRICH-PRODUKTION und die CCC. Vom Verleih freiwillig und in richtiger Einschätzung der Sachlage als Leinwand-Serials apostrophiert, wurden die bekannt und berühmt gewordenen Vorlagen bis auf eine Ausnahme ohne Änderung des Titels durch die Kamera gezogen und filmisch aufgebessert und modernisiert.

(1. DER FROSCH MIT DER MASKE (Froen med masken) Dänemark 1959 - Produktion: Rialto - Verleih: Constantin - Regie: Dr. Harald Reinl.
2. DER RÄCHER - Deutschland 1960 - Produktion: Kurt Ulrich - Verleih: Europa - Regie: Karl Anton -
3. DER ROTE KREIS (Den blodroede cirkel) Dänemark 1960 - Produktion: Rialto - Verleih: Prisma - Regie: Jürgen Roland -
4. DIE BANDE DES SCHRECKENS - Deutschland 1960 - Produktion: Rialto - Verleih: Constantin - Regie: Dr. Harald Reinl -
5. DER GRONE BOGENSCHÜTZE - Deutschland 1960 - Produktion Verleih: Rialto/Constantin - Regie: Jürgen Roland -
6. DIE TOTEN AUGEN VON LONDON - Deutschland 1961 - Produktion: Rialto - Verleih: Prisma Regie: Alfred Vohrer -
7. DAS GEHEIMNIS DER GELBEN NARZISSEN England/Deutschland 1961 - Produktion: Omnia Pictures, Steven Pallos, Donald Taylor, Rialto - Verleih: Prisma - Regie: Akos von Rathony -
8. DER FÄLSCHER VON LONDON - Deutschland 1961 - Produktion: Rialto - Verleih: Constantin - Regie: Dr. Harald Reinl -
9. DIE SELTSAME GRÄFIN - Deutschland 1961 - Produktion: Rialto - Verleih: Constantin - Regie: Josef von Baky -
10. DAS RÄTSEL DER ROTEN ORCHIDEE - Deutschland 1961 - Produktion: Rialto - Verleih: Constantin - Regie: Helmut Ashley - Buch: Trygve Larsen. Nach dem Roman ,Gangster von London' von Edgar Wallace -
11. DAS GASTHAUS AN DER THEMSE - Deutschland 1962 - Produktion: Rialto - Verleih: Constantin - Regie: Alfred Vohrer -
12. DER FLUCH DER GELBEN SCHLANGE - Deutschland 1962 - Produktion: CCC - Verleih: Constantin - Regie: F. J. Gottlieb -
13. DIE TÜR MIT DEN SIEBEN SCHLÖSSERN Deutschland 1962 - Produktion: Rialto - Verleih: Constantin - Regie: Alfred Vohrer -
14. DER ZINKER - Deutschland 1963 - Produktion: Rialto - Verleih: Constantin - Regie: Alfred Vohrer - In Vorbereitung)

Als Novum gegenüber den Serienproduktionen der fünfziger Jahre, die zumeist an der zweiten, höchstens dritten Folge verstarben, gilt zumindest dies: waren diese an der Gestalt des Hauptdarstellers fixiert, meist an der Hauptdarstellerin, und wenig oder gar nicht am Sujet im Handlungssinne, so sind die Wallaceverfilmungen genremässig völlig identisch, und ausserdem, was nicht verwunderlich ist, wenn man die literarischen Vorwürfe kennt, auch streng inhaltlich.

"Der musisch aufgeschlossene Zeitgenosse verlangt andere Kost von der Leinwand. Er fordert, was das moderne Theater ihm sträflich vorenthält: Handlung, Handlung, Handlung. Wir Bürger eines genormten Daseinstils haben ein verständliches Bedürfnis nach behaglichem Wohlbefinden durch blutige Kata-Strophen, nach Seelenharmonie durch Mord. Der Zweck heiligt die Mittel, als da unter anderem sind: Flinten, Brownings, Schlagringe, Maschinenpistolen und Gummiknüppel, um nur die harmlosesten zu nennen." (Pressemitteilungen zu: Ein Toter sucht seinen Mörder - Europa-Filmverleih)

Es verwundert, wohin die Einsicht in die elementarsten gesellschaftlichen Verhältnisse die Produzenten führt. Die uralte deutsche Rancune gegen die Reflexion, der spezifisch bundesrepublikanische Zug zur baren Kontemplation und der muffige, unvermittelte Satz vom behaglichen Wohlbefinden bei blutigen Katastrophen - das ist es, was Schmieding treffend den ,Urlaub von der Geschichte' genannt hat. Die blutigen Barbareien der Nazijahre gelten vielmehr als irreal und unglaublich als die irrealste, unglaublichste Mördereifiktion auf der Leinwand. Ghettos und Konzentrationslager sind im Ausmass ihres Schreckens von einem westdeutschen Regisseur auf einer westdeutschen Leinwand niemals dargestellt worden, beide gehören zum tabuisierten ,heissen Eisen', deren es unzählige gibt. Die geschäftsträchtigen Schauereffekte hingegen sind beliebig reproduzierbar und haben zudem den Vorteil, der den Profit hebt, nicht dem Hemmnis der Realität zu verfallen. Die Zeugenschaft der Geschichte mit ihrer relevanten Bestimmung für die Gegenwart ist unverkäuflich.

Das ist die Unterhaltung, gerechtfertigt durch den Optimismus des Volkes als Parvenü. Die Kanalisation der Emotionen, die völlige Berechenbarkeit der Vergnügungen, haben neben die Normen des täglichen Lebens mit ihrer erbarmungslosen Despotie die der Ablenkung und Freizeit gestellt, so dass sich die Stunde nach Dienstschluss ebenfalls recht freundlich ausbeuten lässt. So unterliegt die Zeit nach Büroschluss den gleichen Restriktionen, wie die Arbeitszeit selbst. Der Ausbruch ins ehemals unbeschwerte Privatleben und abgabenfreie Vergnügen ist verstellt durch die Manager des 'be happy together'.

Eine andere Verleihinformation ergänzt nur, was dementiert werden müsste:

"Was wohl hat die plötzliche Geschmacksänderung bewirkt? Der wieder zu Wohlstand gekommene Bürger, den keine wirtschaftliche Not mehr drückt, kann ganz gut dann und wann einen kleinen Nervenkitzel vertragen. In der Zeit der Sorgen und des Aufbaus waren ihm die vor Optimismus triefenden Heimatfilme lieber. Jetzt ist er selber optimistisch genug geworden. Er fühlt sich wohl in dem Gefühl, es wieder einmal mit seiner Tüchtigkeit geschafft zu haben. Der Blick in die Abgründe des Lebens, der ihm vom Kriminalfilm geöffnet wird, kann ihn also nur noch selbstbewusster machen." (Pressemitteilungen zu: Der Fälscher von London - Constantin-Filmverleih)

Aber deswegen noch lange nicht mündig. Diese Abgründe des Lebens, in die man ihn Einblick nehmen lässt, sind die der Filmwirtschaft. Ihre Menschen, Gegenstände, Probleme, Verbrechen und Methoden sind nicht die der Realität, da es dort nämlich viel krimineller zugeht, als man will, dass der Zuschauer weiss. Der Vorgang der Identifikation mit dem auf der Leinwand gezeigten hat sich, verglichen mit den fünfziger Jahren, exakt ins Gegenteil verkehrt. Die Leinwand strotzt vor Mord und Totschlag, Betrug und Sadismus, damit um so leichter die Feststellung durch den Zuschauer getroffen werden kann, wie friedlich alles zugeht, das ihn umgibt. Keine Verbrechen, von denen er weiss, ausser den üblichen, keine Niedrigkeit, ausser derjenigen, die er nicht sehen soll.

Die Struktur der Wallaceverfilmungen gehorcht ebenso wie die Charaktertypisierung dem Normenprinzip des täglichen Lebens. In sechs der Filme nach E. W.: KLAUS KINSKI: die Dämonie der idiotisch aufgerissenen Augen, des dezidiert Hässlichen, von dem sich sagen lässt, es sei HÜBSCH-HÄSSLICH, so dass es leicht möglich und recht vernünftig zugeht, wenn der Kinski als Toter aus einem Kleiderschrank fällt (DIE TÜR MIT DEN SIEBEN SCHLÖSSERN). Folgerichtig stirbt Kinski auch immer - meist am Beginn des Films schon - das verdiente Ende des gesellschaftlichen Aussenseiters, des Psychopathen, mit dem man sich auch alltags nur allzu ungern abgibt. Das Schicksal dieses 'baddie'-Typs ist verräterisch. Hässlichkeit verkauft sich eben schlecht, diese Maxime besagt in der Werbung, dass nur die ,hübsche Aufmachung' den Umsatz hebt.

Weltoffen, herzlich, schüchtern-cheveralesk, brillant und MAKE THE BEST OF IT: die Kriminalisten und Detektive, denen von Anfang an das happy-ending bestimmt ist; sie sind die Typen der HB- und Stuyvesantreklame, entstammen den Marlboro-Neuformwohnsilos, sie stehen an den Reissbrettern von ROT-WEISS, werben für KENT im Ausland der deutschen Männer. Die Modernität ihres Habits wetteifert mit der Sterilität ihrer glattrasierten, rasierwasserduftenden Gesichter, den geistigen Qualifikationen sprechen die Recherchen, die sie anstellen, Hohn. Erfolgreich, redlich, kräftig, schnell mit der Waffe und voller Humor: siebenmal Fuchsberger, je zweimal Hansjürgen Wussow und Heinz Drache.

Die Beigabe, ohne die diese Filme kaum auskommen, ist Eddi Arent als tolpatschiger Komiker, dem alles unter den Fingern missrät. Worüber sich dann lachen lässt: der seelische Ausgleich ist geschaffen. So ist er beides: technischer Hanswurst und intellektuell zu kurz Gekommener, obgleich sein Scharfsinn redlicher und daher wirklicher ist als die stereotypen Eingebungen der Heroen. Und noch die grossen Namen der Bühne, die mit ihrem Renommé die Kasse füllen helfen sollen: Elisabeth Flickenschildt, Lil Dagover und Marianne Hoppe. Die Rollen, die man ihnen zudiktiert, sind von seltener Extravaganz, als wollte man zeigen, was die sich alles leisten können, dürfen und sollen. Die verruchte Zweifelhaftigkeit, die Elisabeth Flickenschildt zu exemplifizieren hat, findet man in DAS SCHWARZWEISSROTE HIMMELBETT in abgewandelter Form wieder.

Ansonsten rührend-reine Mädchen, mit viel Herz und hilfloser Naivität. Sauberkeit, die aber nicht verbietet zu zeigen, wo das Herz nun wirklich für den Auserwählten schlägt. Keine Halbweltdame hat auf der deutschen Kriminalserialleinwand eine Chance, wo doch die Halbwelt den Ton angibt. Und doch sind beide Typen die möglichen Alternativen des Gut-Böse-Denkenden, dem die Differenzen längst wegen des "grossen Ganzen" ausgebleut worden sind.

Die alten Klischees sind noch oder wieder da, nichts geht mehr so plump wie früher, die Ansprüche sind gestiegen, wenngleich anders aussehend und besser drapiert. Gleichsam Mixtur von allem Vorausgegangenen, für alle und jeden. Die Bösen sind schwarzhaarig, und oft tragen sie das Bärtchen, das nicht grösser ist als die Gestalt des Trägers; wie überhaupt die Typologie des Bösen im deutschen Kriminalfilm sehr fein nuanciert ist: die science-fictionhafte, gigantische Monstrosität (DIE TÜR MIT DEN SIEBEN SCHLÖSSERN und DER RÄCHER), die sich entweder physiologisch im abnormen Körperbau sichtbar macht oder aber, und hier liegt die Perfidie, die mit der Psychologie getrieben wird, eine abgrundtiefe, alles zusammenschmelzende, psychologisch motivierte Abscheulichkeit; als Gegenpart des herausragenden Bösen durch sichtbare oder spürbare Abnormität der kleine Mann, im ganz staturhaften Sinne, der so aussieht, als sei seines Wuchses wegen alles möglich, weil keiner ihm etwas zutraut. Die Berufe der negativen und positiven Helden können sich decken: der Mittelstand triumphiert, das Kleinbürgertum, dem auch in der Realität des gesellschaftlichen Zusammenlebens eine grosse und selten positive Bedeutung zukommt, und der arrive, dem nicht zu trauen ist. Getreten wird nach oben und unten - aus Neid und aus Herrschsucht. Die sich konstituierenden Ehen zwischen dem Detektiv aus Neigung oder Profession und dem sanften Mädchen, weisen allesamt die Neigung des Irrealen auf: reich und mässig arm gesellen sich prächtig. Die Millionenerbin, die hilflos und vertrauensvoll ihrem Untergang entgegenginge, träfe nicht rechtzeitig der Fuchsberger ein - oder der Drache, der Wussow. Die Abweichung von diesem Grundpattern der Wallacefilme ist selten: dass nämlich das zu beschützende Mädchen, deren Virginität überhaupt kaum angezweifelt werden darf, es sei denn, sie wurde bubenhaft behandelt zuvor, bereits in den festen Händen eines schwachen Charakters sich befindet, dem zwischen 82 und 103 Minuten gelassen werden, um sich zu läutern - wenigstens in den Augen der Polizei und seiner Liebsten.

Und die alten Vorurteile, vom Vater auf den Sohn, vom Romanautor Wallace auf den Romanverfilmer Vohrer gekommen: rassische Verteufelungen und Diskriminierungen, wie in DER FLUCH DER GELBEN SCHLANGE.

"Es geht dabei - erstaunlicherweise schon einst der Phantasie des Knminalaltmeisters entsprungen - um die chinesische Weltherrschaft." - "Dann werden unfreudige Dinge passieren die gelbe Rasse wird aufstehen und sich die weisse Rasse Untertan machen Auch wenn das nur Knminalphantasie ist, so kann uns heute diese bedrohliche Konstellation gar nicht mehr so unwahrscheinlich vorkommen." - "Das grosse Spiel auf Leben und Tod beginnt jetzt erst richtig für Clifford Lynn (der ,gooddie' des Films - Anm. phs). Auf welcher Seite steht sein zwiegesichtiger Bruder FING-SU? (der dezidiert bösartige Antityp des Films, der durch den gleichen Vater mit Clifford Lynn verwandt ist, jedoch, wie der Verleih anmerkt, ,einer Leidenschaft zu einer Chinesin entsprossen ist', wahrend der gute andere eine englische Mutter sein eigen nennen darf, hinreichende Garantie für freundschaftliches Benehmen, wie man offensichtlich annimmt - Anm. phs) Ist er mehr Europäer oder Asiat?" (Pressemitteilungen: Der Fluch der gelben Schlange - Constantin-Filmverleih).

Pinkas Braun, der Darsteller des FING-SU, ist eindeutig mehr Asiat, er tut entsetzliche Dinge. Untermensch par excellence, kleinwüchsig und gelbgesichtig ist er Tücke, Gewalt und Sadismus.

Diese Wallace-Serie ist zwar die umfangreichste, mit dem Prospekt, nie auszusterben, nicht aber die einzige, die aus Abfolgen in Portionen der immergleichen Mahlzeit besteht. So entstand 1962 der erste Kriminalfilm nach einem Roman von Louis Weinert-Wilton, einem ebenfalls bei GOLDMANNS Roten Taschenkrimis ansässigen englischen Autor. Diesem TEPPICH DES GRAUENS folgte der in diesem Jahr abgedrehte DIE WEISSE SPINNE des gleichen Autors, weitere sind projektiert, dem einen der Wallace, demselben der Weinert-Wilton. Dazu zählen auch die anderen Filme wie DAS GEHEIMNIS DER SCHWARZEN KOFFER (1962) und NUR TOTE ZEUGEN SCHWEIGEN (1962); bezeichnend ist übrigens, dass im gleichen Jahr DAS HALSTUCH von Francis Durbridge vom Fernsehen gesendet worden ist, Anfang 1963 TIM FRAZER. In den Illustrierten wurden bisher mindestens vier seiner Romane abgedruckt.

Weiterhin: Unter der Regie von Helmut Ashley entstand 1960 DAS SCHWARZE SCHAF, nach den Father-Brown-Geschichten von Gilbert Keith Chesterton. Frei gestaltet, wie man einbekannte, waren die Hersteller und der Regisseur von der Verfilmung mit Alec Guinness als Father Brown ausgegangen, angelangt sind sie bei Heinz Rühmann. Ashley verstand es, die liebenswert-skurrile Gestalt des englischen Geistlichen in die Soutane der deutschen Autorität zu stecken, dem alles glückt, weil es eben, so sieht es aus, einem Geistlichen nicht anders gehen kann. Die surreale Logik des schirmtragenden Kauzes bei Chesterton ist umgefälscht in die burschikose, bewährte Rühmannmasche, die seit QUAX und KÖPENICK als LÜGNER und TASCHENDIEB die Superiorität des humorvollsten Darstellers' des deutschen Films charakterisiert. Der Bischof, der als Vorgesetzter immer nur zu querulieren hat, wenn es Brown gelungen ist, detektivisch aufzuhellen, wovon der höhere Geistliche glaubt, es bringe die Öffentlichkeit zu deutlich auf die Gegenwart der Kirche, lässt seinerseits, und hier wird manifestiert, was wir meinen, den Pfarrer seine Autorität spüren, wo er kann: Strafversetzungen sind die Folge der Eigenständigkeit des Fathers. Die Subordination unter den Führer ist auch hier oberstes Gebot - eine erstaunliche Entdeckung, vielleicht. Nicht allerdings, wenn man beachtet, was Berghahn und Patalas in verschiedenen Rezensionen und Artikeln zusammengestellt haben, dass nämlich die Soutane hierzulande ebenso ein Signum der Autorität und des Absolutheitsanspruchs der Kirche sind, wie es der Ärztekittel und die Forschertracht für den Rest derjenigen im Staate ist, die auf Grund ihrer relativ elitären Positionen mehr zu sein scheinen, als sie in Wirklichkeit sind. Der Hang zur Dämonisierung der Generalität und des gesamten Offizierscorps, den wir bereits konstatiert haben, wird abschliessend ergänzt durch die andere Macht im Staate, die bedeutsam ist für die Einflüsse und die Beeinflussung der öffentlichen Meinung' - eben die Kirche. Sie wird tabuisiert, daran ist wenig zu ändern, selbst die oberflächliche Demaskierung durch deutsche Lustigkeit in DAS SCHWARZE SCHAF und dem 1962 von Axel von Ambesser gedrehten Nachfolger ER KANNS NICHT LASSEN. Der zweite Film scheut nicht davor zurück, die Strafversetzung ins Land der ,Schwarzen', die so entwicklungsbedürftig erscheinen, als die letzte Erniedrigung und die drakonischste Strafe hinzustellen. Das zum Kapitel (Entwicklungshilfe'.

Nicht HIDE AND SEEK, mit Spurensuchen und Ertappen und Licht im Dunkel, auch dem der Gesellschaft, nicht sozialkritische Beleuchtung herrschender Missstände zum Beispiel bei der kriminalistischen Wirklichkeit der dafür bestellten Organe, sondern ausgeklammerte Realität. Widerschein der Fiktion, statt Reflexion der Wirklichkeit.

In dieses Kategorialsystem passen die DR.-MABUSE-FILME, deren ersten in der Bundesrepublik der Schöpfer dieser Gestalt des klassischen Films, FRITZ LANG, nach seiner Rückkehr aus der Emigration abgedreht hat. Im Vordergrund die unauslotbare, bedingungsfeindliche Dämonie des Psychopathen, dessen konsequenterweise erfolgende Liquidation und die Unübertrefflichkeit der Polizei, die, doch so ,normal', schlauer ist, als der durchtriebenste Verbrecher. Die Integrität der Behörde, deren Entwirrung der undramatisch blutig geschürzten Knoten der völlig unterkellerten Handlung, ist bezeichnend auch dafür, wie streng die Bräuche sind, wo das Brauchtum der Glorifizierung der Macht und der bestallten Autoritäten herrscht. DR. MABUSE revisited, ohne die Brillanz der gleichnamigen Vorkriegsfilme.
(1. DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE - Deutschland 1960 - Produktion: CCC/Artur Brauner - Verleih: Prisma/Constantin - Regie: Fritz Lang.
2. IM STAHLNETZ DES DR. MABUSE - Deutschland 1961 - Produktion: CCC/Artur Brauner - Verleih: Constantin - Regie: Dr. Harald Reinl.
3. DIE UNSICHTBAREN KRALLEN DES DR. MABUSE - Deutschland 1961 - Produktion: CCC/Artur Brauner - Verleih: Constantin - Regie: Dr. Harald Reinl.
4. DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE - Deutschland 1962 - Produktion: CCC/Artur Brauner - Verleih: Constantin - Regie: Werner Klingler)

Die utopistischen Elemente in den genannten Filmen, die Integration des noch nicht realisierbaren technischen Fortschritts, sind beste Kernpunkte der Kolportage. Davon wird noch die Rede sein müssen.

Das hat man sich zunutze gemacht: die Faszination des Irreal-Bösen: EIN TOTER SUCHT SEINEN MÖRDER ist die logische Fortsetzung des Genres; Scheinwissenschaftlichkeit und Verteufelung des Forschers der Gehirnchirurgie, Spannungseffekte aus dem, was sich dem Verständnis des Zuschauers wegen mangelnder Kenntnis entziehen muss, alles das macht aus diesem und ähnlichen Filmen schlechteste Prägung der waltenden Anti-Aufklärung. Einerseits ist der Zuschauer bereits zu satt, als dass billigere und erkenntlichere Mittel der Spannung ihn noch erregen könnten, vor allem auch zu anspruchsvoll gemacht durch die Wahlmöglichkeiten des täglichen Konsums, auf der anderen Seite jedoch spekuliert diese Art der Produktion mit der überkommenen Ehrfurcht vor der Wissenschaft und deren Verkehrung - dem antiintellektuellen Ressentiment, dessen Auswirkung und Verbreitung dem Kinogänger Tag für Tag von höchsten Regierungsstellen vorexerziert werden.

Das gilt, in der angemessenen Abwandlung, auch für den vielleicht gelungensten dieser Kriminalfilme, dem MÖRDERSPIEL von Helmut Ashley. Dort sind Ansätze zu verspüren, wo das Verlassen des blossen Kolportierens möglich gewesen wären, hätten die Hersteller dies nicht bewusst unterlassen. Aufklärung über die in diesem Film begangenen Verbrechen durch den misogynen Sexualmörder, die über die Konstatierung der Taten durch ihn hinausging, unterbleibt aus bekannten Gründen: Verdammen soll der Bürger, was er nicht verstehen soll im aufgeklärten Sinne, weil er es sonst verstünde, so dass der Herrschaft der rächenden Behörde der Nimbus der Alleinherrschaft genommen wäre. Das bedeutete, die Methoden könnten der Kritik durch die nun begreifende Öffentlichkeit unterworfen werden. Die Bequemlichkeit des entstellenden Zeigens durch Fälschung, die Pseudoaufklärung, in dem gesagt wird, wer es getan hat und wie er entdeckt wurde, ist grösser, erfolgreicher und garantierender für die, denen Verdunkelung das Leben leichter macht. Es bleibt alles beim alten, erst recht im Film. Aufklärung als Massenbetrug wird am deutschen Kriminalfilm vom Titel zur Wirklichkeit des konkreten Tatbestandes.

V - Und was man Sex nennt

Parallel zu den genannten Kriminalfilmen mit den Valeurs der Darstellung und der Handlungselemente läuft seit Ende der fünfziger Jahre ein weiteres Genre von Filmserien, deren Struktur ähnlich ist. Weder stehen primär bestimmte Schauspielerpersönlichkeiten im Mittelpunkt des Geschehens, noch korrespondieren sie im Handlungsablauf. Zwei Dinge sind ihnen jedoch eigen, die für uns wichtig sind: sowohl der Vamptypus vergangener Filmzeiten, als auch die Neuprägung des Wohlstandes, die Frauengestalt, die Sex trägt, wie eine Modeforderung, bestimmen den Aufbau der Filme. Und zudem die Erkenntnis der Produzenten, dass nacktes Fleisch sich gut verkauft.

Zuerst natürlich die HARTWIG-Produktionen, die mit der blossen Zurschaustellung der angeblich natürlichen Ausstattung den Eindruck der undomestizierten, wilden Geschlechtlichkeit erwecken sollen, sich aber allzu schnell als die Auswüchse der Korruption verraten. Die skandalöse Gestalt der Barbara Valentin war dann auch nicht lange ausreichend, das Publikum mit der Reizmenge zu versehen, die es sich, auf Grund lasterhafter Plakate, erhofft hafte. Heute produziert Herr Hartwig die Filme, die aus der grossen, weiten Welt allen etwas zugänglich machen, in denen die gut und brav Dreinschauenden alle blond und redlich sind. So HEISSER HAFEN HONGKONG. Das ist nur die eine Seite, in der sich Sadismus und monströse Leiblichkeit die Waage halten. Die Periode ging ebenso schnell vorüber, wie eine andere an deren Stelle trat.

Die Liberalisierung der ökonomischen Lage des Einzelnen, die Freizügigkeit des Kaufenkönnens, so man nur das Geld besitzt, das dieses Paradies der permanenten Konsumtion allein aufzuschliessen vermag, und die Reizüberflutung durch die Kulturindustrie, die ebenfalls an der allgemeinen Prosperität partizipieren musste, sollte diese nicht ganz als Oberflächenerscheinung erkannt werden, das alles brachte die konsequente Veränderung der Tabus. Der bisher zweifelsfreie Begriff der Moral, dessen überfliessende Inhaltslosigkeit, ist durch das Gebaren der freien Marktwirtschaft und den skrupellosen Tendenzen des Warenverkehrs in die Bereiche der Zweifelhaftigkeit gerutscht. Durch die immer stärkere Integration der jugendlichen Arbeitnehmer, deren Potential an Kaufkraft von der Industrie systematisch aufgebaut und erweitert worden ist, wurde weiterhin aus diesen Reihen, denen man eine anti-bürgerliche Moral zudiktiert und oktroyiert hatte, eine Erscheinung des Zusammenlebens adaptiert, die viel eher von denjenigen herstammt, die sich gegen sie empören, so es sich um die Jugendlichen handelt: die Libertinage. Dazu ist auch die eigenwillige Ausprägung der Promiskuität zu zählen, die nur denen gestattet sein soll, die es bereits zu etwas gebracht haben, ganz so, als sei es ein Verdienst des ,erfahrenen Menschen', sich nicht mehr als ein solcher benehmen zu müssen. Das Privileg der Jugend, rebellieren zu dürfen, ist, so will es scheinen, nur zu dem Zwecke der wirtschaftlichen Teilhabe an der Rebellion, die gar keine ist, geschaffen worden. Längst ist auch in den zornigen Reihen das Arrangement zur schlechteren Einsicht in die Gepflogenheiten der Gesellschaft geworden.

Die so beliebten Halbstarkenfilme sind mit der Eingliederung ihres Gegenstandes verschwunden. Die ,lockere Moral' dieses von der Massenkommunikation entwickelten Völkchens, ist längst zu der allgemeinen geworden, der gängigen. Die Wirklichkeit hat sich korrigiert: die lasziven Partys, mit dem immerwährenden 'american lay of wife' weist der folgende Film den Erwachsenen zu, wo die Möglichkeiten, solches zu veredeln, realer sind. Die Ausbeutung, diffizil und ,gerecht' geworden, greift stärker noch als grundsätzlich denkbar auf den einzelnen über. Die Liebe als aussergesellschaftliches Phänomen ist zum Klischee geworden, eben zum platten Sex, das überaus deutlich in allen den Filmen Gestaltung und Engagement ersetzt, die hier als ,ambitioniert' betrachtet werden. Im Grunde ist diese Einschätzung gar nicht so falsch; denn gemessen an der üblichen Produktion zeichnet sie aus, dass mit Bedacht Verwicklungen und Konstellationen herbeigeführt werden, die aussergewöhnlich sind. Die Schizophrenie des high-brow Stils zum Beispiel von Rolf Thiele ist sehr beredtes Zeichen für die eigentliche dahintersteckende künstlerische Stagnation und Impotenz. Gerade die künstlerisch ambitionierten Filme entlarven die eigen und die der schlechteren Filme viel eher, als dass sie Dokumente der Qualität ergäben.

LABYRINTH (1959) und MAN NENNT ES AMORE (1961) wollen, wie es heisst, ,Liebe als Phänomen der Umwelt' betrachten, und es gelingt dennoch nur der Abklatsch einer beziehungslosen Kolportage. Die historische Grundstruktur der Kolportage, die apologetische und nur im Effekt kritische Tendenz, machen auch diese beiden Filme, von denen zumindest der erste für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich gefilmt war, zu genauen Entsprechungen der Realität.

Die Thematik ist im übrigen die der Illustriertenromane der gleichen Zeit, die sich mit dem mehr oder weniger wüsten Leben eines Säufers beschäftigen, oder aber die Situation der blonden Importe an den Küsten des Mittelmeeres. Nur werden hier wie dort die falschen Konsequenzen gezogen. Die beiden angeführten Filme zeigen, aber nicht im hinweisenden Sinne des Demonstrierens, sondern im moralischen Sinne des Plakats. Die Wirkung ist die nämliche: der Zuschauer dreht den Zeigefinger des Regisseurs auf die Zustände seines Films, die Entrüstung ist eine moralische, keine politische, wie sie eigentlich sein müsste.

Die Probleme, die von den Massenmedien diskutiert werden, verlieren in ihrer sensationellen Verarbeitung die Problematik, die sie eigentlich auszeichnet. Die profitable Erregung über die Missstände einzelner Gebiete werden auf die Reizwirkung, die von ihnen ausgeht, reduziert und somit selbst zu Missständen. Die Intentionen des Regisseurs Thiele werden klar, wenn man liest, was er selbst über seine Arbeit und Tendenz sagt:

"Darum halte ich es bei meiner Filmabsicht mit bekannten Mitteln, von denen ich nichts halte: Ich addiere mit Akribie; Gesehenes, Gehörtes, Erlebtes, Gelebtes, Rätsel, Banalitäten, Verhaltensweisen, Affekte - ohne finalen Sinn."

Also reine Kontemplation und das Aneinanderreihen von verschiedenen Eindrücken, ohne eine Position dazu einzunehmen - ohne es zu wollen. Die Technik der Information durch Presse und Radio, Fernsehen und Wochenschau ist dieselbe, der Filmschöpfer Thiele reproduziert die Methoden seiner Umwelt. Nur, dass diese einen finalen Sinn haben, nämlich den der Desinformation und Meinungslosigkeit; so sind auch die Filme Thieles nur Bestätigung der üblichen Sachverhalte, Reproduktion der Wirklichkeit, wie sie sich dem Sammler bietet. Zu seinem neuesten Film VENUSBERG (1963), schreibt er:

"Ich mache einen Film über sieben Mädchen, welche, wie alle Kinder von heute, die Anreize zu ihrem Sosein überwiegend aus modernen Massenkommunikationsmitteln beziehen. Also ein Klischee vom Klischee? Sicher! Aber es stammt nicht von mir, dass man den Teufel mit dem Beelzebub ärgern kann."

Womit nur deutlich ist, wie wenig er zu sagen hat. Er bietet seine formalistische Konzeption von Sex auf die hypertrophierteste Art, die sich denken lässt - und gleichzeitig auf die primitivste: unreflektiert und modisch verpackt. Wollte er die Libertinage durch diese selbst kritisieren, so müsste er die nötige Distanz dazu aufbringen. Bei VENUSBERG muss es sich noch zeigen, bei LULU (1962) ist es bereits erwiesen.

Neben diesen Thiele-Filmen etabliert sich eine Serie von sogenannten Filmkomödien, in denen alles das eine Umkehrung erfährt, was in den genannten anderen todtraurig abgehandelt wurde, allerdings mit der gleichen Reverenz an die Öffentlichkeit. DAS SCHWARZWEISSROTE HIMMELBETT (Rolf Thiele 1962) und DIE BEKENNTNISSE EINES MÖBLIERTEN HERREN (Franz Peter Wirth 1962), ICH BIN AUCH NUR EINE FRAU (Alfred Weidemann 1962) und FRÜHSTÜCK IM DOPPELBETT (Axel von Ambesser - 1963) sollen hier für die ganze Reihe stehen, um nur die ,besten' zu nennen.

Die Tendenz dieser Filme entspricht genau dem Bild, das wir oben für den Film der vorausgegangenen Jahre entworfen haben. Ihr apologetischer Charakter wird da deutlich, wo sie sich mit der ,guten alten Zeit' beschäftigen (DAS SCHWARZWEISSROTE HIMMELBETT), sie sind plakative Bestätigungen der gültigen Vorstellungen von Freizeit und Vergnügen, wo sie sich der filmischen Gegenwart zuwenden, die keinesfalls die reale ist. Dass zudem nach Vorbildern gearbeitet wird, die Produktionen also kaum Originalität für sich beanspruchen können, beweist ICH BIN AUCH NUR EINE FRAU, wo die Delbert Mann Trilogie von BETTGEFLÜSTER bis zu EIN HAUCH VON NERZ zusammengeflickt wurde. Der Seitenhieb auf die Psychoanalyse ist nur stärker und weniger ephemer als in EIN PYJAMA FÜR ZWEI. In Weidemanns Film lebt die Handlung davon, in dem amerikanischen Film ist es die Beigabe, der Hieb gegen die ,eggheads', die unseren Intellektuellen kaum in der Beliebtheit nachstehen. Der interessanteste dieser Filme ist sicherlich BEKENNTNISSE EINES MÖBLIERTEN HERREN, da er von allen die leichteste und wohl ironischste Gestaltung besitzt.

Darin wird auch am besten sichtbar, was neu ist für die bundesrepublikanische Kinoleinwand: die massive Abfolge von Freizügigkeit und respektablen Frivolitäten, der komische Sex, die ,neue Moral', die allerdings die alte ist, bedenkt man, wie der Film ausgeht: die Rückkehr zur alten Freundin, die noch am ehesten garantieren kann, was der Held braucht: Sinn für seine Attribute des Libertins. Es erscheint so, als ob nur die halbernste Methode der Filmkomödie angemessen sei, das zu zeigen, was sich der Produzent sonst versagen muss: die Wichtigkeit des Bettes fürs Geschäft. (Worüber übrigens schon die zitierten Titel aufklären: zweimal BETT in eindeutiger Zweideutigkeit.)

Thieles SCHWARZWEISSROTES HIMMELBETT hat es mit dem geschäftlichen Erfolg noch am leichtesten, weil er die ,gute alte Zeit' glossiert, ohne ihr zu nahe zu treten - zumindest nicht so nahe, dass er sie kritisierte. Die Arabeskenhaftigkeit der gesamten Handlung, die völlige Verkehrung der Bedrohung durch die Autoritäten der damaligen Zeit (Militär, Kirche und Schuldirektoren) ins Komisch-Unwirkliche, so dass jeder sofort weiss, hier kann garnichts schief gehen, entspricht der öffentlichen Meinung über diese Zeit, an der bei allem, was dem Filmgeschäft heilig ist, nichts geändert werden darf. Gegenüber SISSI & Co. hat der Film allerdings den Vorzug, weniger ernst zu nehmen, was gemeinhin ernstgenommen wird. Nur führt es zum gleichen Ergebnis: der Zuschauer bekommt das rosarote Genrebildchen der Vorkriegssituation um 1918 nur bestätigt.

Der neue Kurt Hoffmannfilm LIEBE WILL GELERNT SEIN (1962), ist in vielem die Entsprechung des Franz Peter Wirth Filmes. Gerade dort, wo beide auseinanderklaffen, sind sie sich am nächsten, oder so: ihre Differenzen sind Resultate des gleichen Publikumsbewusstseins, die Dispositionen der Zuschauer umfassen beides: das ,Reine' und das ,Zweideutige', wobei noch nicht gesagt ist, wo es am Lockersten zugeht.

Sowohl die Jugendlichen mit ihrer dargestellten Lässigkeit und dem Hang zur Laszivität, den man ihnen angehängt hat, als auch der Künstler, dem so wie so nicht zu trauen ist, werden in LIEBE WILL GELERNT SEIN und BEKENNTNISSE EINES MÖBLIERTEN HERREN zum Gegenstand der Betrachtung. Die Hauptgestalt des zweiten Filmes ist Werbegraphiker, auf seinem Arbeitstisch, an dem man ihn im übrigen nie seiner Arbeit nachgehen sieht, liegt bereits in der ersten Sequenz des Films eine Ausgabe der Jugendzeitschrift' TWEN. Und wie aus deren Modeteil entstiegen ist er auch gekleidet, als ob er nur die Aufklärungsartikel dieser Zeitschrift lesen würde, so bewegt und benimmt er sich. Sein sexueller Konsum ist für deutsche Filmverhältnisse recht beachtlich, die Partner, mit denen er ,spielt' sind ebenso austauschbar wie seine Button-Downhemden und die Twisthosen, die er trägt. Dass er dann zu Daniela ,findet' liegt nicht daran, dass er sie suchte, sondern viel eher an der Notwendigkeit des Schlusses für diesen Film. Die Liebesszenen dieses Films, über die sich viele Kritiker so enthusiasmiert haben, sind stereotyp und langweilig gefilmt, das Vorbild der LIEBESSPIELE und des FARCEURS wird in keiner Einstellung erreicht.

Die Transponierung auf die deutschen Verhältnisse machte den Film inhaltlich und formal zum Konterfei der gesellschaftlichen Moral. Auch hier die High-Lifeparty, mit geilen Industriellengattinnen und unverstandenen auf der anderen Seite. Mit Anspielungen auf die Gepflogenheiten der Starlets und den Seitenhieben auf die Theaterregisseure. Die Damen des Films, so sie jung und niedlich sind, ebenso wie die Dekors der Räume mit ihrer Mischung aus alt und neu, sind bis ins Detail nach der Reklame des TWEN zusammengestellt, noch die Dessous entstammen den Anzeigen. Die Frivolität, die den Film, laut Anzeigen, durchzieht, ist die Umkehrung dessen, was sie einmal war, in diesem Moment der völligen Fixierbarkeit aber nicht mehr sein kann: aussergewöhnlich. Die Freizügigkeit und das gleichzeitige Reglement machen alles möglich. Und auch üblich. Der Trick des Regisseurs - der im übrigen HELDEN gedreht hat - besteht darin, dass er die Handlung in ein Milieu verlegt, das ohnehin mit der Vorstellung der Verruchtheit asoziiert wird, wenngleich doch alles proper und frisch zugeht, wie der Zuschauer es sich selbst einbekennen muss, garnicht so recht nach Künstlerart, wie er sie sich denkt. Die sexuelle Ungehemmtheit, mit der der Modezeichner und Plakatmaler seine diversen Liaisons aufeinanderfolgen lässt, entspricht dem Bild, das man sich von der Libertinage der Jugend machen muss, wenn man den TWEN-Informationsberichten aufsitzt. Es liegt dem die gleiche geheime Neugier zugrunde, wie ehedem der Prüderie - nur mit dem einen Unterschied, dass heute phantasievoll präsentiert wird, was man damals noch mit viel Phantasie konstruieren musste. Darin liegt die Veränderung. Sex taugt nur noch zum Geschäft, von dem er eigentlich auch herkommt, nur hat man ihn erfunden, um das Geschäft vergessen zu machen, das man mit ihm betreiben kann. Die Vergnügungsindustrie, deren Schatten sich über die Domäne des ehemals Intimen legen und alles zum Ausverkauf des Fleisches verschmelzen, was irgend sich dazu verwenden lässt, bringt gleichzeitig nicht das kleinste wirkliche Vergnügen zustande. So sind Traurigkeit und Zorn viel eher die Attribute dieser sogenannten ,Komödien' als der ihnen zugewiesene Frohsinn. Alles, was sie gewähren können, ist die ausserhalb dieses Genres tabuisierte Freizügigkeit, die armselig ist.

LIEBE WILL GELERNT SEIN wurde von Erich Kästner behauptet. Kurt Hoffmann zeigt lediglich, wie man sie sicherlich nicht wird lernen können. Die Typen auch dieses Films sind Klischee. Der Student mit dem Sportwagen. Der fleissige, verheiratete, wenn auch nicht ,getraute' andere Student, die junge Mutter mit Kind, Wohnung, Geschäft und Sommerresidenz am Starnberger See. Der Schriftsteller mit Feudalhaus und 220 S, attraktiven Sekretärinnen und einer Geliebten vom Film - die modische Selbstbespiegelung des Films im Film, die sich mit der Krise selbst auf den Arm nimmt. Immerhin zeigt der Film ein Novum: der Jugendliche, der bereits ein zweijähriges Kind hat, ohne dem Protest zu verfallen, war bisher nicht denkbar. Aber dafür ist LIEBE WILL GELERNT SEIN auch ein Lustspiel - und darin ist der Zufluchtsort des deutschen Films zu sehen. Deren Optik ist mit dem Stigma des falschen Sehens behaftet; sie wollen die »lustigen Seiten' des Lebens aus seinen doch für fast alle schwierigen herleiten, die Wirklichkeit für 100 Minuten auf den Kopf stellen. Erreicht wird es, in dem alles unterbleibt, was auf die Problematik hinwiese, indem der Klamauk an die Stelle der Ironie oder gar Satire tritt. Die Dekors und Interieurs ersetzen, wie in so vielen anderen Filmen, die Realität. Dass dazu noch Natur herhalten muss, zeigt der neueste Film von Jürgen Goslar LIEBLING, ICH MUSS DICH ERSCHIESSEN (1962).

VI - Und was weiter

Die Abenteuerfilme HEISSER HAFEN HONGKONG, der deutsche Western DER SCHATZ IM SILBERSEE und überhaupt: ex Oriente lux, das wird so weiter gehen, zumindest noch einige Zeit, die Ferne lockt besonders jetzt, wo die greifbare Nähe durch TOUROPA und SCHARNOW abgeklappert ist.

Die Versuche der jungen deutschen Regisseure, eine Neue Welle zu kreieren, ist mit Veselys DAS BROT DER FRÜHEN JAHRE 1962 vorläufig gescheitert. Und nachdem Walter Henn gestorben ist, sieht es auch wegen der geplanten KATZ & MAUS Verfilmung nicht besonders günstig aus. Was sonst noch zu hoffen steht, darüber hat Oberhausen dieses Jahr gründlich desillusioniert.

So bleibt alles vorläufig so, wie es war: SEX und CRIME, dazu Abenteuer und schöner Schein. Dass auch dieses vorbeigehen wird ist sicher, nur was dann kommen soll, ist ungewiss. Wahrscheinlich eine andere Konstellation. Aber keine Filmkunst aus deutschen Ateliers. Es sei denn, man nimmt DIE DREIGROSCHENOPER dafür. Die Chance für die Filmkunst durch die Krise des Films lässt sich behaupten. Sicherlich in Deutschland an dessen Produktion nicht belegen.       Peter H. Schröder
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Eisenstein - Renaissance

Das Haus, in dem der russische Film-Regisseur Sergej Michailowitsch Eisenstein im Jahre 1948 starb, ist längst niedergerissen worden. Es war ein vierstöckiges Haus alter Moskauer Bauart, und es musste Platz für das bitter notwendige Umbauprogramm der sowjetischen Hauptstadt machen, wo grosse Blocks die Menschen nach und nach vom Wohnen in Holzhäusern und baufälligen Mietskasernen befreien. 1948 - das war fünf Jahre vor Stalins Tod und acht Jahre vor dem 20. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjet-Union. Es gab noch kein /Tauwetter'. Mancher mit Kulturaufgaben betraute Staatsfunktionär mochte damals hoffen, dass mit dem forttransportierten Schutt des Eisenstein'schen Hauses auch die Erinnerung an den ärgerniserregenden ,Formalisten' aus der Stadt gekarrt würde. Die Witwe, Frau Pera Ataschewa, lebte fortan bei ihrer Mutter und nahm alles, was Sergej Michailowitsch an Papieren hinterlassen hatte, in ihre Obhut. Erst vor wenigen Monaten zog sie aus dieser Wohnung, um in eines der hohen Häuser am Moskwa-Ufer zu ziehen, nicht weit entfernt von dem Zwölfhundert-Zimmer-Hotel ,Ukrainia', in dem sich besonders ausländische Besucher Moskaus einmieten.

Diese Frau, heute 61 Jahre alt, erfüllt keine Bitterkeit. Die Hilfe, die ihr über die Jahre hinweg viele Freunde ihres verstorbenen Mannes erwiesen, und die starke jüdische Zuversicht auf Gerechtigkeit in der Welt, liessen sie nicht verzweifeln. Frau Pera Ataschewa bezieht ihr Einkommen aus Tantiemen für die Wiederaufführung Eisenstein'scher Filme, aus Verlagshonoraren für posthum veröffentlichte Manuskripte, und ausserdem steht ihr eine staatliche Pension zur Verfügung.

Es war auch niemals wirtschaftlicher Druck, dem sie und ihr Gemahl in erster Linie ausgesetzt wurden. Als Regisseur und Drehbuchautor Eisenstein 1945 den Teil I von IWAN DER SCHRECKLICHE fertigstellte, wurde ihm der hochdotierte Stalin-Preis verliehen. Die dynamische Künstlerpersönlichkeit fühlte sich mehr denn je bestätigt. Ohne sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, arbeitete Eisenstein am 2. Teil, der im folgenden Jahr 1946 bereits fertig war. Auch die Pläne für den letzten Teil der Trilogie waren hinter der mächtigen, hohen Stirn schon gereift, als die mit der politischen Kontrolle der Film-Produktion beauftragten Funktionäre einen Beschluss fassten, den Beschluss nämlich, dass die Filmkunst Eisensteins als "formalistisch" den politisch-ästethischen Auffassungen der KP widerspräche und der Teil 2 deshalb nicht mehr aufgeführt werden dürfte. Für den dritten Teil verweigerte das Kulturministerium dann Finanzen und Ateliers. Eisenstein war erschüttert. Alles, was er je geleistet hatte, vom PANZERKREUZER POTEMKIN bis zu den Rohaufnahmen des QUE VIVA MEXICO, schien vor ihm zusammenzustürzen. Jenes schreckliche Gefühl der Unsicherheit des ,Gemassregelten' stellte sich bei ihm ein. Er, ein Mann bürgerlicher Herkunft, der daran glaubte, dass die Lenin-Revolution nichts weiter sei als die historisch notwendige Vollendung der französischen Bürger-Revolution von 1789, kannte sich nicht mehr aus. Ob er mit seinem IWAN DER SCHRECKLICHE tatsächlich eine Parodie auf Josef Stalin schaffen wollte, ist auch heute noch fraglich. Ihn, wie so viele andere, überfiel Grauen, als er unmittelbar von jenem marxistisch getarntem Henker-Denken betroffen wurde, das andere Künstler, Geistesschaffende und Funktionäre vor ihm in die Deportation und in den Tod geschickt hatte.

Eisenstein versah damals eine Professur am GIG, dem Ausbildungs-Institut für sowjetischen Nachwuchs - Regisseure, Kameraleute und Drehbuchautoren. Sein künstlerischer Ausdruckswille liess ihn fortwährend arbeiten: eine Vielzahl von Artikeln und Buchentwürfen entstanden, die sich mit der Theorie der Filmkunst befassten. Ähnlich dem deutschen Dramatiker Bertolt Brecht war er gewohnt, seine Theorien zu praktizieren und aus der Praxis wiederum neue theoretische Anregungen zu beziehen. Doch ein Mann, dem im Gegensatz zu Brecht das Praktizieren seiner Kunst von höchster Staatsinstanz unmöglich gemacht worden war, konnte nicht den scharlatanischen Trick der "inneren Emigration" erlernen. Er liess seine Aufsätze unvollendet, stopfte seine Notizzettel achtlos zwischen die Seiten der Bücher, die er in den Vorlesungs-Pausen gerade las. Seiner Lage entsprechend zitterte ihm bei jedem niedergeschriebenen Wort die Hand; aus Furcht, die Todsünde des "Formalismus" zu erneuern, wagte er nicht, Manuskripte zur Veröffentlichung einzureichen und liess sie vielfach fragmentarisch. Er starb nach zweijähriger Krankheit an einer Herzüberlastung.

1958, zehn Jahre nach dem Tod des Regisseurs, erklärte der sowjetische Kulturminister, Frau Furzewa, etwa dem Sinne nach: "Unsere Filmkunst ist immer noch nicht wieder auf ein so hohes Niveau gelangt, wie zur Zeit Eisensteins _..." Diese Worte kommen tatsächlich einer Rehabilitierung gleich. Und es blieb nicht nur bei diesen Worten. Der 2. Teil von IWAN DER SCHRECKLICHE wurde zur Aufführung freigegeben, und die Kritik wies in all den Journalen, die seinerzeit Eisenstein einmütig als "Formalist" bezeichnet hatten, auf die bahnbrechenden künstlerischen Qualitäten des Filmes hin. Die sowjetische akademische Jugend, in ihrem Vertrauen in die unfehlbare Weisheit der KP-Organe erschüttert, bemühte sich ohnehin seit dem 20. und erst recht seit dem 22. Kongress um die Festigung ihrer eigenen Urteilskraft. Sie liess sich von dem Lob, das den Bannfluch ablöste, nicht betören und verlangte von der Regierung die eigentlich selbstverständliche Freiheit, mit eigenen Augen die Werke Eisensteins beurteilen zu dürfen. Das Chruschtschow-Zentralkomitee hatte gegen diese Wünsche nichts einzuwenden.

Die seitdem möglich gewordenen Repertoire-Aufführungen Eisenstein'scher Filme sind es jedoch nicht allein, die Beachtung verdienen. Wenngleich Kinos und das Fernsehen in Abständen frühe und spätere Werke des Künstlers wieder vorführen, so genügt das schliesslich noch nicht, um einen schulemachenden Einfluss auf die jungen Filmproduzenten auszuüben. Eisenstein, auch hierin dem bereits erwähnten Bertolt Brecht ähnelnd, liess es nicht an theoretischer Verdeutlichung seiner künstlerischen Absichten fehlen. Seine Aufsätze, selbst die flüchtigsten Notizen, geben vortrefflich Aufschluss über die ästhetischen Grundlagen, von denen aus er operierte. Auch wenn niemand auf die Idee verfallen wird, seine Konzeption zu einem Absolutum zu verklären, so sind sie doch ungemein wichtige Beiträge zur Filmästhetik. Theoretische Arbeiten auf diesem Gebiet liegen auf der ganzen Welt bisher nur in geringer Zahl vor. Der Veröffentlichung der Eisenstein-Beiträge kommt also mehr als nur "vaterländisch-sowjetische" Bedeutung zu.

Deshalb kann man sagen, dass das Archiv in der Wohnung Frau Pera Ataschewas mit jedem Tag an Bedeutung für die Filmtheorie gewinnt. Die Bibliothek Eisensteins enthält neben dem Stammschatz russischer Werke, die deutschen, französischen, englischen und Sparaschen Klassiker in Originalsprache, die Sergej Michailowitsch alle beherrschte. Mehrere Regale sind mit japanischen Büchern gefüllt, denn auch Japanisch studierte Eisenstein, und es war die Literatur dieses Landes, die ihn zu einem Teil seiner neuartigen Montageideen anregte. Eine weitere Buchwand gehört Mexico und enthält fast alles, was über die Inka-, Maja- und Azteken-Kulturen geschrieben wurde. Die sogenannten ,bourgeoisen', Werke über die Psychologie der Kunst, stehen neben Marx und den vor- und nachmarxistischen Philosophen. Alle diese Bände, zusätzlich einiger Berge Magazine und Zeitschriften, sind ein Eldorado für Filmhistoriker geworden: Zwischen jedem Seitenpaar mag man Manuskriptteile, Notizen und Aphorismen entdecken, die neuen Aufschluss über Eisensteins Kunst vermitteln und deshalb veröffentlichenswert sind.

Mit der Vorbereitung der Gesamtausgabe befasst sich der Istkusstro-Verlag - das für Kunstveröffentlichungen zuständige Unternehmen. Als Gastlektoren arbeiten sechs erfahrene Filmkenner für diesen Verlag, darunter die besten Filmkritiker des Landes, wie Weissfeld, Jureneff und Freilich. Dem Team steht Sergej Judkewitsch vor, seinerseits hauptsächlich durch die Verfilmung des Othello-Stoffes berühmt geworden. Unter seiner Anleitung arbeitet man momentan an der Fertigstellung des zweiten Bandes. Durch ,Neuentdeckungen' schwoll das ,Ur-Manuskript' von ursprünglich 60 auf 210 Seiten an, die durch Quellenhinweise zu Zitaten und Kommentaren noch erweitert werden. Kommentare sind besonders dort erforderlich, wo der vielsprachige Eisenstein deutsche, französische, englische oder spanische Ausdrücke und Sätze verwandte, weil er im Russischen keinen ähnlich treffenden und knappen Ausdruck finden konnte. Ausserdem versucht man, unvollendete Aufsätze an Hand kongruenter Notizen zu ergänzen. Die erwähnten Lektoren werden bei all dieser Arbeit von einer Studentengruppe unterstützt, denen die Witwe Eisensteins ebenfalls Zugang zu den Manuskripten gewährt. Nach dem vorliegenden Plan soll zuerst das Material über Filmkunst publiziert werden, dann Aufsätze über Theater und Oper, über theoretische Probleme, ein Band mit journalistischen Beiträgen allgemeiner Natur, danach die Drehbuch-Texte und zum Abschluss die Eisenstein-Briefe. Sobald alle diese Manuskripte veröffentlicht sind, übergibt Frau Pera Ataschewa die Originale dem Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst' in Moskau.

Als Ende 1961 ein Band ,Die Zeichnungen Eisensteins' mit Kommentaren in drei Sprachen herauskam, war nach einem einzigen Vormittag die Auflage in den Moskauer Buchläden vergriffen. Dieses anspruchsvoll gedruckte und offenbar auch für den Export vorgesehene Werk zeigt auf besondere Weise den Einfluss des Expressionismus, dem Eisenstein unterlag, und jede der Bleistift- und Tusche-Skizzen weisen den Künstler als Zeitgenossen eines im Umbruch stehenden Europa aus. Diese Zeichnungen wurden dank der Bemühungen des sowjetischen Filmkritiker-Verbandes übrigens in Warschau, Berlin, Paris, Amsterdam, Milano und Rom ausgestellt und sollen in nächster Zukunft in Kopenhagen und in London zu sehen sein.

Das Studium der Zeichnungen erleichtert den Zugang zu Eisenstein-Filmen. Sie bezeugen den Einfallsreichtum, mit dem der Künstler arbeitete. In seinem expressionistischen Stil, in dem jeder Satz zu einem Absatz wird, schreibt Eisenstein, er habe in der Loge des Bolschoi-Balletthauses auf die Rückseite der Einlasskarte die ersten Zeichnungen zu IWAN DER SCHRECKLICHE entworfen. "Es überkam mich", heisst es da. Nur wenige von den über zweitausend Skizzen zu diesem Film sind bisher veröffentlicht worden. In Ergänzung der Filme offenbaren die Zeichnungen Möglichkeit und Unmöglichkeit des Eisenstein-Unterfangens - nämlich Dynamik und Mechanik miteinander zu paaren. Wie wichtig die Zeichnungen für das Gesamtwerk sind, unterstreicht eine Äusserung Prokoffiews, der erklärte, ohne sie wäre es ihm unmöglich gewesen, die Musik zu Streifen wie IWAN oder ALEXANDER NEVSKY zu komponieren.

Bei der vorgesehenen Veröffentlichung der Drehbücher ergeben sich eine Reihe spezifischer Probleme. Eine Art "Pocket Book"-Serie soll mit der Liste der Einstellungen zu PANZERKREUZER POTEMKIN beginnen und mit den Büchern zu OKTOBER und ERDE zunächst weitergeführt werden. Für den POTEMKIN vermitteln die wenigen erhaltenen Aufzeichnungen Eisensteins nur eine karge Vorstellung, so dass die 274 Einstellungen vom Bild her in beschreibenden neuen Text umgeformt werden müssen. (Anm. d. Red.: Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die Erläuterungen, die in ,S. Eisenstein, Künstler der Revolution', Berlin 1960, S. 337 ff, gegeben worden sind.) Gewissenhaft muss jede Handlung und jedes Hintergrund-Detail untersucht und registriert werden. Schwieriger wird diese Aufgabe indessen bei weniger bekannten Streifen, wie DAS ALTE UND DAS NEUE, von dem es überhaupt keine authentische Fassung gibt. Eisenstein, der den Schnitt leitete, stellte vom selben Film mehrere Fassungen her, so dass in verschiedenen Kopien auch verschiedene Aufnahmen vorkommen. Hinzu gerechnet muss der Umstand werden, dass die Filmvorführer ihrerseits bei Streifen, die über 30 Jahre gezeigt wurden und entsprechend häufig rissen, sehr freizügig mit der Schere umgingen. Nur an Hand des Drehbuches und der vergleichenden Gegenüberstellung ist es möglich, eine Fassung zu erarbeiten, mit der Eisenstein mutmasslich einverstanden gewesen wäre. Liegen diese Drehbücher erst einmal vor, so kann man mit grosser Gewissheit annehmen, dass junge Regisseure innerhalb und ausserhalb der Sowjet-Union sie als Studienunterlagen heranziehen werden. Es kann kein Zweifel darüber herrschen, dass Eisenstein sowohl als Filmkünstler, wie auch als posthumer Lehrer für das junge sowjetische und internationale Filmschaffen in zunehmendem Masse an Bedeutung gewinnen wird.

Auf welche Weise er bereits den zeitgenössischen, westeuropäischen Film beeinflusste, zeigt das Beispiel des französischen Welterfolges HIROSHIMA, MON AMOUR. Regisseur Resnais und Autorin Marguerite Duras entwickelten hier Methoden weiter, die Eisenstein in einem 1932 in der Sowjet-Union veröffentlichten Artikel zum Thema "Innerer Monolog" theoretisch umriss. In einem Aufsatz der pariser Zeitschrift "Image et Son" zitierte Resnais die Erkenntnis des russischen Regisseurs respektvoll. Auch hier war es wieder die Praxis, die Eisenstein zu avantgardistischen Folgerungen trieb. 1930 bereits schrieb er, gemeinsam mit dem Engländer Ivor Montagu, ein Drehbuch mit "inneren Monologen" nach dem Dreiser-Roman "Amerikanische Tragödie". An den unerfüllbaren Bedingungen, die Hollywood damals stellte, scheiterte dieses Projekt. Nun ist zu hoffen, dass in absehbarer Zukunft auch sowjetische Regisseure auf ihre Weise die kühnen Entwürfe des Meisters verarbeiten, dem die ganze Welt Beifall und Achtung zollt.       Arno K. Reinfrank
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Wolf als Grossmutter von Theodor W. Adorno

Als stärkstes Argument haben die Apologeten des Films das gröbste, seine massenweise Konsumtion für sich. Sie erklären ihn, das drastische Medium der Kulturindustrie, zur Volkskunst. Unabhängigkeit von den Normen des autonomen Werks soll ihn von der ästhetischen Verantwortung entbinden, deren Massstäbe ihm gegenüber als reaktionär sich erwiesen, wie denn in der Tat alle Intentionen seiner künstlerischen Veredelung ein Schiefes, schlecht Gehobenes, die Form Verfehlendes haben - etwas vom Import für den Connaisseur. Je mehr der Film Kunst prätendiert, um so talmihafter wird er. Darauf können die Protagonisten deuten und sich auch noch, als Kritiker der mittlerweile verkitschten Innerlichkeit, mit ihrem roh stofflischen Kitsch als Avantgarde vorkommen. Begibt man sich erst einmal auf solchen Boden, so sind sie, gestärkt durch technische Erfahrung und Materialnähe, fast unwiderstehlich. Der Film sei keine Massenkunst, sondern bloss zum Betrug der Massen manipuliert? Aber über den Markt machten sich doch die Wünsche des Publikums unablässig geltend; allein schon die kollektive Herstellung garantiere das kollektive Wesen; nur Weltfremdheit vermute in den Produzenten schlaue Drahtzieher; die meisten seien talentlos, gewiss, aber wo die rechten Begabungen sich zusammenfänden, könne es trotz aller Beschränkungen des Systems gelingen. Der Massengeschmack, dem der Film gehorcht, sei gar nicht der der Massen selber, sondern oktroyiert? Aber von einem anderen Massengeschmack zu reden als dem, den jene nun einmal haben, sei töricht, und was je Volkskunst hiess, habe stets schon die Herrschaft reflektiert. Nur in der kompetenten Anpassung der Produktion an gegebene Bedürfnisse, nicht in der Rücksicht auf eine utopische Hörerschaft vermag nach solcher Logik der namenlose Allgemeinwille Gestalt zu gewinnen. Der Film sei voll der Lüge der Stereotypie? Aber Stereotypie ist das Wesen der Volkskunst, die Märchen kennen den rettenden Prinzen und den Teufel, wie der Film den Helden und den Schuft, und noch die barbarische Grausamkeit, mit der die Welt in Gute und Böse aufgeteilt wird, hat der Film mit den höchsten Märchen gemein, welche die Stiefmutter in glühenden Eisenschuhen zu Tode sich tanzen lassen.

All dem wäre zu begegnen nur durch Erwägung der von den Apologeten vorausgesetzten Grundbegriffe. Die schlechten Filme lassen nicht der Inkompetenz sich zur Last legen: Der Begabteste wird vom Betrieb gebrochen, und dass die Unbegabten ihm zuströmen, liegt an der Wahlverwandtschaft von Lüge und Schwindler. Der Stumpfsinn ist objektiv; personelle Veränderungen können keine Volkskunst stiften. Deren Idee ist an agrarischen oder der einfachen Warenwirtschaft gebildet. Solche Verhältnisse und ihre Ausdruckscharaktere sind die von Herren und Knechten, Profitierenden und Benachteiligten, aber in unmittelbarer, nicht ganz vergegenständlichter Gestalt. Wohl sind sie nicht weniger durchfurcht von Klassendifferenzen als die späte Industriegesellschaft, aber ihre Mitglieder sind noch nicht von der Totalstruktur umklammert, welche die einzelnen Subjekte erst zu blossen Momenten reduziert, um sie dann, als Ohnmächtige und Abgetrennte, zum Kollektiv zu vereinen. Dass es kein Volk mehr gibt, heisst darum jedoch nicht, wie die Romantik propagierte, die Massen seien schlechter. Vielmehr enthüllt sich gerade erst in der neuen, radikal entfremdeten Gestalt der Gesellschaft die Unwahrheit der älteren. Eben die Züge, in denen die Kulturindustrie das Erbe der Volkskunst reklamiert, werden durch jene selber verdächtig. Der Film hat rückwirkende Kraft: Sein optimistisches Grauen legt am Märchen zutage, was immer schon dem Unrecht diente, und lässt in den gemassregelten Bösewichtern das Antlitz derer dämmern, welche die integrale Gesellschaft verurteilt und welche zu verurteilen von je der Traum der Vergesellschaftung war. Daher ist das Absterben der individualistischen Kunst keine Rechtfertigung für eine, die sich gebärdet, als wäre ihr Subjekt, das archaisch reagiert, das natürliche, während es das gewiss bewusstlose Syndikat der paar grossen Firmen ist. Haben selbst die Massen, als Kunden, Einfluss auf den Film, so bleibt jener so abstrakt wie der Kassenausweis, der anstelle von nuanciertem Applaus trat: blosse Wahl zwischen Ja und Nein zu einem Offerierten, eingespannt in das Missverhältnis von konzentrierter Macht und zerstreuter Ohnmacht. Dass schliesslich beim Film zahlreiche Experten, auch einfache Techniker mitzureden haben, garantiert so wenig seine Humanität wie die Entscheidung kompetenter wissenschaftlicher Gremien die von Bomben und Giftgas.

Das feinsinnige Gerede von Filmkunst zwar steht den Skribenten an, die sich empfehlen wollen; die bewusste Berufung auf die Naivität aber, auf die längst durch den Gedanken der Herren hindurchgegangene Dumpfheit der Knechte taugt nicht mehr. Der Film, der heute so unausweichlich an die Menschen sich hängt, als wär's ein Stück von ihnen, ist ihrer menschlichen Bestimmung, die von einem Tag zum anderen sich verwirklichen liesse, zugleich am allerfernsten, und die Apologetik lebt von dem Widerstand dagegen, diese Antinomie zu denken. Dass die Leute, welche die Filme machen, keineswegs Intriganten sind, besagt garnichts dagegen. Der objektive Geist der Manipulation setzt sich in Erfahrungsregeln, Einschätzungen der Situation, technischen Kriterien, wirtschaftlich unvermeidlichen Kalkulationen, dem ganzen Eigengewicht der industriellen Apparatur durch, ohne dass erst eigens zensiert wird, und selbst wer die Massen befragte, dem würden sie die Ubiquität des Systems zurückspiegeln. Die Herstellenden fungieren so wenig als Subjekte wie ihre Arbeiter und Abnehmer, sondern lediglich als Teile der verselbständigten Maschinerie. Das Hegelisch klingende Gebot aber, Massenkunst habe den realen Geschmack der Massen zu respektieren und nicht den der negativistischen Intellektuellen, ist Usurpation. Der Gegensatz des Films als allumspannender Ideologie zu den objektiven Interessen der Menschen, die Verfilzung mit dem status quo des Profitwesens, schlechtes Gewissen und Betrug lassen bündig sich erkennen. Keine Berufung auf einen tatsächlich vorfindlichen Bewusstseinsstand hätte je das Vetorecht gegen Einsicht, welche über diesen Bewusstseinsstand hinausreicht, indem sie einen Widerspruch zu sich selbst und zu den objektiven Verhältnissen trifft. Möglich, dass der deutsche faschistische Professor recht hatte und dass auch die Volkslieder, die es waren, schon vom herabgesunkenen Kulturgut der Oberschicht lebten. Nicht umsonst ist alle Volkskunst brüchig und, gleich den Filmen, nicht ,organisch'. Aber zwischen dem alten Unrecht, dessen klagende Stimme dort noch hörbar ist, wo es sich verklärt, und der sich selbst als Verbundenheit behauptenden Entfremdung, welche den Schein menschlicher Nähe mit Lautsprecher und Reklamepsychologie abgefeimt erweckt, ist ein Unterschied gleich dem zwischen der Mutter, die dem Kind, um seine Dämonenangst zu beschwichtigen, das Märchen erzählt, in dem die Guten belohnt und Bösen bestraft werden, und dem Kinoprodukt, das den Zuschauern die Gerechtigkeit jeglicher Weltordnung in jeglichem Lande grell, drohend in die Augen und Ohren treibt, um sie aufs neue, und gründlicher, das alte Fürchten zu lehren. Die Märchenträume, die so eifrig sich auf das Kind im Manne berufen, sind nichts als die von der totalen Aufklärung organisierte Rückbildung, und wo sie den Betrachtern am zutraulichsten auf die Schulter klopfen, verraten sie jene am gründlichsten. Unmittelbarkeit, die von den Filmen hergestellte Volksgemeinschaft läuft auf die Vermittlung ohne Rest hinaus, welche die Menschen und alles Menschliche so vollkommen zu Dingen herabsetzt, dass ihr Gegensatz zu den Dingen, ja der Bann von Verdinglichung selber garnicht mehr wahrgenommen werden kann. Dem Film ist die Verwandlung der Subjekte in gesellschaftliche Funktionen so differenzlos gelungen, dass die ganz Erfassten, keines Konflikts mehr eingedenk, die eigene Entmenschlichung als Menschliches, als Glück der Wärme geniessen. Der totale Zusammenhang der Kulturindustrie, der nichts auslässt, ist eins mit der totalen gesellschaftlichen Verblendung. Darum hat er mit den Gegenargumenten so leichtes Spiel.
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Film und Filmkritik FILMSTUDIO-Umfrage

1. Wie sehen Sie die augenblickliche künstlerische Situation des Films?
a) überhaupt
b) in Ihrem Land

2. Welche künstlerischen Tendenzen innerhalb der Filmkunst von heute halten Sie für bestimmende Faktoren einer Filmkunst von morgen?

3. Welche Tendenzen innerhalb des alten Films haben sich Ihrer Meinung nach bestimmend auf den heutigen Film ausgewirkt?

4. Wie sehen Sie die künstlerischen Beziehungen zwischen. Film und Fernsehen?

5. Welche Position müsste Ihrer Meinung nach eine Kritik haben, die dem Film vollkommen gerecht wird?

Diese fünf Fragen stellten wir Redakteuren, die für ihre Zeitungen und Zeitschriften seit Jahren die internationale Filmproduktion beobachten und kritisieren. Aus Deutschland (leider nur aus Westdeutschland), Österreich und der Schweiz antworteten auf unsere Umfrage:

Franz Everschor, Redaktion KATHOLISCHER FILMDIENST, Düsseldorf:

1. a) Ich verfolge sie mit Spannung. Mit Spannung deshalb, weil die Vertreter des wirklich diskussionsreifen Films - ich meine vor allem Resnais, Antonioni und Bergman - an Grenzen vorgedrungen sind, die filmkünstlerische Realisation nicht mehr allein mit Erkenntnissen des Films umgreifen lassen, sondern Film in den Bereich einer umfassenderen Kunsterfahrung ordnen, der nicht nur hinsichtlich der formalen Tendenzen, sondern auch in bezug auf die Funktion des Kunstwerks in der Gesellschaft interessante Vergleichspunkte bietet.

b) Um so trostloser, da man - einige Ansätze, aber auch nur Ansätze, junger Regisseure ausgenommen - noch immer hausgemachtes Kino kocht.

2. Die Frage habe ich zum Teil schon unter 1a beantwortet. Hinzugefügt sei, dass mir die Dokumentaristen verschiedenster Nationalität - bei aller Unterschiedlichkeit - sehr wichtig scheinen. Ihr Einfluss auf den (guten) Spielfilm war selten so gross wie heute. Ihr Bemühen, den Menschen aufzuspüren, brauchen wir!

3. Ich möchte es dem Leser überlassen, die "Tendenzen" hinter einigen Namen zu entdecken, die ich in diesem Zusammenhang für wichtig halte: Lang, Dreyer, Renoir (der frühe Renoir!), Clair (der frühe Clair, längstens bis zu seiner Amerika-Zeit), Capra und auch Hitchcock und Welles. Falls Sie Bresson zum "alten Film" zählen wollen, dürfte er nicht fehlen.

4. Gibt es schon künstlerisches Fernsehen? Vielleicht war ich immer gerade dann im Kino.

5. Die Frage ist nicht zu beantworten. Solange Kritik eine "Position" hat, wird sie niemals in der Lage sein, einem Film "vollkommen" gerecht zu werden. Eine Kritik ohne Position würde es ebensowenig schaffen, abgesehen davon, dass es sie nicht gibt. Ihre Frage erkennt richtig, dass Kritik eine Position haben muss, unbeantwortbar macht sie der Ausdruck "vollkommen". Begnügen wir uns lieber weiterhin mit der jeweils bestmöglichen Unvollkommenheit! Die besten Kritiken verschiedener Positionen zu vergleichen, wird die einzige Möglichkeit sein, dem utopischen Ziel der vollkommenen Filmkritik wenigstens nahe zu kommen.

Prof. Dr. Ludwig Gesek, Redaktion FILMKUNST, Wien:

1. a) Die künstlerische Situation des Films scheint mir heute am wesentlichsten von seiner Umbruchsituation her bestimmt.

Der schmale Sektor Kunst im Bereich des Films erfährt von jeder technischen Veränderung zunächst eine Bedrohung. Fernsehen und Breitwand haben die praktischen Möglichkeiten der Kunst des lebenden Bildes zunächst verringert, obwohl sie sie theoretisch erweitert haben. Auch der Tonfilm hat zunächst einen künstlerischen Rückschlag gebracht. Die Umschichtung des Publikums engt im Augenblick den Raum für die Produktion des Kunstwerks Film noch mehr ein. Das Angebot der wesentlichen Filme, die früher auf einem Festival einen Eindruck des Fortschrittes der Filmkunst vermittelten, verdünnt diesen Eindruck durch die Festivalinflation noch mehr, als der heute geringeren Anzahl wesentlicher Filme entsprechen würde.

Zudem hat der Film eine ernste Nachwuchskrise. Der Nachwuchs hat beim Fernsehen mehr Chancen, zum Zuge zu kommen und etwas zu versuchen als beim Film. Der Kurzfilm, die normale Schule und Experimentierstätte des filmambitionierten Regisseurs, wird immer mehr zurückgedrängt. Die Sorge, dass die Filmkunst stagniert, dass die ernsten Künstler, die sich des Films bedienen, weniger werden, gewinnt an Gewicht. Dass dabei die Filmkunst eine echte Chance hat und das Interesse an den wesentlichen Filmen der Vergangenheit, jahrzehntelang in Filmklubverbänden und in der Volksbildung systematisch gefördert, heute, auch in den Massstäben eines Filmpublikums gemessen, bereits relevant ist, so dass gute Filme (wie Bühnenstücke) wiederaufführungsfähig werden, scheint mir dabei ein hoffnungsvoller Aspekt.

b) Es ist recht selten, dass bei einem Filmfestival ein österreichischer Film einen Preis nach Hause trägt, aber es gibt kaum ein Festival, bei dem nicht an den preisgekrönten Filmen wenigstens ein Österreicher schöpferischen Anteil hätte.

3. Wenn ich die dritte Frage vorausnehme: die ganze Struktur des heutigen Films ist aus vergangenen Notwendigkeiten und Gewohnheiten überkommen. Da aber auch das Publikum mit Gewohnheiten und gewohnten Vorstellungen darauf antwortet, ist eine Änderung, ein Ausbrechen aus der gewohnten Bahn, schwierig und verlangt Pionierleistungen der Manager und Künstler. Bei beiden geht es im Grunde um das Ringen um ein neues Konzept. Das Kinotheater war bisher ein Monopol, heute ist es eine Vergnügungsstätte unter anderen, der Film war bisher die Bildkunst, der Erzähler in Bildern, heute ist er die eine Form der Bildkunst, die eine Form der Bilderzählung.

4. Film und Fernsehen sind m. E. Geschwister, es sind zwei spezifische Formen mit sehr genauen Differenzierungen desselben Mediums. Verwandt und verschieden wie (um hinkende Vergleiche zu gebrauchen) Roman und lyrisches Gedicht (beide sind Sprachkunstwerke) oder grosse Oper, Schauspielhaus, intimes Kammerspiel und Kellertheater (alle vier sind Theater), sie sind gleichen dramaturgischen Grundgesetzen der Gestaltung unterworfen, aber grundlegend verschieden aus der Anpassung an die Empfangssituation ihres Publikums und ihres technischen Apparates. Ich glaube, dass das Fernsehen von der Perfektion der Filmarbeit, der Film von der Beweglichkeit, Improvisation und Intuition der Fernseharbeit Anregungen erfahren kann. Aus dem, was dort geht und hier nicht geht und vice versa können Anregungen für neue Lösungen gefunden werden, die weiter führen. Entscheidend ist nur eines: dass in beiden Medienformen neben dem Betrieb, der notwendig und unvermeidlich ist, ein Raum gelassen wird für die Kunst und künstlerische Versuche. 5. Filmkritik hat meines Erachtens keineswegs die Aufgabe, dem Film gerecht zu werden. Sie wird nicht für den Film oder die Filmhersteller geschrieben, sondern für die Zuschauer oder besser gesagt, für jene Gruppe von Zuschauern, deren Exponent der betreffende Kritiker ist.

Der Kritiker, wenn er seine Aufgabe ernst nimmt, misst daher an Hand seiner Wertmassstäbe, ob der Film diesen Zuschauern gerecht wird oder den Anforderungen, die diese Zuschauer an den Film stellen, oder die er im Interesse dieser Zuschauer an den Film stellen zu müssen glaubt. An dieser Aufgabe des Kritikers wird sich meines Erachtens auch nichts ändern.

Dass Kritik oft als ungerecht empfunden wird, kommt freilich zum Teil aus der Tatsache, dass der Filmkritiker die Massstäbe, die er für seine Gruppe anwenden muss, sehr genau kennt, dass er auch seine Gruppe sehr genau kennt. Das Medium aber, dass er kritisiert, die Bedingtheiten, die diesem Medium eigen sind, kennt er aber oft nur oberflächlich. Abhilfe schafft nur eine entsprechende fundierte Fachkenntnis, so dass der Kritiker aus echtem Verständnis erkennt, was dem kritisierten Medium möglich ist und wo seine, im Wesen des Mediums oder in seinen sozialen Bedingtheiten liegenden Grenzen überschritten werden. Nur dann entsteht bei dem Kritisierten das Gefühl, trotz aller Gegensätzlichkeit einem fachkundigen Kollegen gegenüberzustehen.

Der Kritiker darf dem Film nicht als Feind gegenüberstehen. Er muss ihn wenigstens in seinen Möglichkeiten lieben, und wenn er das Einzelwerk kritisiert, immer der Anwalt für das Medium als Ganzes bei seinen Lesern bleiben. Nur gründliche Fachkenntnis bewahrt vor geistigem Hochmut, der das Wissen von einer Seite einer Sache gegen das Nichtwissen von der anderen Seite desselben Gegenstandes ausspielt.

Dr. B. Kleinert, Mitherausgeber und Filmjournalist der Schweizer Filmzeitschrift CINEMA, Zürich:

1. a) Die künstlerische Situation des Films ist - wirtschaftlich bedingt - in eine Zwischenphase getreten. Künstlerisch wertvolle Filme entstehen nicht auf Bestellung. Sie sind Folgen glücklicher Konstellationen im Gros der Produktion. Ihr Prozentsatz in diesem Gros ist sehr klein. Mit einem weiteren Verdrängen der Filmproduktion durch das Fernsehen sollte somit auch dieser Prozentsatz zurückgehen. Demgegenüber zeichnet sich aber eine Verlagerung ab: Die Filmproduktion baut den konventionellen Film ab zugunsten zweier fernsehungeeigneter Gebiete: Filmshow und Filme mit künstlerischen Aspirationen. Im letzeren, versucht sie sich auf einen Kreis jener Filmschaffenden zu konzentrieren, der die günstigsten Voraussetzungen mit sich bringt, um den obgenannten Prozentsatz zu heben. Dabei stösst sie auf Schwierigkeiten zufolge der teilweisen eigenen Inkompetenz zur Auslese sowie bezüglich eines noch immer zu kleinen Publikumskreises mit spezifischem Filmbewusstsein,

b) Publikumsseitig in bester Entwicklung. Filmklubfilme mit Erfolg im ordentlichen Programm.

Produktionsseitig schweigen wir uns lieber aus _...

2./3. Fraglich, ob sich Tendenzen über eine Stilepoche hinaus auf die spätere Entwicklung auswirken. Der Neorealismus war in sich geschlossen. Es dürfte müssig sein, Antonioni oder Fellini auf den Neorealismus zurückführen zu wollen. Beide Filmschaffenden sowie Bergman und die anderen bedeutenden Persönlichkeiten der Gegenwart sind individuelle Erscheinungen. Was den russischen Revolutionsfilm als grundlegend bestimmende Tendenz gelten lässt, ist die Tatsache, dass in ihm erstmals die filmische Sprache definiert wurde. Diese elementare Erscheinung wiederholt sich nicht.

4. Fernsehen und künstlerischer Film haben grundlegend andere Gesetze.

5. Es kommt weniger auf die Position an als auf die Kompetenz. Die Position hat noch selten schlechte Kritiken geliefert. Die Inkompetenz aber hat schon viel auf dem Gewissen.

Enno Patalas, Redaktion FILMKRITIK, München:

1. Die Chancen der Filmkunst steigen mit der Verschärfung der Kinokrise.

2. Die Literarisierung (Brecht: "Die Literarisierung bedeutet das Durchsetzen des ,Gestalteten' mit ,Formuliertem'").

3. Jene, die die Abkehr vom Filmdrama vorbereiteten.

4. Der Fernsehfilm muss abstrahieren vom Schauwert und den Film reduzieren auf seine literarischen Aspekte und die reine Dokumentation. Hier sind seine Möglichkeiten unbegrenzt.

5. Die Position der "Filmkritik".

Dr. Georg Ramseger, Redaktion DIE WELT, Hamburg:

1. a) Stagnierend - aber nicht hoffnungslos.

b) Eine "künstlerische" Situation ist nicht vorhanden.

2. Immer noch einmal den gezügelten Realismus (Karel Reisz und Richardson) der Engländer, den intelligenten Symbol-Verismus der Buñuel, Fellini, Antonioni und Resnais und die freche Zertrümmerung aller Gesetze, die Neues schafft (Louis Malle "Zazie").

3. Keine Filme zu schaffen, sondern Unterhaltung zu produzieren.

4. Ich sehe keine, ausser derjenigen - der negativen -, dass künstlerische Filme vom Bildschirm hemmungslos hingemordet werden.

5. Auf dem hohen Seil, zwischen der Vorliebe für cinema pur und dem ideologischsoziologischen "Weltanschauler".

Dr. Martin Schlappner, Redaktion NEUE ZÜRCHER ZEITUNG:

1.a) Die schlichtere, nach Themenwahl kleinbürgerliche Unterhaltung, die Operette usw., wird mehr und mehr zum Fernsehen abwandern, das damit eine Unterhaltungsfunktion übernimmt, welche der Film bisher auf breiter Basis ausgeübt hat.

In den Produktionen ungewöhnlichen Ausmasses (sowohl was inszenatorischer Aufwand als auch was Bildformate betrifft) wird der Film dem Fernsehen weiterhin überlegen sein und daher Erfolg haben. Die Frage nach der künstlerischen Situation stellt sich hier allerdings vergebens, da Künstlerisches in solchen Filmen (Darsteller usw.) höchstens teil, nie Grundhaltung und Wesen des Films ist.

Die künstlerische Lage ist für den Film, der als Kunst wirklich geschaffen wird und sich selber ernst nimmt, nicht aussichtslos. Dabei ist sein Erfolg wohl weniger eine Folge seiner formalen Gestaltung als seines Stoffes, der relevant sein muss in menschlicher, sozialer, kultureller oder irgendwie kritischer Beziehung,

b) Der Schweizer Film steht in einer Krise. Jene staatspolitisch-idealen Filme wie "Die letzte Chance" oder "Die vier im Jeep" haben ihre Zeit hinter sich. Der kommerzielle Anschluss an den deutschen Film belastet wirtschaftlich auch den Schweizer Film, ob es sich nun um anspruchsvollere Werke handle wie "Die Ehe des Herrn Mississippi" oder um Unterhaltungsstücke wie "Schneewittchen und die sieben Gaukler". Der Dialektfilm findet in der Schweiz selbst kaum mehr Interesse, wenn er nur Themen der kleinbürgerlichen Welt wählt. Wo er literarisch substantiell ist, wie bei den Adaptionen der Romane von Gotthelf, trifft er auf Widerhall und hat er auch wirtschaftlich einigen Erfolg. Der zeit- oder sozialkritische Schweizer Film wird von der Filmkritik immer wieder gefordert, im Lande selbst aber bisher nur unzureichend produziert; ein Schweizer Film, der in gewisser Hinsicht Auskunft über die soziale Situation in der Schweiz gibt, ist Jean-Luc Godards "A bout de souffle".

2. Es wäre ungerecht, den Film, wie ihn - beispielsweise - Hollywood heute noch immer als richtig betrachtet (geradlinig erzählte Story, die sich in Fakten ausdrückt), kurzweg als schlechten oder unkünstlerischen Film zu bezeichnen. Diese traditionelle Art der Filme wird weiterbestehen und seine - relative - künstlerische Berechtigung haben, sofern sie sich um Qualität bemüht. Sie einfach abzulehnen, kommt einem Snobismus gleich, der seinerseits weniger fruchtbar ist als diese überkommene Machart von Filmen selbst.

Künstlerische Zukunft besitzt zweifellos der sogenannte Autorenfilm, wobei ich unter diesem Begriff jenen Film verstehen möchte, der ungeschmälerter Ausdruck eines Filmkünstlers ist, Ausdruck seiner Bemühung um das Ich, die Welt und Gott. Welche Stilart ein solcher Film pflegt, hängt von der künstlerischen Persönlichkeit des Autors und von dem dieser Persönlichkeit gemässen Stoff ab (dramatisch, episch, lyrisch). Rezepte lassen sich keine verfassen. Stoffe sind gültig, wie immer sie beschaffen sind, wenn sie in sich Wert haben und wenn sie formal adäquat gestaltet sind. Der Wert eines Films lässt sich nicht nach seiner "Tendenz" oder "Aussage" messen, also weder danach, ob er auf Änderungen im gesellschaftlichen Verhalten abzielt oder ob er rational überblickbare Lebensbezirke oder -probleme darstellt, noch danach, ob er in religiöse Schichten des Lebens eindringt. Je individueller ein Film (wie jedes andere Kunstwerk) ist, desto genauer trifft er auch national zu, und je nationaler ein Film ist, desto grösser ist seine universelle Gültigkeit.

3. Ganz zweifellos die "Tendenz" des Realismus, und zwar der verschiedenen realistischen Spielarten, sowohl des Stummfilms als auch des frühen Tonfilms, am stärksten dabei direkt der Realismus des russischen Revolutionsfilms und indirekt derselbe durch die Erneuerung und Vertiefung im Neorealismus Italiens, in dessen Gestaltbild allerdings der Einfluss des britischen Dokumentarismus' nicht übersehen werden darf. Diese realistischen Strömungen wirken sich heute verschiedenartig und oft gegensätzlich aus - der realistische Subjektivismus der "nouvelle vague" beispielsweise hat einen Quellgrund im Neorealismus Italiens ebensosehr wie der soziologische Realismus eines Gregoretti oder Jean Rouch im phänomenologischen Realismus Rossellinis. Das als Beispiele, die Verflechtung ist vielfältig und schwer entwirrbar.

4. Zu dem, was unter Frage 1 gesagt worden ist, wäre zu ergänzen, dass formal das Fernsehen eine Verarmung des filmischen Ausdrucks mit sich gebracht hat (Reduktion der Mittel wie Quadrierung des Bildes - Ausfall etwa der Totalen -, wie optischen Abkürzungen, optische Assoziationen, Tiefenschärfe, Licht-Schatten-Reichtum usw.). Die Zukunft des Fernsehens liegt im Fernsehspiel, das nach den Massgaben des eigenen Mediums inszeniert ist; der Kinofilm kann nur ein Lückenbüsser sein. Das Fernsehspiel selbst ist - vergleichsweise - wohl eher als Kammerspiel zu verstehen, seine Stoffe liegen denn auch in dieser Gattung, eindeutig jedenfalls bei der Bühne. Die Situation wird sich ändern, wenn die Fernsehgrossprojektion "Eidophor" Wirklichkeit geworden ist, wenn das Fernsehkino also zu einem Teil zumindest das Filmkino ablösen wird. Das ändert zwar lediglich vielleicht einiges für die Kinobesitzer, nicht aber für den Film als Medium und Kunstgattung.

5. Die Filmkritik müsste-was die Tagespresse betrifft-so ernst genommen werden, wie die Buch- oder Musikkritik. Das wird nur dort zutreffen, wo der Film ins kulturelle Leben integriert ist, Teil der kulturellen Summe einer Nation, Ausdruck wie Buch oder Malerei oder Musik der kulturellen Repräsentanz.

Wo der Film solcherart ernst genommen wird oder würde, da würde sich ihm eine Kritik zuwenden, die sich ihrer kulturellen, und dass heisst, gleicherweise künstlerischen wie soziologischen Verantwortung bewusst ist; eine Kritik, die den Film beurteilt nach der Vielzahl der Massgeblichkeiten, die seine so und so in Erscheinung tretende Gestalt ausmachen; eine Kritik, die sich weder einseitig nach dem Inhalt noch einseitig nach der Form noch einseitig nach der "Aussage" oder "Wirkung" ausrichtet, sondern jede dieser Komponenten und noch einige mehr als Einheit zu schauen vermag; eine Kritik, bei welcher einer derartigen Synthese selbstverständlich die Analyse vorausgegangen ist; eine Kritik, die ihre Wertung nach den dem Kritiker eigenen weltanschaulichen oder politischen Auffassungen erst dann vornimmt, wenn jene Analyse wirklich geschehen ist; eine Kritik, die gegenüber dem Andersdenkenden wenigstens so viel Anstand aufbringt, dass er die Urteile des Andersdenkenden respektiert; eine Kritik, die bei allem Wissen darum, dass es objektive Kritik nicht gibt, nach bestem Wissen und unter Berücksichtigung des notwendigen filmhistorischen, filmästhetischen, psychologischen, soziologischen Rüstzeuges benennt, analysiert, wägt und beurteilt.

Dr. Fritz W. Schwarzbeck, Redaktion EVANGELISCHER FILMBEOBACHTER, München:

1. a) Die Weltfilmproduktion kann ich nur soweit beurteilen, als ihre Erzeugnisse nach Bundesdeutschland kommen. Und auch davon kenne ich nur einen kleinen Teil, allerdings wohl die interessantesten Filme. Diese sind zumeist, wie eben erwähnt, für den Kenner interessant. Ich entdecke darunter nur sehr wenige, die mich innerlich berühren. Ich bin gespannt, wie lange die Filmproduktion überhaupt noch neue Formen und neue Inhalte finden wird, um die Massen, auf deren Eintrittsgelder sie angewiesen ist, in ihre Säle zu locken.

b) Die bundesdeutsche Filmproduktion zeichnet sich meines Erachtens vor dem Hintergrund der Gesamtsituation noch besonders negativ dadurch aus, dass sie seit langem schon, bis auf ganz wenige Zufallstreffer, einer völligen Rat- und Hilflosigkeit verfallen scheint.

2. Ich glaube nicht, dass es innerhalb der Filmkunst von heute künstlerische Tendenzen gibt, die bestimmende Faktoren für eine Filmkunst von morgen sein werden. Ich glaube vielmehr, dass ein beträchtlicher Teil derjenigen Erscheinungen, welche die seriöse Filmkritik für Kunst hält, nicht viel mehr als Tagesmode ist, die morgen Manier wird, an der man sich sattgesehen hat.

3. Die Tendenz, es auf jeden Fall anders zu machen als gestern. Diese Tendenz ist gewiss lobenswert. Man muss aber auch wirklich zu neuen Aussagen kommen und nicht nur, teils gehetzt, teils hektisch nach Neuem um jeden Preis laufen.

4. Im rein künstlerischen Bereich wird das Fernsehen den Film meines Erachtens niemals schlagen.

5. Eine Kritik, die dem Film vollkommen gerecht wird, müsste meines Erachtens, wie jede Kunstkritik, ihren Standpunkt ausserhalb der Filmkunst und ihrer ästhetischen Massstäbe haben.

H. D. Steinbichler, Redaktion FRANKFURTER NEUE PRESSE, Frankfurt am Main:

1. a) Filmkunst ist wie keine andere mit den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realitäten jener Länder verflochten, die sie hervorbringen. Sie ist in weit grösserem Masse, als sich dies nach etwas mehr als einem Halbjahrhundert schon abschätzen liesse, mit der Geschichte und der soziologischen Entwicklung des Staatsgefüges, in dem sie entsteht, verbunden. Das liegt zu einem Teil an dem betont merkantilen Charakter des Films, der geradezu das Musterbeispiel einer "Kulturindustrie" darstellt, an der gemessen sich die entsprechenden Nachbarkünste des Theaters, der Malerei, der Musik, die eine unvergleichbar längere Tradition haben, noch in relativer Freiheit befinden.

Wieviel Filme in einem Land gedreht werden und welcher Art sie sind, ist ein deutlicheres Pegel für die jeweilige ökonomische und gesellschaftliche Situation dieses Landes als Aussenhandelsstatistiken und Staatshaushaltspläne. Eng verbunden damit ist der Charakter des Films als Massenmedium. Ein schlechter Film stiftet mehr Unheil als ein schlechtes Theaterstück oder eine stümperhafte Sinfonie. Die künstlerisch bedeutendsten Filme sind meist dann entstanden, wenn ihre Produzenten oder Regisseure sich dem Zwang zur Nivellierung und zum täuschenden Betrug, der jeder Kulturindustrie anhaftet, entziehen konnten. Manche freilich auch durch List und Hinterlist sich entwickelnder Vernunft, die selbst in rein merkantilen Erzeugnissen noch lebendig blieb und - anstatt die Machtapparatur, der sie entstammten, zu bestätigen, sie blossstellte und anprangerte. Eine "allgemeine" künstlerische Situation des Films gibt es daher nicht - oder höchstens in Ansätzen - da nämlich, wo eine Aufweichung ideologischer Fronten festgestellt wenden kann (Polen, Jugoslawien), oder wirtschaftliche Krisen mehr Spielraum zu künstlerischer Freiheit liessen (Frankreichs "Neue Welle", Niedergang Hollywoods, verbunden mit dem Auftreten von Männern wie Cassavetes und Mekas).

Die Ohnmacht der Mächtigen zeugte die Macht der Filmkunst.

b) Die Misere des deutschen Films liegt tiefer begründet als in den Folgen der Kapitulation 1945 und der Entflechtung der Konzerne (UFA). Die deutschen Filme sind so schlecht, weil Deutschland bis heute noch nicht den Status einer demokratischen Nation erreicht hat. Als der Film als technisches Medium interessant wurde, war Deutschland ein reaktionärer Staat spät zur Einsicht gekommen, und zudem zu einer Einheit, die restaurativen und unvollkommenen Charakter hatte. Die Widerspiegelung des unvollkommenen und reaktionären Staatscharakters, der zurückgebliebenen und sich versteifenden, zwielichtigen und dumpf gefährlichen Gesellschaftsordnung lässt sich bis zu den "Fridericus"-Filmen, den mythologischen Erbauungsstücken à la "Nibelungen" und den schizophrenen Kunststücken der "Caligari"-Filme verfolgen. Selbstbemitleidung, Berufung auf "Schicksal" und andere mythologische Mächte, Erlahmung des gesellschaftlichen Selbstbewusstseins, Flucht vor der Realität, blieben Merkmale des deutschen Films bis in die Nazi-Zeit hinein, und die Teilung Deutschlands hat diese Position nur geringfügig verlagert. Während im Osten der platte, politische Propagandafilm vorherrscht, wurde im Westen die illusionslustige Verdummung in Form sogenannter Unterhaltungsfilme auf niederträchtigste Art betrieben und die "Problemfilme" kannten nur ein "Problem", nämlich das, die wahren Probleme möglichst zu eliminieren und scheinschöne Lösungen vorzugaukeln oder mit konformistischen Kabarettwitzen, die als "mutig" ausgegeben wurden, Kritik vorzutäuschen.

So begrüssenswert das Manifest der Oberhausener Gruppe erscheinen mag - ich kann bisher noch keinen Ansatzpunkt in ihren Arbeiten erkennen, der dieses Schema gültig durchbrechen könnte. Manche haben sogar einen offensichtlich reaktionären Charakter, der durch "kühne" Formspiele und schnodderige Frechdachsereien im Kommentar jene Freiheit vortäuscht, die sie nicht haben oder nicht haben wollen.

2. Ich halte die Art von Filmkunst für die bestmögliche, die sich bewusst davon distanziert, Kunst sein zu wollen. Der Zuschauer soll stets wissen, dass ihm etwas "Gemachtes" gezeigt wird. Was auf der Leinwand vor sich geht, soll ihn nicht betäuben, sondern wecken. Man appelliere nicht an Gefühl und Instinkt, sondern an Vernunft. Man schockiere den Zuschauer nicht durch explodierende Tricks, sondern durch Langeweile. Je weniger geschieht, desto wahrer ist der Film. Je weniger passiert, desto mehr fragt sich der Zuschauer, was eigentlich passiert sei. Und er soll fragen. Wenn er aus dem Kino kommt, soll er nicht wünschen: "So möchte ich sein" oder: "Das möchte ich haben!", sondern fragen: "Was bin ich? Wo bin ich?" und "lebe ich recht in dieser Welt, und ist diese Welt, in der ich lebe, recht?"

3. Eigentlich nur die technischen. Die Filmgeschichte hat eine Reihe von formalen Neuerungen und Erfindungen hervorgebracht, die der neue Film nicht nutzen muss, aber nutzen kann und soll, wenn die Konzeption des betreffenden Films es erfordert. (Montage, Schnitt-Technik, Überblendungen, Grossaufnahme, Doppelbelichtungen, Breitwandformat etc.) Die Werkzeuge, die hier vom alten Film geliefert wurden, sollten nicht von vornherein diffamiert werden. Ihre Anwendung sollte aber nicht der Illusion, der Täuschung, sondern der Erhellung dienen. Je sparsamer sie gebraucht werden, desto nachhaltiger wird ihre Wirkung sein. Das beste, was der alte Film uns mitüberliefert hat, ist die spielerische Scheinüberwindung von Zeit und Raum. Sie sollte nicht dazu benutzt werden, den Zuschauer in ein Gespinst von Lügen zu verstricken, sondern im Spiel die Wirklichkeit deutlicher zu machen.

4. Von künstlerischen Beziehungen kann man nur sprechen, wenn künstlerische facts zu erkennen sind. Der Film ist manchmal - und selten genug - Kunst. Das Fernsehen hat bisher mit Kunst gar nichts zu schaffen. Wenn manche Fernsehspiele sogenannte künstlerische Akzente enthalten mögen, sind sie dem Tabular der Bühne oder des Films entnommen, manchmal auch Mischformen aus beiden Bereichen.

Auch die Phrasen, die vom "kammerspielmässigen Charakter" einer kommenden Fernsehkunst handeln, sind Verlegenheiten, die schon im Vokabular wieder ihre Herkunft vom Theater verraten. Dass einzelne Kinofilme ursprünglich Fernsehspiele waren, bestätigt nur das Nichtvorhandensein einer originären und spezifischen Fernsehkunst. Die besten, wie auch die schlechtesten Fernsehstücke bestehen aus Anleihen aus den Materialien der Bühnen- oder Kinotechnik. Der Vorteil des Fernsehens liegt für mich gerade in den Programmbereichen, die möglichst wenig mit ästhetischen Kriterien zu tun haben: dem der Live-Sendung, der möglichst unmittelbaren, daher noch nicht perfektionierten und "gerichteten" Übermittlung von Geschehnissen, und dem der im weitesten Sinne aktuellen Information über politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland und in der Welt. Voraussetzung dafür ist, dass die Fernsehanstalten in möglichst unabhängiger Weise arbeiten können. Die Institution der deutschen Fernsehsender als "Anstalten des öffentlichen Rechts" mag ihre Schwächen haben, sie ist jedoch noch nicht einmal schlecht. Sie ist zumindest ein "kleineres Übel" gegenüber monopolistischen Tendenzen, woher sie auch kommen mögen.

5. Im Gegensatz zur Theaterkritik, die in Deutschland eine lange und bedeutsame Tradition hat (Lessing), wird die Filmkritik hierzulande meist nachlässig und immer noch mit einer ironisch-verächtlichen Nonchalance betrieben, als handle es sich um unverbindliche Lichtspielartistik, Zirkus- oder Varietévergnügungen. Die Bedeutung des Films in seiner gesellschaftlichen und soziologischen Verwurzelung und Verästelung wird nur in ganz wenigen Fällen erkannt. Es wäre freilich ungerecht, gegen die geplagten, kleinen Filmbesprechungsschreiber zu Felde zu ziehen, die oft an einem Tag 2 bis 3 Filme anschauen und dann noch am Abend sich mehr oder minder impressionistische und klischeehafte Zeilen abpressen müssen, damit die "Filmkritik" ja noch am nächsten Tag im Blatt steht. Der Grund des Übels liegt am System der handelsüblichen Filmkritik, das grundlegend geändert werden müsste, dem Rezensenten Zeit zur Überlegung, aber auch das Recht zur Kritik-Verweigerung lassen müsste, wenn, was er sagen will, in 10 Zeilen gepresst werden soll. Zum anderen Teil ist freilich auch die relative Uninteressiertheit der Schreiber, ihre oft unbewusste Befangenheit im Betrieb der Kulturindustrie, dem sie unterworfen sind, und ihre Unwissenheit Schuld an der kläglichen Situation der deutschen Filmkritik. Man kann jedoch von den Rezensenten einer Nation, die kaum zum Selbstbewusstsein ihrer gesellschaftlichen Situation gefunden hat, wohl nicht mehr erwarten. Filmkritik ist eine eminent politische Aufgabe - wobei Politik im weitesten Sinn, als Selbstbestimmung und Selbstdeutung des Individuums innerhalb einer Gesellschaftsordnung, die erst erkannt werden muss, um auf sie einzuwirken, verstanden sein soll. Jede Kritik setzt voraus, dass der Kritisierende angreifen will, um zu ändern - und dass er weiss, was geändert werden soll, was falsch ist.

Heinz Ungureit, Redaktion FRANKFURTER RUNDSCHAU, Frankfurt am Main:

1. a) Ich glaube, besser waren die Möglichkeiten für den künstlerischen Film nie als heute. Einfach weil der Grossteil des "Vergnügungspublikums" aus dem Filmtheater in die häuslichen Fernsehstuben geflohen ist. Dadurch ist einem Teil der Filmvergnügungs-Produzenten das Feld entzogen; dadurch können schöpferische junge Leute zum Zuge kommen, die im Film ein hervorragendes, künstlerisches Ausdrucksmittel unserer Zeit sehen. Beispiele für diese These gibt es bereits genug in klassischen Filmländern wie Frankreich, Italien, zum Teil auch in England und Amerika. Junge Filmländer wie Polen sehen im Film ohnehin das moderne Mittel geistiger Auseinandersetzung.

b) Deutschland muss - wie auf anderen Gebieten - auch auf dem des Films erst vollkommen in den Abgrund, ehe es sich der Fehler und anderer Möglichkeiten besinnt. Nun scheint aber die Zeit erreicht, wo Rummelproduzenten und Konzessions-Regisseure abgewirtschaftet haben. Gewiss ist die Neubesinnung für die schöpferischen Leute, die es auch hier gibt, doppelt schwierig. Einmal fehlt es an der rechten Tradition. Der Film war bei uns entweder Repräsentation, Propaganda oder Gefühlsrausch (oder alles in der Mischung). Geistige Freiheit hat er nie gehabt oder nie genutzt. Zum zweiten ist nun das finanzielle Risiko - nach der totalen Desavouierung des Films - so stark, dass auch die Gutwilligen nicht ganz ohne Hemmungen ans Werk gehen können. Aber die Besten werden sich durchboxen und werden den Film auch bei uns freistrampeln.

2. Bestimmend sein für den künstlerischen Film von morgen wird die geistige Auseinandersetzung. Ich sehe das Bemühen der jungen Filmleute in Frankreich, die ehrlich mit dem Mittel des Films ihr eigenes Verhalten beobachten, studieren und dann womöglich über ihre allgemeine Situation nachdenken. Ich sehe Soziologen in Frankreich und Amerika mit dem Film improvisieren und zu Ergebnissen kommen. Ich sehe Italiener präzise Verhaltens- und Sozialstudien anstellen, die doch gleichzeitig in ihrer geistigen Erregbarkeit eminent "unterhalten". Ich sehe Japaner an alten historischen Mythen des Heldischen, Kriegerischen und Opferungsvollen kratzen. Ich sehe die Polen mit dem Film Dogmen zerstören und nach dem Wert des einzelnen Individuums fragen.

Ich glaube überhaupt, dass der Film angefangen hat, die Mythen, die er in den letzten Jahrzehnten mithalf zu errichten, wieder zu demontieren, und zwar systematisch, quälend und resignierend, aber unaufhörlich und mit wachsendem Erfolg. Industrien, die Geld verdienen wollen, und Staatsdoktrinen, die Erfolg bei Massen haben wollen, müssen vorhandene Traum- und Mythenbilder aufgreifen und verklären. Kunst sucht sich ihrer bewusst zu werden, über sie mit kritischem Abstand zu reflektieren und sie abzuwehren.

3. Versuche dieser Art hat es vereinzelt auch in der Vergangenheit gegeben. Die schöpferischen Einzelkräfte, die der Industrie ihre individuellen Leistungen abzuringen verstanden, dürfen da gewiss als wegweisend verstanden wenden. Chaplin gehört so gut zu ihnen wie Renoir, Clair und Stroheim mit ihren besten Werken. Das Suchende, mit Abstand Reflektierende, ist wohl besonders in Orson Welles' CITIZEN CANE gegeben, weshalb wir diesen zwanzigjährigen Film auch in besonderer Weise als modern empfinden. Bei uns ist erst mal eine eingehende kritische Beschäftigung mit der Filmgeschichte - jenseits der wiederum verklärenden Erinnerungs-Episteln vom Schlage "Das gab 's nur einmal" - nötig, mit den künstlerischen und ideologischen Mythenbildern, auch mit den von Pabst, Murnau und den wenigen Ansätzen eines Filmrealismus.

4. Das Fernsehen hat zunächst die Rolle des grossen Massenunterhalters (neben einer ebenso umfangreichen publizistischen) übernommen. Es schwankt bei seinem ungeheuren Stoffbedarf zwischen den Stilen, den Ideologien, den Formen, zwischen viel Reaktionärem und gelegentlich Hoffnungsvollem. Der Film sollte gerade jetzt seine Position viel klarer sehen. Seine Möglichkeiten scheinen zunächst reduziert, ober künstlerisch auf diesem kleinen Gebiet sehr viel mannigfaltiger, erprobter, ausgefeilter. Während das Fernsehen wesentlich Transportmittel vieler Ausdrucksformen bleiben wird, hat der Film von der Sache und dem ganz anderen Erlebnis im grossen abgedunkelten Kinosaal her längst seine eigenen erprobten Mittel.

5. Kritik mag zwar dem Film nicht "vollkommen" gerecht werden, aber sie kann ihm viel gerechter werden als bisher. Die unwahrscheinlich phrasenhaften Stereotypen der Kritik, die angeblich vom jeweiligen eigenen Anspruch des Films abgeleiteten Massstäbe der Kritik müssen einem eigenen Anspruch des Kritikers an den Film allgemein und seiner Kritik im besonderen weichen. Auf Mythenbilder, verklärende Ideologien, künstlerisch ausgeleierte Metaphern ist dabei wiederum besonders zu achten. Film und Kritik müssen gleicherweise schöpferischer werden.
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Distanz des Nicht-Distanzierten Godard und VIVRE SA VIE

Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen Blume im Lande der Technik.       W. Benjamin

Das Neue an VIVRE SA VIE ist zugleich Altes. Auf der höheren Stufe technischer und künstlerischer Entwicklung werden erste Anfänge rezipiert. Das war schon an Godards erstem Spielfilm A BOUT DE SOUFFLE abzulesen. Dort und in UNE FEMME EST UNE FEMME erschien es als Ausdruck eines - jedoch unreflektierten - Protestes gegen die perfektionierte Glätte des gängigen Films. Hatte sich dieser reibungslos dem Prozess dumpfen Konsums angepasst, so begehrte die dilletantisch gebrochene Darstellungsart dieser Filme des jungen französischen Regisseurs dagegen auf. Indem der Protest sich jedoch nicht formulierte, zerfiel er in eine Addition von Gags, die selbst wieder ins Kunstgewerbliche abzugleiten drohten, am deutlichsten wohl in Une femme est une femme. Gerade dieser Film, Musterbeispiel eines manieristischen Stils, zeigte die Sackgasse auf, in der rein ästhetischer Protest enden musste.

Erst mit Vivre sa vie gelang es Godard, Altes so umzufunktionieren, dass es einen neuen, sinnvollen Bedeutungszusammenhang erhielt. Es wird zum bewusst angewandten Darstellungsprinzip. Was früher der Not technischer Unvollkommenheit entsprach, wird heute zur Tugend technisch-künstlerischer Vollendung. Die Regel der Vergangenheit ist eine Ausnahme in der Gegenwart; eine Ausnahme, die eines ermöglicht: die durchgängige Distanz des Films von seinem Schein. Womit ein ähnlicher Vorgang gemeint ist wie jener, den Brecht auf dem Sektor des Dramatischen versuchte.

Dem Zuschauer von Vivre sa vie ist es verwehrt, sich mit dem Geschehen zu identifizieren. Godard spielt das technische Produkt Film gegen seinen Schein aus, Realität zu sein. Mittel sind nicht nur die eingeblendeten Texttafeln; Zitate, Verweise; auch nicht die Verwendung der Untertitel aus der Stummfilmperiode. Vielmehr ist hier das selektive Moment der Kamera von konstituierender Bedeutung. Darauf allein soll unser Augenmerk gelenkt werden.

Die erste Einstellung des Films ist der Position eines Menschen adäquat, der sich zufällig im selben Bistro befindet und dem Gespräch Nanas und ihres Mannes zuhört. Er steht etwa an dem Tisch hinter ihnen. Die Kamera verhält sich nicht anders als das Auge dieses Zuschauers. So ist der Gewohnheit von Schuss - Gegenschuss abgeschworen. Darin lag einmal eine der neuen Fähigkeiten des filmischen Mediums: Die Auflösung von Sprache in bildliche Dynamik. Verschiedene Einstellungswinkel, Gross- und Nahaufnahme entwickelten eine spezifisch filmische Sprache. Losgelöst von der empirischen Realität, bewegte sich die Kamera im Raum zwischen den Personen. Die Dynamik der filmischen Sprache war die produzierte des Apparats. Dieser schob sich zwischen die Realität, wie sie der Zuschauer erlebt und jene, die der Film darstellt. Wie im sprachlichen Kunstwerk einzig durch Sprache Realität vermittelt wird, so im Film primär durch das Bild (Kamera, Schnitt, Montage etc.). Im Gegensatz aber zur Literatur, die sich eines abstrakten, vergleichsweise - auf ihren Gegenstand bezogen - sekundären Mediums bedient, hat das Bild des Films eo ipso konkrete sinnliche Gegenwärtigkeit, ist im Bezug Realität schon an sich mitgegeben, während sie der Leser erst in sich evozieren muss. Das aber gerade macht das Paradoxe des Films aus: Realität wie sonst kein anderes Medium wiedergeben zu können und dennoch immer nur als Schein.

Die Differenz zwischen dem Schein Realität zu sein und dieser selbst wird um so geringer, je mehr der vermittelnde Apparat sich verschleiert. Die wachsende technische Vervollkommnung ermöglicht immer neuartigere Darstellungsweisen. Alles wird möglich, nur eines wird unmöglich: Realität darzustellen. Es gelänge heute nur dort, wo sich der Apparat als Medium einbekennte, der Schein als Schein erschiene. Ansätze - und mehr als das - finden sich in Vivre sa vie. Daher auch das häufige Unverständnis des Publikums angesichts des Films. Es schwingt da viel mit vom Unmut des Konsumenten, der nicht bekam, wofür er glaubte, bezahlt zu haben: Illusion.

Denn das, was einmal spezifische Erzählweise des Films war, womit er neue Aspekte der Wirklichkeit aufschloss, ist heute längst zum Mittel geworden, der Wirklichkeit auszuweichen. Am Ende der Entwicklung zur Traumfabrik gilt der Schein als Wesen und das Wesen als Schein. NACHTS IM GRÜNEN KAKADU wird als Realität konsumiert, Vivre sa vie für unrealistisch gehalten.

Wir hatten schon oben gesagt, dass die Kamera scheinbar die Position eines Zuschauers einnimmt; nicht nur eines Zuschauers, sondern des Zuschauers, der Vivre sa vie sieht. Weil sie sich scheinbar mit ihm identifiziert, distanziert sie ihn vom Geschehen. Mit seiner Position identisch, verweigert sie sich jedoch seinen illusionären ans "Kino" gerichteten Wünschen. So wird er des medialen Charakters der Kamera inne; und zugleich -, weil seine Wünsche übers Ziel des Dargestellten hinausschiessen, - erkennt er das Selektive ihrer Darstellungsart. Die fruchtbare Differenz zwischen Wunsch und verweigerter Erfüllung ermöglicht erhöhte Aufmerksamkeit für das reale Geschehen auf der Leinwand. Auch das legitime Bedürfnis nach Spannung wird befriedigt. Nicht wie im Action-Film, wo ihr der Zuschauer bedingungslos ausgeliefert ist, entsteht Spannung hier im intellektuellen Mitvollzug des Zuschauers: betrachtend, beobachtend, analysierend.

Sprache gewinnt zentrale Bedeutung, weil das Bild auf Dynamik verzichtet. So wird nicht nur das Bild interpretiert: weder psychologisch-symbolistisch (Bergmann), noch dialektisch-surrealistisch (Buñuel); auch ihre Negation durchs Bild, Sprachlosigkeit angesichts oppressiver Gegenwärtigkeit der verdinglichten Welt (Antonioni), fehlt. Sprache spricht für sich selbst. Sie ist ebenso eine Tätigkeit des Menschen wie jede andere auch. Insofern folgt Godard existentialistischen Anschauungsweisen, als die Menschen nur sind, was sie tun. Diese empirisch-realistische Behandlung des Dialogs entspricht einem Grundpostulat Godardscher Ästhetik: Wirklichkeit wird als Rohstoff begriffen, der unbearbeitet, rauh und roh erscheinen muss.

Die Perspektive des bisherigen Films löste Realität in das vom fiktiven Kameraerzähler interpretierte Geschehen auf. Der Zuschauer erhielt das subjektive Surrogat der von der erzählenden Kamera (Schnitt, Montage etc.) vermittelten Realität. Die Fixierung der Kamera auf einem Punkt (weitgehend starre Einstellung) bedingt Absenz von Gegenschnitten und Montage, d. h. von den gängigen Mitteln filmischer Interpretation. Diese Abwesenheit des direkt und versteckt eingreifenden Interpreten macht das Rohstoffartige, den scheinbar kruden Realismus von Vivre sa vie aus. (Bezeichnenderweise fallen jene Stellen aus dem Gesamten heraus, in denen auf die konventionellen Techniken zurückgegriffen wurde: das Bildstakkato während der Maschinengewehrsalven; oder die symbolische Anspielung auf Nanas Leben, wenn in der letzten Sequenz das Firmenschild L' Enfer et ses frères auftaucht). Im Rohstoffcharakter der erscheinenden Realität protestiert diese gegen die Verdinglichung durch den selektiven Apparat; aber, indem dieser sie vermittelt. So, wie auch das scheinbar Unbearbeitete Produkt ist, ist sie Ergebnis artistischen Kalküls.

Was Walter Benjamin als die eigentliche Errungenschaft des Films formulierte - nämlich "den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit _... gerade auf Grund ihrer intensiven Durchdringung mit der Apparatur zu gewähren" -, das kehrt Godard in Vivre sa vie um. Denn im Laufe der historischen Entwicklung ist der frühere Fortschritt in sein Gegenteil umgeschlagen. Viel weniger gelingt es ihm heute, Realität darzustellen als sie aufzuheben; das total vermittelte Bild der Realität erscheint als unvermittelte "reine" Abbildlichkeit, die für den Zuschauer "lebensnaher, - wahrer" wirkt als sein eigenes Erleben. Godards Ästhetik aber beruht darauf, Wirklichkeit nur durch den Apparat vermittelt erscheinen zu lassen. Indem der Apparat Wirklichkeit nicht derart durchdringt, dass er in ihr verschwindet, hält Godard am Scheincharakter des Films fest. Diesen ins Werk einbeziehend, setzt er ihn der Kritik aus; und somit auch das, was in ihm erscheint: Realität.       Wolfram Schütte
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Der Gangsterfilm (s.a. Heft 41 )

Der Gangstertum ist ein Film, dessen Handlung in der Welt des Gangsters, d. h. des organisierten oder geplanten Verbrechens, sich abspielt. Mindestens ein Hauptproblem muss der gesellschaftlichen Stellung oder Tätigkeit des Gangsters gewidmet sein, muss für einen Gangster typisch sein. Die Handlung muss realistisch in dem Sinne sein, dass sie sich mit einiger Wahrscheinlichkeit in der Wirklichkeit abspielen könnte.

Der Gangster-Film ist kein Polizeifilm. Denn hier ist allein die Arbeit der Polizei Gegenstand der Handlung.

Der Gangsterfilm ist kein Kriminalfilm. Denn der Gangsterfilm schildert die Durchführung des Verbrechens, der Kriminalfilm dagegen die Aufklärung des Verbrechens.

Der Gangsterfilm ist kein Spionagefilm, kein Film über die Jugendkriminalität und kein Prozessfilm.

I. Vorläufer

Der Gangsterfilm ist seinem Ursprung und Wesen nach eine amerikanische Filmgattung, die filmgeschichtlich erst relativ spät geschaffen wurde. Will man der einschlägigen Filmliteratur glauben, so ist der erste Gangsterfilm der Filmgeschichte der 1927 von Josef von Sternberg gedrehte Film UNDERWORLD. Es folgen: THE RACKET (1928, Lewis Milestone) und - in der beginnenden Tonfilmzeit - LITTLE CAESAR (1930, Mervyn Le Roy), THE BIG HOUSE (1930, George Hill), THE SECRET SIX (1931), SMART MONEY (1931, Alfred Green). QUICK MILLIONS (1931, Rowland Brown), THE PUBLIC ENEMY (1931, William A. Wellman), CITY STREETS (1931, Rouben Mamoulian), SCARFACE (1932, Howard Hawks), I AM A FUGITIVE FROM A CHAIN GANG (1932, Mervyn Le Roy).

Mit diesen Filmen war ein Filmzyklus geboren, der bis heute nur wenig von seiner Attraktivität verloren hat. Die historische Bedeutung dieser ersten Gangsterfilme für die amerikanische Filmentwicklung, vor allem bezüglich einer realistischen Gestaltungsweise, wird immer wieder betont. Der Gangsterfilm erfreute sich beim Publikum grosser Beliebtheit, und die Reaktion der öffentlichen Moralhüter liess nicht lange auf sich warten. Der Gangsterfilm wurde als unsittliches und gefährliches Produkt verdammt. Zwar wurden noch weiterhin Gangsterfilme gedreht, aber seine Bedeutung und seine künstlerische Qualität war in den folgenden zehn Jahren gering. Teilweise wurde er beim Publikum durch den Kriegsfilm verdrängt. Erst in der Mitte der vierziger Jahre gelingen bedeutsame Werke in diesem Genre. Um 1944 setzt eine grosse Welle von Filmen ein, die sich mit dem Verbrechen, dem Verbrecher und der Arbeit der Polizei befassen.

II. Amerikanische Gangsterfilme

Der Gangsterfilm ist die stete, makabre Demonstration von Amerika als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Um hier entgegenzuwirken, war es dem herkömmlichen Gangsterfilm zur Pflicht auferlegt worden, die Botschaft "Crime does'nt pay" zu verkünden. Stets musste am Ende des Films der Gangster scheitern, eine Regel, die auch heute noch strikt eingehalten wird. Dieses Schema verdeutlicht der Film DILLINGER von Nosseck aus dem Jahr 1945: in das Schlussbild wird der Slogan deutlich eingeblendet. Im Laufe der Zeit erwies sich dieses Prinzip als immer unzulänglicher, ja verlogener. Man zeigt neunzig Minuten lang den Gangster als den überlegenen Helden, der alle schwierigen Situationen souverän meistert, um ihn dann in den letzten fünf Minuten plötzlich und unmotiviert scheitern zu lassen. Die Botschaft erscheint aufgesetzt und unglaubwürdig, ganz abgesehen davon, dass sie der Realität nicht entspricht. Als Beispiel möge ein Durchschnittsgangsterfilm dienen: INSIDE THE MAFIA - (Die schwarze Hand der Mafia), 1959 von Edward L. Cahn gedreht. Es geht hier um eine Auseinandersetzung im Führungsgremium einer über ganz Amerika verbreiteten Verbrecherorganisation. Die Gangster erweisen sich dabei als intelligente, harte Burschen, die buchstäblich über Leichen gehen. Dann erscheint plötzlich wenige Minuten vor Ende des Films die Polizei, wirft einige Tränengasbomben ins Konferenzzimmer, und schon kommen die Gangster verstört und verängstigt wie kleine Kinder mit erhobenen Händchen brav und zerknirscht angekrochen.

Dort, wo historische Fakten ein solches Ende nicht zulassen, bedient man sich unredlicher Tricks. So vermochte die Polizei AL Capone, der mehrere hundert Morde auf dem Gewissen hatte, lediglich wegen Steuerhinterziehung zu belangen. Dieses beschämende Faktum versucht der Film AL CAPONE von Richard Wilson wie folgt zu kaschieren: 1. erhöhte er durch eine bewusst gesteigerte Dramatik das hier nebensächliche Delikt der Steuerhinterziehung zu einem Staatsverbrechen erster Klasse. Capone wird in ein Zuchthaus gesteckt, in das nur "besonders harte und gefährliche Burschen" eingeliefert werden. Die Tatsache, dass unzählige Morde unbestraft bleiben und die Polizei versagt hat, soll hiermit verdeckt werden. 2. Zum weiteren Ausgleich für den Zuschauer (und die Zensur) wird Capone auf eine ziemlich sadistische und fürchterliche Weise von den übrigen Zuchthäuslern verprügelt, wodurch diese "besonders harten und gefährlichen Burschen" als moralische Kronzeugen gegen Capone berufen werden! Laut Film soll Capone durch diese Schlägerei erkrankt und hierdurch später gestorben sein. In Wahrheit war sein Ende keineswegs typisch für einen Gangster: Capone erkrankte und starb an Syphilis. Es liegt auf der Hand, dass ein derartiges Filmende weder künstlerisch noch inhaltlich befriedigt. Die beiden, nach Kriegsende entwickelten Gangsterfilmarten, der Gangster-Thriller und der halbdokumentarische Gangsterfilm, wissen dieser Misere erfolgreich zu begegnen.

Der Gangster-Thriller erlebte um 1945 mit dem Aufkommen der sogenannten Schwarzen Serie' einen ungeahnten Aufschwung. Diese Gangsterfilme schufen eine Atmosphäre moralischer Zwielichtigkeit. Nicht länger mehr waren Gut und Böse zwei klar umrissene, getrennte Bezirke, sondern ständig lauerte das Böse, die Brutalität, der Sadismus hinter allen Handlungen und brach sich plötzlich Bahn. In dieser latent amoralischen Atmosphäre waren auch die Aktionen der Polizei gegen den Gangster entsprechend zwielichtig.

Der Gangster selbst zeigte sich als zwiespältige Persönlichkeit, dessen Hang nach einem bürgerlichen Leben ihn immer tiefer in den Konflikt mit den gesellschaftlichen Normen brachte. Wenn er schliesslich scheiterte, so war dies nicht einem Deus ex Machina zu danken, sondern war eine logische, dramaturgisch und psychologisch vorbereitete Folge seiner Tätigkeit, seines Wesens, seiner Triebe, seiner Wünsche, seiner Träume und nie die polizeilicher Ermittlungen.

Im Gegensatz hierzu stand der Gangsterfilm im dokumentarischen Stil. Ausgehend vom Kriminal- und Polizeifilm, wie etwa den ausgezeichneten Hathaway-Filmen THE HOUSE OF 92nd STREET (1945 - Das Haus in der 92. Strasse) und CALL NORTHSIDE 777 (1947 - Kennwort 777) zeigten diese Filme, zumeist nach Original-Polizeiberichten, in sachlicher und nüchterner Weise die polizeiliche Bekämpfung der Gangster. Der Gangster scheiterte dann auch an den sorgfältigen und gelungenen Arbeiten der Polizei. Naturgemäss nahm in diesen Filmen die Darstellung der Polizei einen breiten Raum ein, und nur dann lässt sich bei ihnen von einem Gangsterfilm reden, wenn sie, wie etwa Keighley's STREET WITH NO NAME, auch der Darstellung der Gangsterwelt entsprechende Beachtung schenken.

Im heutigen Gangsterfilm sind die Elemente des mehr psychologisierenden Gangster-Thrillers und des mehr soziologisierenden, dokumentarischen Gangsterfilms zumeist überlagert. Jeder Gangsterfilm von Rang muss einerseits eine psychologisch genaue und glaubhafte Motivierung für das Handeln seiner Protagonisten liefern und andererseits eine exakte und treffende Darstellung der Organisation der Gangster bzw. der Durchführung des Verbrechens geben. Bemerkenswert ist bei den besseren Gangsterfilmen der Trend zu einer sachlichen und weitgehend wertneutralen Darstellung des Gangsterwesens. Sie haben einmal die Glorifizierung des Gangsters und zum anderen seine uneingeschränkte und moralisierende Verdammung am Ende zugunsten einer ausgeglicheneren Darstellung aufgegeben, die stark emotionelle Darstellungsweise wurde durch eine kältere, intellektualisierte ersetzt. Gleichzeitig wird der Gangster verbürgerlicht. Er erscheint als ein solider Geschäftsmann, als jemand, der ruhig seinem Beruf nachgeht (ASPHALT JUNGLE), und selbst der Berufsmörder ist eine Person des Alltags ohne jedwege Dämonisierung geworden (MURDER BY CONTRACT). Und es werden, wenn auch nur vereinzelt, recht unpopuläre Ansichten über das Verhältnis Gangster - Gesellschaft geäussert (MURDER INC.).

III. Themen der amerikanischen Gangsterfilme

Weit mehr als der Western, entzieht sich der Gangsterfilm einer Katalogisierung Seine Welt ist weniger umschlossen und in sich abgerundet; die "reine" Form, beim Western die Norm, trifft man seltener an; die Zahl der Mischformen ist gross. Die "klassischen" Gangsterfilme gruppieren sich um zwei Themen:

1. Für das erste ist der Titel eines späten Gangsterfilms - THE RISE AND FALL OF LEGS DIAMOND (1960) von Budd Boetticher geradezu programmatisch. Aufstieg und Fall des Gangsters X, der Gang Y, ist ihr Thema und dramaturgisches Gerüst zugleich; die einzelnen Stationen: das Werden zum Gangster - der Lernprozess in den Slums einer Grossstadt oder im Gefängnis, erste Erfolge, Aufrücken in der Hierarchie der Unterwelt durch Beseitigung der Widersacher, Höhepunkt des Erfolges, entscheidender Fehler, verzweifeltes Wehren gegen den Abstieg, Tod auf einer dunklen Strasse oder einem elenden Hinterhof. Diesen Ablauf oder einen Ausschnitt aus ihm schildern auch heute noch viele Gangsterfilme; allerdings scheint das Schema zu abgespielt zu sein, als dass sich noch grosse Filme in ihm realisieren liessen. DILLINGER (1945) von Max Nosseck zeigte dieses Schema, ebenso PORTRAIT OF A MOBSTER (1961) von Joseph Pevney, sowie AL CAPONE (1958) von Richard Wilson und THE RISE AND FALL OF LEGS DIAMOND.

Die Helden fast aller dieser Filme sind historische Figuren aus der amerikanischen Gangsterwelt. Immer wieder tauchen die gleichen Namen auf: AL Capone, Legs Diamond, Dillinger, Dutch Schultz, Lepke Buchalter, Dion O'Bannion, Jon Adonis usw. oder die Murder Inc., die Mafia (mit ihren amerikanischen Ablegern), das grosse Syndikat von 1934. Die Lebenswege berühmter Gangster, z. B. AL Capones, sind viele Male verfilmt worden.

2. Der zweite "klassische" Themenkreis wurde mit THE BIG HOUSE festgelegt - das Zuchthaus bzw. die Zuchthausrevolte. Die Zustände im Zuchthaus, der sadistische Aufseher, die Härte der Unterwerfung, die Verschwörung einer Gruppe Gefangener, der Spitzel, die Revolte und ihre blutige Niederschlagung sind die immer wiederkehrenden Themen. THE BIG HOUSE wurde Leitbild für eine ganze Serie und ein monströses dazu: Der Aufstand wird hier durch Armeepanzer gebrochen, die durch die Zuchthausgänge fahren und in die Zellen feuern. Jules Dassin's BRUTE FORCE (1947) ist hervorragendes Beispiel dieses Genres.

Es entwickelte sich dann eine dritte Grundform des Gangsterfilms: die Einzelaktion. Hier sind nicht die grossen Figuren der Unterwelt, sondern einzelne, begrenzte Aktionen weniger Durchschnittsgangster - Einbrüche, Raubüberfälle, Morde -, die geschildert werden. Die Handlung folgt zwei Grundschemen:

a) jemand hat einen Plan entwickelt (z. B. in eine Bank einzubrechen), er sucht sich Mitarbeiter, Spezialisten, Geldgeber usw., das Vorhaben wird sorgfältig durchgesprochen und ausgeführt, die einzelnen Phasen der Durchführung werden gezeigt, der Plan gelingt, aber durch eine Kleinigkeit, einen Zufall o. dgl. wird ihnen im letzten Augenblick der Erfolg versagt bleiben; (PLUNDER ROAD von Hubert Cornfield, THE KILLING von Stanley Kubrick, ODDS AGAINST TOMORROW von Robert Wise).

b) ein Berufsmörder führt einen Mordauftrag durch; (BLAST OF SILENCE von Allen Baron, MURDER BY CONTRACT von Irving Lerner).

Diese drei Formen des Gangsterfilms sind als die Grundformen dieser Filmgattung anzusehen, die in vielen Filmen mit anderen Themen vermischt werden:

So ist der natürliche Gegner des Gangsters in erster Linie die Polizei, die daher im "reinen" Gangsterfilm eine - i. d. R. allerdings klägliche Rolle spielt. Oft hat sie nur eine dramaturgische Funktion, sehr oft benötigt man sie für die Schlussmoral des Films. Ihr Aktionsbereich im reinen Gangsterfilm ist sehr beschränkt, ein äusserster Punkt ist in John Huston's ASPHALT JUNGLE erreicht. Nimmt die Zeichnung der Polizei breiteren Raum ein, wird ein Teil der Filmhandlung gar vom Standpunkt der Polizei gesehen, verlagert sich das Gewicht zum Polizeifilm hin. Halten sich beide Teile die Waage, Welt des Gangsters und Welt der Polizei, wird also wenigstens teilweise das Leben des Gangsters, seine Organisation u. dgl. beschrieben, lässt sich noch von einem Gangsterfilm reden, wie bei STREET WITH NO NAME von William Keighley.
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Ein Privatmann kämpft gegen das Gangstertum, klärt einen Fall aus der Gangsterwelt auf usw. Dies kann ein Privatdedektiv, ein Versicherungsagent sein. Vermischung mit dem Kriminalfilm. Beispiel: THE KILLERS von Robert Siodmak.
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Ein Unterfall, der wegen seiner Häufigkeit eine besondere Kategorie bildet, ist, dass der Aufklärende ein Zeitungsmann ist. Meist soll hierbei die reinigende und heilsame Funktion der Presse in einer Demokratie demonstriert werden. Beispiel: DEADLINE USA von Richard Brooks.
*
Ähnlich liegt der Fall, wenn sich die gesamte Öffentlichkeit gegen ein sie beherrschendes Gangstertreiben auflehnt, wie in THE PHENIX CITY STORY von Phil Karlson
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Elemente des Gangsterfilms - etwa der Überfall auf eine Bank - werden Vorwand, ein anderes Thema zu behandeln; so liefert Richard Fleischer in VIOLENT SATURDAY das Portrait einer amerikanischen Kleinstadt. Ähnlich, wenn auch mit weitaus breiterem Raum für das Gangstergeschehen, berührt Robert Wise in ODDS AGAINST TOMORROW das Rassenproblem. Ein Unterfall mit eigener Bedeutung bildet das Thema aus William Wyler's DESPERATE HOURS: Zwang, Angst und Bewährung des einzelnen Bürgers unter der Herrschaft eines Gangsters. Auch hier können Gangsterfilmelemente einem fremden Thema dienen.
*
Oft wird in Filmen über Sport, insbesondere Boxsport, auf die enge Verquickung zwischen Sportgeschäft eingegangen. Thema ist die Versuchung des Sportlers - etwa durch abgesprochene Kämpfe schnell Geld zu erlangen - und seine Bewährung im entscheidenden Kampf. Beispiele: THE SET UP von Robert Wise und BODY AND SOUL und THE HUSTLER von Robert Rossen.

Aus dem Schema des Zuchthausfilms entwickelte sich ein weiteres Schema: der Ausbruch aus dem Zuchthaus. Ein oder mehrere Gangster entfliehen, um sich die Beute eines Mitgefangenen zu sichern oder Rache an denjenigen zu üben, die sie ins Zuchthaus brachten, so in THE KILLER IS LOOSE von Budd Boetticher, THE BIG HOUSE USA von Howard Koch, RAW DEAL von Anthony Mann.

(Abgewandelt trifft man das Schema auch so an: Ein unschuldig Verurteilter bricht aus, um sich zu rehabilitieren, so in DARK PASSAGE (1947) von Delmer Daves. Dies ist dann jedoch kein Gangsterfilmschema mehr.)

Die Berechtigung, diese Filme - wenigstens teilweise - unter den Gangsterfilmen aufzuführen, liegt, ausser dass sie sich mit der Figur des Gangsters befassen, auch darin, dass sie bis auf wenige Ausnahmen die Folgeerscheinungen des Auftauchens des Gangsters in der Gesellschaft, die Situation des unter seiner Herrschaft stehenden Bürgers, seine Reaktionen gegen den Gangster, sei es persönlich, sei es durch besondere Institutionen (Polizei, Presse) behandeln. Diese Begleit- und Folgeerscheinungen des Gangsterwesens gehören zwar zum Thema Gangster, als Gangsterfilme können diese Filme jedoch nur dann gelten, wenn das eigentliche Gangsterthema nicht durch andere Themen überlagert und weitgehend verdrängt wird.

IV. Mythos des Gangsters

Durch den Gangsterfilmzyklus wurde "der amerikanische Mythos" (Robert Warshow) um eine zweite Gestalt bereichert: neben den Westerner trat der Gangster. Aber der Mythos dieser beiden Figuren hat eine unterschiedliche Grundlage. Der Western ist seinem Wesen nach unrealistisch, er ist realistisch nur im Dekor; der Gangsterfilm hingegen ist, oder zumindest erhebt er den Anspruch, realistisch gestaltet. Das hat zur Folge, dass im Western eine grössere Stilisierung, eine Überhöhung der Figuren stattfindet. Diese gewollte Überhöhung war von der Filmgestaltung her der Grund, dass sich ein Mythos entwickeln konnte. Der Mythos des Gangsters findet in der Gestaltung des Gangsterfilms kaum eine Grundlage, mögen die "klassischen" Gangsterfilme und gelegentlich neuere Filme seine Gestalt auch zu überhöhen versuchen. Grundlage für den Mythos ist das Verhältnis zwischen dem Zuschauer und dem dargestellten Gangster. (Dieses Verhältnis spielt natürlich auch bei dem Mythos des Westerner eine Rolle.) Der Gangster des Films wird zum Sündenbock, dem man verbotene Aggressionstriebe auflädt, um sich dann an seiner Bestrafung zu delektieren. Der Figur des Gangster kommt somit für den modernen Menschen eine fast rituelle Bedeutung zu; er erleichtert ihn und gibt ihm gleichzeitig sein gutes Gewissen wieder.

Der Mythos des Westerner entstand in erster Linie durch seine Darstellung im Western, der des Gangsters in erster Linie aus dem Verhältnis zwischen Gangster im Film und Zuschauer. Da dieser Mythos durch den Film nur wenig, im modernen Gangsterfilm gar nicht unterstützt wird, war er von jeher der schwächere. Bisweilen mag er sich in einem bestimmten Schauspieler manifestieren, wie etwa in Humphrey Bogart.

Der Mythos, den der Westerner geniesst, hat seine innere Wahrhaftigkeit, der, den der Gangster genoss oder noch geniesst, nicht. Der Westerner ist ein Mann, der nur leben kann in der "Situation der Grenze" (Rene König), d. h, dort, wo sich Menschen befinden, die ausgeprägte Vorstellungen von Recht und Unrecht besitzen, die diese Vorstellungen aber noch nicht zu institutionalisieren vermochten. In diese latent bedrohte Lage greift der Westerner ein. Aber - und hierin liegt seine Tragik - mit jeder Aktion, die er startet, hilft er gleichzeitig eine gesellschaftliche Situation zu schaffen, die ihn seiner Funktionen beraubt und ihn überflüssig macht. So bricht er am Ende des klassischen Western folgerichtig dorthin auf, wo sich Recht und Gesetz noch nicht so gefestigt haben, dass sie seiner nicht mehr bedürften. (Zur Figur des Westerner in einer gewandelten Gesellschaft siehe: RIDE THE HIGH COUNTRY - Sacramento, Sam Packinpah und LONELY ARE THE BRAVES - Einsam sind die Tapferen, von David Miller.)

Kurz gesagt: der Westerner opfert sich der Gesellschaft - der Gangster opfert die Gesellschaft. Des Gangsters Devise lautet: "Nimm das Geld, wo du es kriegen kannst!", und er handelt entsprechend (und nicht nur er), ohne auf die Folgen seines Tuns zu achten, soweit diese nicht ihn selbst treffen. Diese Figur ist bar jeder Tragik. Man hat dennoch versucht, der Erscheinung des Gangsters eine höhere Philosophie zu unterschieben, indem man in ihm einen Opponenten gegen die Gesellschaft, ja, sogar einen Revoltanten oder Anarchisten sehen wollte. Dies mag

für Einzelfälle der Frühzeit des Gangsterfilms zutreffen, in aller Regel steht hinter dieser Meinung von Gangsters als Anarchist ein gründlicher Irrtum, dem bisweilen sogar noch heute gehuldigt wird, so etwa durch Wilfried Berghahn in FILMKRITIK 3/62. In Wahrheit ist der Gangster ein Geschäftsmann, der die Gesellschaft und ihre Grundsätze durchaus anerkennt. Er weicht lediglich in einer Norm vom gesellschaftskonformen Verhalten ab: er reguliert die Art der Güterverteilung in seinem Sinne. Wenn er jemanden tötet, dann zögernd, wohlüberlegt und nur aus einer Zwangslage heraus. Das war in jenen wilden Zwanziger- und ersten Dreissigerjahren anders, zur Zeit der Hochblüte des Gangsterwesens, in der sie ganze Städte und Landstriche beherrschten; doch heute ist der Gangster im Film solider geworden. Er hat sich den gesellschaftlichen Veränderungen angepasst.       Hans-Peter Kochenrath

[Übernahme aus FILMSTUDIO 40:]

Index amerikanischer Gangsterfilme, zusammengestellt und kommentiert von H. P. Kochenrath

Robert Aldrich
Engagierter, neuerer (seit 1953) Regisseur, mit einem heftigeren und bewegteren Filmstil. Seine mehr lyrischen Versuche misslangen. Sein bester Film ist
KISS ME DEADLY (1955 - Rattennest). Ralph Meeker, Marian Carr, Albert Dekker, Jack Elam. Kein eigentlicher Gangsterfilm, sondern Kriminalfilm mit Gangsterfilmelementen. Faszi- nierende filmische Gestaltung einer suspekten Story von Mickey Spillane.

Lewis Allen
Guter Handwerker. SUDDENLY gehört dank Si- natra zu seinen besseren Filmen.
CHICAGO DEADLINE (1949 - Todesfalle von Chikago). Alan Ladd, Donna Reed, Arthur Ken- nedy. Die übliche Geschichte des Kreuzzuges eines Reporters gegen die Unterwelt.
SUDDENLY (1954 - Der Attentäter). Frank Sina- tra, Sterling Hayden. Ein bezahlter Mörder hält eine Stadt in Atem, da er den Präsidenten der USA erschiessen will. Trotz des politischen Mor- des weitgehend ein Gangsterfilm. Grossartige Darstellung des Mörders durch Sinatra.
ILLEGAL (1955 - Schakale der Unterwelt). Edward G. Robinson, Nina Foch, Jayne Mansfield. Rechts- anwalt arbeitet für Gangster, befreit sich aber von ihnen.

Burt Balaban
Mässiger Regisseur. Sein bester Gangsterfilm: s. Rosenberg.

Allen Baron
BLAST OF S1LENCE (1962 - Explosion des Schwei- gens). Allen Baron, Molly McCarthy, Larry Tuk- ker. Berufskiller führt einen Auftrag, die Ermor- dung eines Gangsters, in New York aus. Philo- sophierender Aussenseiterfilm. Mit christlichen - das weihnachtliche New York - und faschistischen - Waisenkinder formieren sich zu Hakenkreuz- Symbolen. Die geistige und gesellschaftliche Si- tuation des Protagonisten wird als typisch für die des modernen Menschen angesehen. Stilistisch und geistig der Beatnik-Bewegung verpflichtet;

Budd Boetticher
Spezialist für Western im traditionellen Stil.
LEGS DIAMOND gehört zu seinen besten Filmen. THE KILLER IS LOOSE (1956 - Blutige Hände). Joseph Cotten, Rhonda Fleming. Ausgebrochener Zuchthäusler, Bankräuber, nimmt in seiner Hei- matstadt Rache an dem Detektiv, der ihn er- wischte.
THE RISE AND FALL OF LEGS DIAMOND (1960 - J. D. der Killer). Ray Danton, Karen Steel, Elaine Stewart. Die Geschichte des berüchtigten Gangsters Jack Diamond. Dank eines stark unter- kühlten und verfremdeten Stils gelingt es Boet- ticher, ein beklemmendes Porträt des Gangsters zu bringen, der mit dem gleichen Charme, mit dem er seine Mädchen zum Tanz auffordert, seine Widersacher umlegt.

Richard Brooks
Einer der bedeutendsten Regisseure Amerikas. DEADLINE USA (1952 - Die Maske 'runter). Humphrey Bogart, Kim Hunter, Ethel Barrymore. Zeitungsmann kämpft gegen politische Korruption und Gangsterwesen. Bedeutung der Presse steht im Vordergrund.

James Cagney
Berühmter Gangster- und "Bullen"darsteller ver- suchte sich selbst mit einigem Geschick als Gang- sterfilmregisseur mit
SHORT CUT TO HELL (1957 - Mit dem Satan auf du). Robert Ivers, Georgann Johnson, William Bishop. Berufsmörder wird von seinen Auftraggebern in die Hände der Poli- zei gespielt, kann aber vorher seine Verräter beseitigen. Nach Graham Greene.

Edward L. Cahn
Häuft einen unbedeutenden Film auf den anderen, darunter unzählige Gangsterfilme.

Roger Corman
Steigerte sich von primitiven Erstlingsfilmen zu Filmen mit beachtlichem Niveau, besonders Hor- rorfilme, wie HOUSE OF USHER (Die Verfluchten). Auch sein erster Gangsterfilm SWAMP WOMAN (1955 - Vier Frauen im Sumpf) ist noch unter- durchschnittlich.
I, MOBSTER (1959 - Gangster Nr. 1). Steve Coch- ran, Lila Milan. Gangster erzählt seine Ge- schichte - seinen Aufstieg in der Unterwelt. CRY BABY KILLER (1960). Keith Mitchell.
MACHINE GUN KELLY (1960 - Revolver-Kelly). Charles Bronson, Susan Cabot, Frank de Kowa. Lebensgeschichte dieses berüchtigten Gangsters der 2. Garnitur der 30er Jahre.

Hubert Cornfield
B-picture-Regisseur von grossem handwerklichen Geschick.
PLUNDER ROAD (1957 - Grossalarm bei FBI). Gene Raymond, Wayne Morris. Überfall auf einen Zehn-Millionen-Goldtransport des US- Schatzamtes. Minuziöse Schilderung des Überfalls und der Sicherung der Beute. Sehr sorgfältig ge- macht; sehr spannend.
LURE OF THE SWAMP (1957 - Sumpf des Un- heils). Marshall Thompson, Milliard Parker, Jack Elam. In den Sümpfen Floridas suchen drei Gang- ster und ein angeworbener Führer nach einer versteckten Beute von 300 000 Dollar. Eine aus- gezeichnete Fotografie beschwört die schwüle Atmosphäre der Sumpflandschaft.
THE THIRD VOICE (1959 - Ein Toter ruft an). Edmond O'Brien, Julie London, Laraine Day. Ein Mörder setzt sich an die Stelle seines Opfers, um Geld zu kassieren. Der Film ist ein weiterer Be- weis für Cornfields Talent.

John Cromwell
THE RACKET (1951 - Gangster). Robert Mitchum, Robert Ryan, Lizabeth Scott. Kampf und Sieg eines Polizisten gegen einen Gangster, der vor nichts zurückschreckt. Mitchum ist beängstigend in diesem erregenden Film.

Michael Curtiz
Regieveteran Hollywoods (seit 1919). Schuf nur wenig wirklich gute Filme. Die folgenden ge- hören nicht dazu:
THE BREAKING POINT (1950 - Menschenschmug- gel). John Garfield, Phyllis Taxter. Ehemaliger Offizier gerät als Bootsverleiher in dunkle Ge- schäfte. Nach Hemingway.
WE 'RE NO ANGELS (1955 - Wir sind keine Engel). Humphrey Bogart, Aldo Ray, Peter Usti- now. Drei ausgebrochene Zuchthäusler werden halb unfreiwillig zu guten Menschen. Eine der wenigen amerikanischen Gangsterfilmkomödien. [Parallelverfilmung zu THE DESPERATE HOURS.]

Jules Dassin
Einer der grossen Cineasten und brillantesten Tech- niker. Verliess 1950 die USA aus politischen Gründen.
BRUTE FORCE (1947 - Zelle R 17). Burt Lancaster, Yvonne de Carlo, Howard Duff, Ann Blyth. Aus- bruchsversuch aus einem Zuchthaus und seine blu- tige Niederschlagung. Sadistischer Zuchthausauf- seher prügelt Gefangene bei Wagner-Musik zu Tode. Zuchthausfilm im traditionellen Schema. Grossartige und mitreissende Regie. Äusserst bru- tal. Scenario von Brooks.
NIGHT AND THE CITY (1950 - Die Ratte von Soho). In London gedreht. Richard Widmark, Gene Tierney, Googoi Withers. Gangsterwesen in Soho. Faszinierende Beschwörung des nächt- lichen Londons. Widmark ist ausgezeichnet. Das- sins Meisterwerk.

Walter Doninger
U. a. mehrere unbedeutende Gangsterfilme.

Gordon Douglas
Spezialist für Western und kleine Komödien.
KISS TOMORROW GOOD-BYE (1951 - Den Mor- gen wirst du nicht erleben). James Cagney, Bar- bara Olayton, Helena Carter. Ausgebrochener Gangster rast von Untat zu Untat.

Allan Dwan
Bedeutender Filmveteran Hollywoods (seit 1915 Regie). Von seinen späteren Filmen erreichen allerdings nur sehr wenige überdurchschnittliches Format. Von seinen Gangsterfilmen sei erwähnt. SUGHTLY SCARLET (1956 - Strasse des Ver- brechens). John Payne, Arlene Dahl, Rhonda Fle- ming. Gangster versucht seinen Chef auszuspielen und sich selbst in der Gang emporzuarbeiten.

Cyril-R. Enfield
UNDERWORLD STORY (1951 - Der Gangsterboss von Rocket City). Dan Duryea, Herbert Marschall, Gale Storni. Reporter kommt Unterweltsverbindun- gen eines Zeitungsverlegers auf die Spur.

Richard Fleischer
Renommierter Regisseur, dessen Filme oft an mangelhafter Konstruktion und Flachheit der Handlung leiden.
TRAPPED (1949 - Die Menschenfalle). Barbara Payton, Lloyd ssridges, John Hoyt. Ober ein um- gestimmtes Gangmitglied, das einen Verbindungs- mann aus dem Gefängnis befreit hat, versucht die Polizei eine Falschmünzerwerkstatt auszu- heben. Vorzüglich im dokumentarischen Stil.
THE NARROW MARGIN (1952 - Um Haares- breite). Charles McGraw, Marie Windsor. Kron- zeugin gegen eine Gang wird von Polizei Chika- gos nach Los Angeles mit dem Zug transportiert. Gangster versuchen, sie während der Fahrt, zu beseitigen. Sehr spannend.
VIOLENT SATURDAY (1955 - Sensation am Sonn- abend). Victor Mature, Richard Egan, Stephan McNally. Kein Gangsterfilm, sondern Portrait einer amerikanischen Kleinstadt. Gangsterfilm- elemente: Banküberfall - diese Szenen sind die besseren.

Robert Florey
Renommierter Regisseur der 30er und frühen 40er Jahre, französischer Herkunft. Co-Regie zu Chap- lins MONSIEUR VERDOUX. Seine späteren Filme sind weniger gut, so auch
THE CROOKED WAY (1949 - Herr der Unterwelt). John Payne, Sonny Tufts, Ellen Drew. Gangster hat durch Kriegs- verletzung sein Gedächtnis verloren und findet sich in Unterwelt nicht mehr zurecht.

Lewis R. Foster
Spezialist für mittlere exotische Abenteuerfilme. Mehrere Gangsterfilme.
CRASHOUT (1955 - Strasse des Terrors). William Bendix, Arthur Kennedy, Luther Adler. Sechs Zuchthäusler brechen aus. üblicher Gangsterfilm.

Seymour Friedman
Mehrere Gangsterfilme, z. T. mit George Raft. Nicht über Durchschnitt.

Samuel Fuller
Bedeutender Cineast. Fast alle Filme Fullers sind nach einem Grundschema gebaut, in dem der kommunistische Agentenring, die Gangsterbande, die nazistische Jugendbande im Deutschland nach der Niederlage (in VERBOTEN, 1958), die japa- nische Untergrundorganisation (in HOUSE OF BAMBOO - Tokio Story, 1955) oder die Banditen- bande (in FORTY GUNS - Vierzig Gewehre, 1956, - einem der schönsten Western) austausch- bare Elemente sind; insofern zeigen auch viele andere Filme Fullers gangsterfilmverwandte Se- quenzen. Fuller besitzt einen harten, mitreissenden und diabolischen Stil. Seine atemberaubenden, jagenden Kamerabewegungen sind einmalig. Lei- der sind viele seiner Filme uneinheitlich.
PICK UP ON SOUTH STREET (1953 - Polizei greift ein). Richard Widmark, Jean Peters, Thelma Ritter. Widmark gerät in den Verdacht, einer Verbrecherorganisation anzugehören, von dem er sich befreit. Aus der wissenschaftlichen Geheim- formel, hinter der kommunistische Agenten her sind, macht die zudem noch gekürzte deutsche und französische Fassung eine Rauschgiftangele- genheit. Sehr rasant, brutal und mitreissend.
UNDERWORLD USA (1960 - Alles auf eine Karte). Cliff Robertson, Dolores Dorn, Beatrice Kay. Ein Junge sieht, wie sein Vater ermordet wird, und rächt Jahre später diesen Mord an den drei in- zwischen zu Grossgangstern avancierten Mördern. Gute Einblicke in moderne Organisationsformen der Gangster, die ihre Geschäfte hinter der Fas- sade seriöser Industrieunternehmen verbergen. Teilweise etwas konventionell, jedoch mit Se- quenzen von grosser Kraft. Sehr hart und brutal.

Byron Haskin
I WALK ALONE (1945 - 14 Jahre Sing-Sing). Burt Lancasfer, Kirk Douglas, Lizabeth Scott. Zwei Gangster streiten sich hart und blutig um Beute- anteil.

Henry Hathaway
Bedeutender Regisseur. Schuf seine besten Filme in den 40er Jahren.
KISS OF DEATH (1947 - Der Todeskuss). Victor Mature, Richard Widmark, Coleen Gray. Gang- ster sagt sich von seiner Gang los und muss ge- gen seine alten Genossen kämpfen, die ihn ver- nichten wollen. Psychologisch sehr gut durchge- arbeitet. Hervorragende Regie. Sehr spannend. Mature und vor allem Widmark sind ausge- zeichnet.
THE SEVEN THIEVES (1959 - Sieben Diebe). Ed- ward G. Robinson, Rod Steiger, Joan Collins. Gangster berauben unauffällig die Spielbank von Monte Carlo.

Stuart Heisler
I DIED A THOUSAND TIMES (1955 - Gegen alle Gewalten). Jack Palance, Shelley Winters, Lori Nelson. Die Geschichte eines Raubüberfalls und der Läuterung des Gangsters.

Ken Hughes
Mässiger englischer Regisseur. Drehte in Amerika. JOE MACBETH (1955 - Legion der Hölle). Paul Douglas, Ruth Roman, Bonar Colleano. Der nur teilweise gelungene Versuch, Shakespeares Drama ins Gangstermilieu zu verlegen.

John Huston
Grosser Cineast, der verstand, in seinen Filmen eine eigene Welt aufzubauen. Beherrscht voll- endet die Mittel filmischer Gestaltung. Seine Filme sind von einer schlichten, unbeugsamen Moral getragen. Der Hustonsche Held ist ein Mann, der seinem Ideal, seiner moralischen Überzeugung nach lebt, selbst dort, wo es sinn- los erscheint. Einen Rhetoriker der Niederlage hat man Huston geheissen. Seine Helden sind stark dem Mythischen verpflichtet. Der Hustonsche Film par excellence ist THE ROOTS OF HEAVEN (1959 - Die Wurzeln des Himmels). Bereits sein erster Film THE MALTESE FALCON (1941 - Die Spur des Falken), ein Kriminalfilm nach Dashiell Hammett, ist ein Meisterwerk.
KEY LARGO (1948 - Hafen des Lasters). Hum- phrey Bogart, Edward G. Robinson, Lauren Ba- call. Vier Gangster haben sich in ein Hotel ein- genistet und bedrohen die Bewohner. Atmosphä- risch dichte Bildfolge. Mit hoher Sensibilität ge- macht.
ASPHALT JUNGLE (1950 - Asphalt Dschungel). Sterling Hayden, Sam Joffe, Louis Calhern, Ma- rilyn Monroe. Eine Gang wird zusammengestellt, um in ein Juweliergeschäft einzubrechen. Ein Meisterwerk, letztlich verständlich nur aus der Kenntnis der Vorstellungswelt Hustons und der Situation seiner Helden. Hayden und Joffe blei- ben unvergesslich. (Die deutsche Synchronisation vergröbert.)
BEAT THE DEVIL (1954 - Schach dem Teufel). Humphrey Bogart, Jennifer Jones, Gina Lollo- brigida. Die beste Gangsterkomödie, in Tanger spielend.

Joseph (Joe) Kane
Unzählige Filme, viele Gangsterfilme. Keiner überdurchschnittlich.

Phil Karlson
Kein Regisseur mit grossen Ambitionen, aber ein hervorragender Techniker. Perfekte Aktionsfilme.
KANSAS CITY CONFIDENTIAL (1952 - Der vierte Mann). John Payne, Coleen Gray, Preston Foster. Exgangster wird in einen Raubüberfall verwickelt, den ein zwielichtiger Polizist geplant hat.
99 RIVER STREET (1953 - Taxi 539 antwortet nicht). John Payne, Evelyn Keyes. Schauspielerin hilft Taxifahrer, sich aus einem Raubüberfall heraus- zuhalten, in den seine Frau verwickelt ist, deren Tod er rächen will. Gute Regie und Kamera.
THE PHENIX CITY STORY (1955 - Eine Stadt geht durch die Hölle). John Mclntire, Richard Kiley, Kathryn Grant. Eine Stadt kämpft gegen das sie beherrschende Gangsterwesen.
HELL'S ISLAND (1955 - Dem Teufel auf der Spur). John Payne, Mary Murphy, Francis L. Sullivan. Die Suche nach gestohlenen Edelsteinen.
TIGER SPOT (1955 - In die Enge getrieben). Gin- ger Rogers, Edward G. Robinson. Ein junges Mädchen wird als Spitzel von der Polizei mit einem Gangsterchef bekannt gemacht. Gute Regie.
THE BORTHERS RICO (1957-Hyänen der Strasse). Richard Conte, Dianne Foster, Kathryn Grant. Zwei Mitglieder brechen aus einer Gangsterbande aus und werden erledigt.
THE SCARFACE MOB (1960 - Die Schande von Chikago). Robert Stack, Keenan Wynn, Barbara Nichols. Eine Sonderkommission der Polizei wird gegen AI Capone eingesetzt.

Bill Kam
Einige Gangsferfilme. Bedeutungslos und schlecht.

Elia Kazan
Dieser bedeutende Regisseur drehte mit BOO- MERANG (1947) und PANIC IN THE STREET (1950 - Unter Geheimbefehl) zwei Kriminalfilme mit einigen Gangsterfilmelementen. Beide ausgezeich- net im halbdokumentarischen Stil.

William Keighley
Renommierter, aber wenig bekannter, älterer Regisseur.
STREET WITH NO NAME (1948 - Strasse ohne Namen). Mark Stevens, Richard Widmark, Bar- bara Lawrence. Polizeiagent wird in eine Gang eingeschleust. Ein sehr gelungener Gangsterfilm im halbdokumentarischen Stil.

Howard W. Koch
Vielbeschäftigt als Drehbuchautor und Produzent; hat sich als Regisseur auf harte und brutale Gangsferfilme mittlerer Qualität spezialisiert.
SHIELD FOR MURDER (1954 - Freibrief für Mord), Regie zusammen mit Edmond O'Brien. Edmond O'Brien, Maria English, John Agar. Zwielichtiger Polizist wird zum Gangster und ermordet einen Buchmacher.
BIG HOUSE USA (1955 - Blutgeld). Broderick Crawford, Ralph Meeker. Vier Zuchthäusler zwin- gen fünften zur Plucht, um an dessen Beute zu gelangen.
THE LAST MILE (1959 - Eine Meile Angst). Mickey Rooney, Frank Conroy. In einem Zuchthaus revol- tieren die Todeskandidaten aus Verzweiflung über ihre Lage.

Stanley Kubrick
Jüngerer, bedeutender Regisseur mit einem be- fremdlich kühlen, intellektuellen Stil. Teilweise leidenschaftliches Engagement.
KILLER'S KISS (1955 - Der Tiger von New York). Jamie Smith, Irene Kane. Kein Gangsterfilm, son- dern privates Melodram. Ein Boxer befreit ein Mädchen aus der Gewalt eines Tanzlokalbesit- zers. Aussenseiterfilm. Wichtig hier der Schluss- kampf zwischen den beiden Männern, der einer der verbissensten und brutalsten der Filmge- schichte ist und sich innerhalb des Films ver- selbständigt. Kubrick will heute von diesem Film nichts mehr wissen; aber es gibt eben Filme, die man vor ihren eigenen Schöpfern verteidigen muss.
THE KILLING (1956 - Die Rechnung ging nicht auf). Sterling Hayden, Coleen Gray, Vince Ed- wards, Elisha Cook. Exakt geplanter Oberfall auf eine Rennplafzkasse. Der Überfall wird in meh- reren Planphasen geschildert (nicht subjektive Perspektive!), so dass einige Ereignisse mehrmals gezeigt werden. Ein kalter, hochinfellektueller Film.

Fritz Lang
Einer der Grossen des Films, dessen Stil, dessen Themen, Atmosphäre, Härte und unübertreffbare Perfektion einen grossen Einfluss auch auf die amerikanischen Gangsterfilme ausgestrahlt ha- ben, obwohl er selbst keinen reinen Gangsterfilm gedreht hat. Allenfalls THE BIG HEAT (1953 - Heisses Eisen) weist, obwohl ein Polizeifilm, einige Gangsterfilmelemente auf.

Joseph H. Lewis
UNDERCOVER MAN (1949 - Alarm in der Unter- welt). Glenn Ford, Nina Foch, James Whitemore. Polizei geht gegen Gangster - Steuerhinterzie- hung - vor. Sehr brutal.
GUN CRAZY (1951 - Gefährliche Leidenschaft). John Dali, Peggy Cummings. Revolversüchtiger wird zum Gangster und führt Banküberfälle durch. Gute Regie.
THE BIG COMBO (1955 - Geheimring 99). Cor- nel Wilde, Richard Conte, Brian Donlevy. Ein von der Polizei gejagter Bandenchef erledigt seine Komplizen. Brutal.

Irving Lerner
Zahlreiche Tätigkeiten beim Film, u. a. mehrere Dokumentarfilme. Sein dritter Spielfilm ist MURDER BY CONTRACT (1958 - Der Tod kommt auf leisen Sohlen). Vince Edwards, Philipp Pine, Herschel Bernadi. Ein junger Akademiker nimmt eine Stelle als Berufsmörder an, erledigt meh- rere Aufträge und scheitert bei seinem letzten an innerem Widerstand. ("Der Film badet in Zy- nismus." KFD). Hochintelligente Kamera und Schnitt, unterkühlende Regie. Ein Meisterwerk des Gangsterfilms. Einer der stilistisch modern- sten Filme Amerikas.

Joseph Losey
M (1949 - M). David Wayne, Luther Adler. Be- merkenswertes Remake von Fritz Langs genia- lem Werk. Ein krankhafter Kindesmörder wird von Polizei und Gangstern gesucht und von letz- teren hingerichtet.

Anthony Mann
Hervorragender Cineast; Spezialist des modernen Western. In der zweiten Hälfte der 40er Jahre einige gute Gangsterfilme.
DESPERATE (1947). Steve Brodie, Nan Leslie, Audrey Long. Lastwagenfahrer wird zum Flücht- ling, als sein Fahrzeug zu einem Raubüberfall benutzt wird.
T-MAN (1947 - Geheimagent T). Dennis O'Keefe, Alfred Ryder. Beamte des US-Schatzamtes bre- chen eine Gang von Falschmünzern. Hervorragend im dokumentarischen Stil. Gute Fotografie und grosse Regie.
RAW DEAL (1948 - Flucht ohne Ausweg). Dennis O'Keefe, Claire Trevor, Marsha Hunt, John Ire- land. Zuchthäusler bricht aus, um sich an seinen ehemaligen Gangmitgliedern zu rächen, die ihn ins Zuchthaus brachten. Vortreffliche Regie.
BORDER INCIDENT (1949). Ricardo Montalban, George Murphy, Howard de Silva. Gangster beuten Mexikaner aus, die an der Grenze zu den USA Schmuggel treiben. Gute Regie.

Rudolph Maté
Kameramann zu Dreyers "Jeanne d' Arc". Her- vorragender Rekonstrukteur historischer Milieus. Drehte auch einige durchschnittliche Gangster- filme, so
SECOND CHANCE (1953 - Mörder ohne Maske). Robert Mitchum, Linda Damell, Jack Palance. Ehemaliger Boxer vernichtet mit Hilfe seiner Freundin in Mexiko einen berüchtigten Gangster. Kein reiner Gangsterfilm.

Lewis Milestone
Drehte bereits 1928 seinen ersten Gangsterfilm:
THE RACKET. Spezialist für bemerkenswerte Kriegsfilme. Weniger gut ist OCEAN'S ELEVEN (1960 - Frankie und seine Spiessgesellen). Frank Sinatra, Dean Martin, Sammy Davis jr. Raub- überfall auf den Tresor einer Spielbank in Las Vegas. Ober weite Strecken trotz der Stars am Rande fad und langweilig. Einer der wenigen Gangsterfilme in Farbe. Guter Schlussgag.

Joseph H. Newman
711 OCEAN DRIVE (1950 - Der Henker sass am Tisch). Edmond O'Brien, Joanne Dru, Donald Porter. Die Geschichte eines erfinderischen Er- pressers und seiner Tricks zur Überlistung des Spiel-Syndikats.
THE HUMAN JUNGLE (1955 - Immer jagte er Blondinen). Gary Merrill, Jan Sterling, Paula Raymond. Neuer Polizeichef räumt unter den Gangstern Chikagos auf.

Max Nosseck
Unbedeutender Regisseur. Heute beim deutschen Fernsehen.
DILLINGER (1945 - Jagd auf Dillinger). Lawrence Tierney, Anne Jeffreys, Edmund Löwe. Die Ge- schichte des berüchtigten Gangsters Dillinger. Zeigt gut das herkömmliche Schema des Gang- sterfilms mit seiner "Crime does'nt pay"-Moral.

Edmond O'Brien
Erfolgreicher Gangsferdarsteller; versuchte sich mit weniger Erfolg als Regisseur (s. auch Ho- ward Koch).
MAN TRAP (1961 - Menschenfalle).

Robert Parrish
Bemerkenswerter Cineast. Einige Gangsterfilme, so
THE MOB (1951 - Die Spur führt zum Hafen). Broderick Crawford, Ernest Borgnine. Polizist verbindet sich mit Gangstern, um deren Chef zu überführen.

Joseph Pevney
Mässiger Regisseur.
S1X BRIDGES TO CROSS (1955 - Seine letzte Chance). Tony Curtis, Julia Adams, George Na- der. Ein Polizist fühlt sich für einen Verbrecher verantwortlich und möchte ihm helfen,
PORTRAIT OF A MOBSTER (1961 - Tote können nicht mehr singen). Vic Morrow, Leslie Parrish, Peter Breck. Die Geschichte des jugendlichen Gangsters Dutch Schultz in den 30er Jahren.

Abraham Polonski
Renommierter Drehbuchautor. Drehte den Aussen- seiterfilm FORCE OF EVIL (1948). John Garfield, Beatrice Peason, Thomas Gomez. Ein gekaufter Politiker bricht aus der Gang aus und bereitet ihr Schwierigkeiten. Gute Regie.

Nicholas Ray
Bedeutender Cineast. Sein erster Film ist
THEY LIVE BY NIGHT (1948). Farley Granger, Cathy O'Donnel. Der Lebensweg eines jugend- lichen Gangsters. Hat noch nicht die Qualität seiner späteren Filme.
PARTY GIRL (1958 - Mädchen aus der Unterwelt). Robert Taylor, Cyd Charisse, Lee J. Cobb. Im Dienst der Unterwelt stehender Rechtsanwalt bricht aus. Der Film verwendet viel Zeit auf die Liebesbeziehung des Anwalts zu einer Show- Tänzerin. Psychologisch weitgehend unwahrschein- lich. Trotz gelungener Szenen kein Meisterwerk, wie viele behaupten.

Mark Robson
THE HÄRDER THEY FALL (1955 - Schmutziger Lorbeer). Humphrey Bogart, Jan Sterling, Rod Steiger. Gutgläubiger Boxer wird über gekaufte Gegner bis zum Weltmeisterschaftskampf getrie- ben. Gangsterfilmelemente in einem Boxer-Film. Sorgfältiges Drehbuch.

Stuart Rosenberg
Bemerkenswerter Regisseur, der perfekt die Gangsterfilmtechnik beherrscht.
MURDER INC. (1960 - Unterwelt). Regie zusam- men mit Burt Balaban. Stuart Whitman, Maj Britt, Peter Falk. Die Geschichte der berüchtigten Gang, die in den 20er und 30er Jahren die Mordauf- träge des Syndikats ausführte, und ihrer Zer- schlagung. Interessant für das Verhältnis Gang- ster - Staatsanwalt. Gute Regie.

Robert Rossen
Regisseur höchst unterschiedlicher Filme. Zu seinen besten zählen:
BODY AND SOUL (1947 - Jagd nach Millionen). John Garfield, Lilli Palmer. Ein Junge aus den Slums kämpft sich den Weg zu einem Spitzen- boxer empor, spielt aber bei dem entscheidenden Kampf das abgekartete Spiel der Gangster nicht mit. Boxer-Film mit Gangsterfilmelementen. Ein berühmter Film, der heute allerdings etwas ver- gilbt erscheint.
THE HUSTLER (1961 - Haie der Grossstadt). Paul Newman, Piper Laurie, Jackie Gleason, George C. Scott. Ein raffinierter Billardspieler gerät in die Abhängigkeit eines Gangsters, der ihn für sich spielen lassen möchte. Rossens bester Film, ausgezeichnete Kamera. Newman und vor allem Gleason sind beeindruckend.

Russel Rouse
Interessanter Cineast. Seinen zweiten Film, THE THIEF, drehte er ohne Dialoge.
NEW YORK CONFIDENTIAL (1955 - Pantherkatze). Broderick Crawford, Anne Bancroft, Richard Conte. Ein grosses Verbrechersyndikat leitet nach straffen Gesetzen die Unterwelt. Sehr brutal.
HOUSE OF NUMBERS (1957 - Der Henker nimmt Mass). Jack Palance, Barbara Lang. Gefängnis- ausbruch mit Hilfe des in Freiheit lebenden Bru- ders. Teilweise bedrückende Atmosphäre.

Roy Rowland
KILLER MC COY (1947 - Killer McCoy). Mickey Rooney, Brian Donlevy, Ann Blyth. Durchschnitt- licher Boxer-Gangster-Film.
ROUGE CAP (1954 - Heisses Pflaster). Robert Taylor, Janet Leigh, George Raft. Korrupter Polizist rächt die Ermordung seines Bruders. Bru- tal und spannend. Gute Regie.

Fred F. Sears
Unzählige Gangsterfilme. Nicht über Durchschnitt.

Lewis Seiler
Älterer Gangsterfilmregisseur: CRIME SCHOOL (1938), KING OF THE UNDERWORLD (1939), YOU CAN'T GET AWAY WITH MURDER (1939), IT ALL CAME TRUE (1940), THE BIG SHOT (1942), alle mit Humphrey Bogart. Seine späteren Gang- sterfilme sind kaum durchschnittlich, so
THE SYSTEM (1953 - Zentrale Chikago). Frank Lovejoy, Joan Weldon, Bob Arther. Ein junger Mann entdeckt, dass sein Vater Mitglied einer Gangsterorganisation ist.
THE TRUE STORY OF LYNN STEWART (1958 - Der blonde Köder). Betsy Palmer, Jack Lord, Barry Atwater. Eine bürgerliche Ehefrau wird als Lockspitzel in einen Rauschgiftring eingeschleust.

Maxwell Shane
Einige Gangsterfilme, so
THE NAKED STREET (1955 - Nackte Strasse). Farley Granger, Anthony Quinn. Gangsterchef befreit einen Mörder aus dem Gefängnis, damit dieser seine Tochter heiraten kann. Gut gespiel- ter Gangsterfilm mit privaten Problemen.

Vincent Sherman
THE DAMNED DON'T CRY (1950 - Im Solde Satans). Joan Crawford, David Brian, Steve Cochran. Eine Frau verlässt ihren Mann, um in der Unterwelt als Geliebte diverser Gangster emporzusteigen. Ungewöhnlich brutal.

Don Siegel
Sehr guter Cineast, dessen Gangsterfilme alle hervorragend gestaltet sind.
RIOT IN CELL BLOCK 11 (1954 - Terror in Block 11). Neville Brand, Emile Meyer, Frank Fayler. Die Geschichte einer Revolte in einem Zuchthaus, die nur scheinbar siegreich endet. Aus- gezeichnete Regie.
BABY FACE NELSON (1957 - So enden sie alle). Mickey Rooney, Carolyn Jones, Cedric Jones, Cedric Hardwicke. Mickey Rooney hervorragend als der Gangster "Baby Face" Nelson in einer aktionsgeladenen Story von Banküberfällen, un- barmherzigen Morden und Gefängnisausbrüchen. Rasant.
THE LINE UP (1958 - Der Henker ist unterwegs). Eli Wallach, Robert Keith, Warner Anderson. Die Geschichte eines Berufskillers, der bei der Suche nach einem abhandengekommenen Rauschgift- päckchen sein Handwerk ausübt.

Robert Siodmak
Drehte in seiner Amerikazeit auch einige nicht sonderlich gute Gangsterfilme.
THE KILLERS (1957 - Die Killer). Burt Lancaster, Ava Gardner, Edmond O'Brien. Den furiosen ersten zehn Minuten folgt ein durchschnittlicher Film über einen Boxer, der zum Gangster wurde, aber wieder ausstieg. Nach Hemingway.
CRY OF THE CITY (1948 - Schreie der Grossstadt), Victor Mature, Richard Conte. Die rauhe und brutale Geschichte eines Killers, der von einem ihm in der Jugend bekannten Polizisten gejagt wird.
CRISS CROSS (1948 - Gewagtes Alibi). Burt Lan- caster, Yvonne de Carlo, Dan Duryea. Planung und Durchführung eines Raubüberfalls.

R.-G. Springsteen
Mehrere schlechte Gangsterfilme. Verfilmt mit OPERATION EICHMANN (1960) den Lebensweg Eichmanns in übelster Gangsterfilmmanier. Eich- mann nach Springsteen: "I love two things: war and women."
Mark Stevens
Gangster- und Polizistendarsteller. Drehte selbst einige gute und einfallsreiche Gangsterfilme in typischer B-picture-Art.
CRY VENGEANCE (1954 - Narbengesicht). Mark Stevens, Martha Hyer. Ehemaliger Polizist jagt Verbrecher, der seine Frau und sein Kind tötete. Gute Regie.
TIMETABLE (1956 - Auf den Schienen zur Hölle). Mark Stevens, Felicia Farr, King Calder. Raffi- nierter Geldraub im Packwagen des Arizona- Schnellzugs. Routiniert und geschickt.

Robert Stevens
Mehrere unbedeutende Gangsterfilme.

Andrew L. Stone
Typischer B-picture-Man. Stellt die meisten Filme im Familienbetrieb mit seiner Frau Virginia her. Hervorragender Techniker und erfindungsreicher Cineast. Seine Filme sind sehr routiniert und äusserst hart. Es gibt so etwas wie einen "Andrew L.-Stone-touch".
HIGHWAY 301 (1950 - Der Panther). Steve Coch- ran, Virginia Gray. Die Geschichte einer Gang, die Banküberfälle durchführt und einen Mord ver- sucht. Eiskalt.
THE STEEL TRAP (1952 - Die Stahlfalle). Joseph Cotten, Teresa Wright. Ein Bankangestellter stiehlt 500.000 Dollar am Freitag und versucht sie am folgenden Montag wieder zurückzulegen. Sehr spannend und aufregend.
THE NIGHT HOLDS TERROR (1955 - Die Nacht ist voller Schrecken). Jack Kelly, Hildy Parks. Drei Gangster brechen in eine Familie ein und terrori- sieren sie.
CRY TERROR (1958 - In brutalen Händen). James Mason, Rod Steiger, Inger Stevens. Zur Erpres- sung einer Fluggesellschaft werden Bomben in ein Flugzeug geschmuggelt. Die Geldübergabe soll mit Hilfe einer unter Druck gesetzten Familie erfolgen.
DECKS RAN RED / TERROR AT SEA (1958 - Mör- der an Bord). James Mason, Dorothy Dandridge, Broderick Crawford. Der Versuch zweier Matrosen, die Mannschaft ihres Schiffes zu ermorden, um die Versicherung zu betrügen. Eiskalt. Sehr sichere und perfekte Regie.

Jacques Tourneur
Spezialist erfindungsreicher Western. OUT OF THE PAST (1947 - Goldenes Gift). Robert Mitchum, Jane Greer, Kirk Douglas, Rhonda Fleming. Ehemaliger Gangster mit jetzt bürger- licher Existenz wird von seinen früheren Freun- den wieder ins Gangstergeschäft gepresst, ver- wickelt sich in einen Mord und verfällt einer Gangsterbraut. Sehr temporeich und von quälend düsterer Atmosphäre.

Frank Tuttle
Älterer Gangsterfilmregisseur. Machte mit THIS GUN FOR HIRE (1942) Alan Ladd durch die Darstellung des Berufskillers zum Star.
HELL ON FRISCO BAY (1955 - Blutige Strasse). Alan Ladd, Edward G. Robinson, Joanne Dru. Ehemaliger Polizist sucht und findet Rache in der Unterwelt.

Raoul Walsh
Bedeutender Regieveteran Hollywoods (seit 1915). Sein enormes Schaffenstempo lässt allerdings nur wenige seiner neueren Filme wirklich gelingen.
SALTY O'ROURKE (1945 - Gauner und Gangster). Alan Ladd, Gail Russell, Stanley Clements. Gang- ster besticht Jockey, damit dieser für ihn in abgesprochenen Rennen reitet.
WHITE HEAT (1949 - Sprung in den Tod). James Cagney, Virginia Mayo, Edmond O'ssrien. Eine erregende, realistische Studie über einen Killer. Grossartige, mitreissende Regie.

Paul Wendkos
Bemerkenswerter Cineast, dessen Western und Gangsterfilme fast alle gut sind.
THE BURGLER (1957 - Ein Toter lügt nicht). Dan Duryea, Jayne Mansfield. Zwielichtiger Polizist nimmt als Privatmann einem Einbrecher die Beute ab und erschiesst ihn später. Gute Fotografie und Regie.
THE CASE AGAINST BROOKLYN (1958 - Asphalt- geier). Darren McGavin, Maggie Jayes, Warren Stevens. Ein Polizist entlarvt ein Syndikat von Buchmachern. Ein brillanter Film. Gute Regie.

Alfred Werker
Bemerkenswerter Cineast.
DEVILS CANYON (1953 - Hölle der Gefangenen). Virginia Mayo, Dale Robertson. Ex-Marshal wird zu einem Gefängnis gesandt, wo er in eine Revolte gegen ihn verwickelt wird. Interessante Kombinationen von Western und Zuchthausfilm.

Billy Wilder
Ein zwischen billigem Klamauk, sentimentalen Liebesgeschichten und kalter Bitternis schwanken- der, renommierter Regisseur
SOME LIKE IT HOT (1959 - Manche mögen 's heiss). Marilyn Monroe, Tony Curtis, Jack Lemmon. Gangsterfilmparodie. Zwei Musiker flüchten sich vor den verfolgenden Gangstern in eine Damenkapelle. Stilistisch un- einheitlich. Hau-Ruck-Regie. Dennoch amüsant.

Richard Wilson
Cineast von hohen Graden. Seine Filme beweisen realistischen Scharfsinn, psychologische Exaktheit und grossen Erfindungsreichtum (z. B. sein Western MAN WITH A GUN - Der Einzelgänger).
AL CAPONE (1959 - AI Capone). Rod Steiger, Fay Spain, Mervyn Vye. Die Geschichte des berüchtigten Gangsters. Psychologisierend, die soziale Komponente vernachlässigend. Gute Regie.
PAY OR DIE (1960 - Zahl oder stirb). Ernest Borgnine, Zorah Lampert, Alan Austin. Polizei im Kampf gegen die Mafia in New York um 1906. Atmosphärisch dichte Rekonstruktion eines Italie- nerviertels zu Beginn des Jahrhunderts. Gute Regie.

Bretaigne Windust
Unbekannter Regisseur.
THE ENFORCER (1951 - Der Tiger). Humphrey Bogart, Zero Mostel. Halbdokumentarischer Film über die Aushebung einer Mordgang durch einen Staatsanwalt.

Robert Wise
Ausgezeichneter Regisseur. Wenn es ihm auch nicht gelang, einen eigenständigen Stil zu schaf- fen, so beweist doch die Mehrheit seiner Filme sein grosses Können.
BORN TO KILL (1947). Claire Trevor, Walter Sle- zak, Lawrence Tierney. Harter Killer heiratet ein Mädchen ihres Geldes wegen und wechselt dann zur Schwester. Unangenehmes Melodram.
THE SET UP (1949). Robert Ryan, Audrey Totter. Boxer widersteht den Angeboten der Gangster, einen Kampf zu manipulieren, und kämpft nur, um sportlich zu gewinnen. Grossartig gestalteter Boxer-Film mit Gangsterfilmelementen.
THE CAPTIVE CITY (1952). John Forsythe, Joan Camden. Ein furchtloser Zeitungsherausgeber und seine Frau werden bedroht, als sie ein Verbrecher- syndikat aufdecken wollen.
SOMEBODY UP THERE LIKES ME (1956 - Die Hölle ist in mir). Paul Newman, Pier Angeli, Eve- rett Sloane. Ein junger Gangster wechselt den Beruf und wird ein guter Boxer, beides Beschäf- tigungen, die er benötigt, um seinen Hass gegen die Gesellschaft abreagieren zu können. Gute Regie.
ODDS AGAINST TOMORROW (1959 - Wenig Chancen für morgen). Robert Ryan, Ed Begley, Harry Belafonte, Shelley Winters. Planung, Vor- bereifung und Durchführung eines Überfalls auf eine Bank in der Nähe New Yorks. Das Gang- sterfilmthema wird teilweise durch das des Ras- senproblems überlagert. Sehr sensible Fotografie und Musik. Ein schöner und stimmungsvoll weh- mütiger Film mit grossartiger Regie.

William Wyler
Renommierter Regisseur. Selbst seine besten Filme können jedoch nicht sein eigentliches Ta- lent verbergen, Hollywoods Tränendrücker fürs gehobene Publikum zu sein. Besitzt einen eigen- ständigen, breit auswalzenden und zähflüssigen Stil.
THE DESPERATE HOURS (1955 - An einem Tag wie jeder andere). Humphrey Bogart, Fredric Morch. Gangster fallen in eine bürgerliche Fa- milie ein und terrorisieren sie. Bewährung des Durchschnittsbürgers. Bogart, wie stets, gut; March, wie stets, der Handlungsreisende Millers. [Parallel dazu: WE ARE NO ANGELS]
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Claude Chabrol: Die Wahrheit ist nicht Realismus Ein Gespräch

[Nachtrag aus Heft 40:] Unser Interview mit Claude Chabrol, das wir in FILMSTUDIO 39 veröffentlichten, wurde Anfang dieses Jahres in Paris auf Tonband aufgenommen. Die Fragen, die bewusst auf den angesprochenen Themenkreisen beschränkt blieben, stellte Antonio Pedro Vasconcelos.

Frage: Welche Bedeutung messen Sie heute Ihrer Arbeit als Kritiker der "Cahiers du Cinéma" bei?

Chabrol: Nun, das war nur Spass. Ich war unter Freunden und habe das wirklich nicht ernst genommen.

Frage: Und was war nun der Beitrag der "Cahiers" zur Neuen Welle?

Chabrol: Ich halte diesen Beitrag für wichtig. Aber ich möchte dazu sagen, dass mein Schaffen dadurch nicht berührt wird, und ich habe das auch niemals gewollt. Bei Truffaut oder bei Rivette ist das anders. Ich stehe mehr auf der Seite von Godard.

Frage: Jedenfalls hat doch die Neue Welle begonnen, sich mit den Kritikern der "Cahiers" zu identifizieren?

Chabrol: Anfänglich wollte die Neue Welle nichts Bestimmtes. Es gab 5 oder 6 Leute, die ihren ersten Film mit Erfolg gemacht hatten. Eine Zeitlang hat das auch anderen jungen Leuten die Möglichkeit gegeben, ihren ersten Film zu drehen. Dann kamen die Leute, die nichts waren, unbeschriebene Blätter. Und so ging das weiter. Heute starten jedes Jahr zehn neue Regisseure in Frankreich. Das ist gut so, denn unter diesen zehn sind 2 oder 3 interessante Leute; der Rest taugt nichts. Hier hört die Neue Welle auf, sich mit der Geschichte der "Cahiers" zu identifizieren. Damals waren wir unter uns, waren Kumpels, während sich die anderen nicht kannten. Das ist ein besonderer Grund.

Frage: Wir glauben, dass die theoretische Erfahrung als Kritiker im Umgang mit den Problemen des Films für den zukünftigen Regisseur sehr wichtig ist, und dass Sie alle dadurch geprägt wurden.

Chabrol: Sie ist auf keinen Fall schlecht. Sicher ist sie besser als den Assistenten zu spielen. Regieassistenz ist zwar eine hochinteressante, sehr schwierige Arbeit, zum Film jedoch, besser: zur Inszenierung eines Films, kann sie kaum beitragen. Wenn es eine Regieschule gäbe, müsste sie aus einem komödiantischen und einem kameratechnischen Zweig bestehen. Das sind die beiden wichtigsten Dinge. In der Tat ist der Kameramann, der Aufnahmeleiter, dem Regisseur viel näher als der Regieassistent.

Frage: Sie haben gerade von der Bedeutung des Kameramannes gesprochen. Welchen Wert messen Sie selbst der Einstellung zu? Es scheint uns nämlich, dass im modernen Film die Einheit der Szene, der Handlung vielen Regisseuren mehr bedeutet, als die Einstellung. Die bewusste Einstellung wird etwas vernachlässigt.

Chabrol: Die Einstellung allein kann noch gar nichts bedeuten. Andrerseits aber ist sie alles, selbst wenn man ihrer Ästhetik nur zweitrangige Bedeutung zukommen lässt.

Aber die Genauigkeit eines Kameramannes, die Geschwindigkeit eines Panoramaschwenks oder einer Fahrt sind sehr wichtig und es ist der Kameramann, der das genau sieht.

Frage: In Ihren ersten 4 Filmen haben Sie mit Henri Decae zusammengearbeitet. Für LES GODELUREAUX haben Sie dann Rabier genommen, den Kameraassistenten von Decae. Hatten Sie hierfür einen besonderen Grund?

Chabrol: Als ich nach LES BONNES FEMMES mit LES GODELUREAUX begann, war Decae gerade nicht frei, weil er gerade für René Clément QUELLE JOIE DE VIVRE aufnahm. Da mir Rabier sehr gut gefiel, habe ich ihn gebeten, die Aufnahmen zu übernehmen. Er hat sie sehr gut gemacht.

Frage: Die Aufnahmen in LES GODELUREAUX sind sehr viel neutraler als in Ihren vorhergehenden Filmen, wo es plastische Versuche im expressionistischen Sinne gab.

Chabrol: In LES GODELUREAUX wollte ich einzig und allein Aufnahmen, die das Auge nicht störten. Das war das Einzige, was ich von Rabier verlangte. Danach haben wir angefangen, andere Dinge zu machen, Aufnahmen, die gequälter, leidender waren.

Frage: Noch einmal zur Neuen Welle: es scheint uns eine besondere Betrachtensweise zu sein, die die Neue Welle von den älteren französischen Regisseuren unterscheidet. Sie ist kritischer, ausgeklügelter, vielleicht Manierismus.

Chabrol: Es ist so, dass Francois Truffaut die Probleme vollkommen anders als ich behandelt. Wir sind uns über keines der Probleme, die sich stellen, einig. Anders mit Jean-Luc Godard, wo es Berührungspunkte gibt. Jedesmal wenn Truffaut von Aufrichtigkeit spricht, werde ich kopfscheu. Ich hasse das Wort. Jedesmal wenn er sagt, dass man einen Film mit Aufrichtigkeit macht, sage ich ihm, dass das nicht wahr ist. Aufrichtig zu sein, um einen Film zu machen, ist ein Element für ihn, das alles ausdrückt.

Frage: Vielleicht arbeitet er mehr mit dem Gefühl, während Sie versuchen objektiv zu sein.

Chabrol: Er versucht nicht, objektiv zu sein, er versucht, seine Personen zu lieben. Mit Personen, die er nicht liebt, kann er keine Filme machen. Mir ist das egal.

Frage: Sie sagten, dass Sie Godard viel näher stehen, der von VIVRE SA VIE sagt, es sei der Film eines Mädchens "das seinen Körper verkauft, aber seine Seele behält" (Ophüls). Sie hätten eher ein Mädchen gezeigt, das seinen Körper verkauft.

Chabrol: Ich glaube nicht an die Seele. Es ist also für mich äusserst schwierig zu sagen, dass man seine Seele behält, während man seinen Körper verkauft. Ich glaube nicht an die Seele. Ich bin nur verpflichtet, das zu zeigen, woran ich glaube. Wenn ein Mädchen seinen Körper verkauft, versuche ich zu erfahren, warum sie das tut, etwa weil sie Hunger hat, warum sie Hunger hat usw. Wenn sie ihre Seele behält: mein Gott, umso besser für sie. Ich halte das nicht für wichtig. Wichtiger ist, dass sie gezwungen ist, ihren Körper zu verkaufen; eher als ihre Seele zu bewahren. Also kümmert man sich nicht darum. Ein Mädchen, das sagt: ich bewahre meine Seele, sagt nichts Bedeutendes.

Frage: Sie haben einmal gesagt, dass LES BONNES FEMMES der Film sei, den Sie vollkommen lieben. Aber es ist A DOUBLE TOUR, wo sich der Regie die meisten Probleme stellen.

Chabrol: Nein, das ist in LES BONNES FEMMES.

Frage: In A DOUBLE TOUR gibt es viele Dinge, die stark in Hitchcocks VERTIGO erinnern, es gibt Szenen mit Jocelyn im Wald, die den Waldszenen Hitchcocks sehr ähneln. Ist das eine kleine Hommage oder nur zufällig?

Chabrol: Ich habe VERTIGO gesehen, aber ich habe A DOUBLE TOUR keineswegs im Sinne Hitchcocks gedreht. Dieser Film war nur im Sinne Berlioz'.

Frage: Der Wald, die Landschaft sind sehr wichtig in Ihren Filmen?

Chabrol: Ich liebe das Ländliche und den Wald. Ich ziehe die "Campagne" der Stadt vor. Die Stadt ist immer traurig, die "Campagne" eher heiter-fröhlich.

Frage: In A DOUBLE TOUR sind die Personen eher Schöpfungen Ihres Szenaristen Paul Gegauff als Ihre eigenen.

Chabrol: Gegauff liebte den literarischen Vorwurf nicht besonders. Mir gefiel er sehr. Ich las ihn während meiner Militärzeit. Das Buch gab mir eine der seltenen Gelegenheiten, einen Film gleichzeitig in Farben und im Flashback zu machen. Im Allgemeinen wollen die Produzenten entweder einen Farbfilm, oder einen Film im Flashback, niemals aber beides zusammen. Anfangs gefiel Gegauff das Sujet keineswegs, daher liess ich ihn es bearbeiten, wie er es wollte. Leda, die Puppe und diese Sachen, um die ich mich nicht kümmere, liegen ihm sehr am Herzen. Ich versuche nur, sie darzustellen.

Frage: Welche Bedeutung hat die Laterne, die am Ende dieses Filmes angeht?

Chabrol: Das ist Theater. Nach der Vorstellung geht das Licht an. Es beginnt mit dem Aufziehen des Vorhangs, das Fenster, das sich am Anfang des Films öffnet und endet mit dem Licht. Die Komödie ist zu Ende, die Schauspieler sind abgegangen. Im Endeffekt war es nur ein Amüsement.

Frage: Unter den Regisseuren der Gruppe "Cahiers" kann man zwei geistige Richtungen feststellen, eine ausgesprochen französische Richtung wie Truffaut, während Sie selbst oder Rivette eher der deutschen Kultur, den deutschen Autoren verbunden sind.

Chabrol: Rivettes Film PARIS NOUS APPARTIENT ist im Szenario und in der Regieführung sehr Fritz Lang verbunden.

Frage: Bei Ihnen findet man die andere Seite nicht in der Regie, sondern in der Art und Weise, die Welt zu sehen. In A DOUBLE TOUR gibt es viele Dinge, die an LADY VON SHANGHAI erinnern: ein gewisser Schwindel in der Kameraführung ergreift auch die Personen - wenn Bernadette Lafon etwa den Tod Ledas verkündet.

Chabrol: Diese Szene mag ich sehr gern. Das ist die Atombombe, das ist das Einstürzen, das Auseinanderbrechen einer Welt. Das Problem war, einen einfachen Satz zu zerteilen, ihn explodieren zu lassen, während er ausgesprochen wird. Daher sind die Aufnahmen sehr kurz. Ich liess Bernadette die Worte nicht langsamer sprechen, sie sagt sie in normaler Geschwindigkeit etwas ausser Atem: Leda est morte. Während der Dauer dieses Satzes habe ich versucht, so viele Aufnahmen wie möglich zu machen.

Frage: In ihren Filmen gibt es stets Personen, die etwas Deutsches haben. Brialy ist fast immer dieser Typ. Er hat eine gewisse Lässigkeit, eine gewisse Verachtung.

Chabrol: Ich finde nicht, dass die Deutschen lässig sind. Ich halte sie für sehr steif, von einer sehr gekünstelten Lässigkeit. Jean-Claude ist der Typ, der auf deutsch macht. Davon gibt es in Frankreich sehr viele.

Frage: Brialy ist so in LES COUSINS und in LES GODELUREAUX.

Chabrol: LES GODELUREAUX ist ein Film über die Homosexualität. In seiner Art ist er ein Dokumentarfilm. Es gibt da Dinge, die Jean-Claude mir erzählt hat, die ich überhaupt nicht kannte: Ohrringe in einem Ohr, Schmuck usw. Das ist grauenhaft. Das ist zum Kotzen. Im Film haben wir uns darüber mokiert.

Frage: Sie sprechen häufig über Mechanismus und Entfremdung in Bezug auf LES BONNES FEMMES. Das Wort Entfremdung entstammt dem Vokabular des Marxismus. Geben Sie ihm die gleiche Bedeutung?

Chabrol: Ja, in diesem Fall ist es eine Entfremdung, die in der Unterdrückung eines Individuums durch eine Idee besteht, um es zu verpflichten, den vorhergesetzten Normen entsprechend zu denken. Diese Normen dienen den Leuten, die die anderen unterdrücken.

Frage: Der Film ist ein soziales Dokument über die Entfremdung der UNBEFRIEDIGTEN, bis Mario David im Schwimmbad dazukommt. Die Einführung einer "verrückten" Person verändert den Ton des Films ein wenig.

Chabrol: Er ist nicht "verrückt": er verkörpert die Träume, die endlich Wirklichkeit werden. Wenn er sie statt erwürgt nur vergewaltigt hätte und er liesse sie so gehen, wäre das fast dasselbe.

Frage: Zunächst ist diese Aufnahme ausgesprochen zweideutig gemacht.

Chabrol: Natürlich, es ist die Vergewaltigung ihres Traums. Sie fällt leider in die Wirklichkeit zurück.

Frage: Sie erscheint uns übrigens sehr abstrakt.

Chabrol: Sie ist die Zusammenfassung der anderen.

Frage: Sie hatte ein wenig das Zentrum Cabirias.

Chabrol: Ja, aber der Unterschied ist, dass der Typ Cabiria nicht erwürgt. Er bestiehlt sie, und das ist gar nichts. Er hätte sie entweder vergewaltigen oder töten müssen. Ich ziehe vor, sie töten zu lassen. Das ist sauberer, präziser.

Frage: Ihre ersten Filme haben einen sehr festen Aufbau, der der Montage nicht viel Platz lässt. A DOUBLE TOUR ist schon etwas freier, die Montage hat ein wenig mehr Bedeutung, aber LES BONNES FEMMES war Ihr erster Film, der auf der Montage wirklich basiert.

Chabrol: Das stimmt in etwa. Ich bin zum Anhänger der Standaufnahme geworden, liebe aber die Bewegung der Kamera ebenso _... Ich mag keine Neueinstellungen der Kamera, wie ich das früher getan habe.

Frage: Erwarten Sie von der Standaufnahme etwas Besonderes?

Chabrol: Ich glaube an das was ich sehe. Wenn ich mich an einem Ort befinde, bleibe ich die nötige Zeit da, um alle Möglichkeiten zu sehen. Ich hatte Angst davor, aber nun liebe ich es, die Aufnahmen wieder aufzunehmen. Ich drehe eine Szene aus drei Blickwinkeln und ich montiere sie gern auf diesen drei Achsen.

Frage: Wie steht es mit dem Realismus in Ihren Filmen? Obwohl Sie immer die Realität suchen, sind Ihre Filme nicht sehr realistisch. Es gibt bei Ihnen karikaturistische, theatralische und deklamatorische Züge. Sie sagen, Sie suchen die Wahrheit, und dennoch entfernen Sie sich vom Realismus.

Chabrol: Aber die Wahrheit ist nicht Realismus. Der Realismus ist Mittel, ist eine Art und Weise, die Wahrheit auszudrücken. Dreyer war kein Realist und er drückte auch die Wahrheit aus. Lang, der keinesfalls Realist ist, drückt ebenso die Wahrheit aus. Ich kenne keinen wahreren Film als den TIGER VON ESCHNAPUR. Das ist von einer umwerfenden Wahrheit. Ich selbst versuche objektiv gegenüber der Wahrheit und nicht gegenüber der Realität zu sein. Die Realität: das sind die Erscheinungen. Man darf ihnen nicht trauen. Die reale Welt ist eine Welt der Formen, die man sehen 'kann, und die Wahrheit verbirgt sich dahinter. Bisweilen sind die Formen falsch, manchmal sind sie auch wahr. Ihre Wahrheit ist innerlich, der jeweiligen Form entsprechend. Und Regie führen heisst nichts anderes, als hinter seinen Objekten, seinen Erscheinungen die Wahrheit zu finden, die eigene, nicht die der anderen.

Frage: Das Verhalten vieler Gestalten in Ihren Filmen kann man nur aus der Psychoanalyse verstehn. Diese scheint in Ihrem Werk eine grosse Rolle zu spielen.

Chabrol: Ich liebe die Psychoanalyse, vor der Psychologie aber schrecke ich zurück. Um also zu verhindern, meine Personen nur schematisch zu psychologisieren, muss ich an die Stelle des psychologischen Charakters Neurosen und Traumata setzen. Mich interessiert nicht der Neuropath an sich. Aber wenn man sagt, dass jemand einen Ödipuskomplex hat, macht das alles einfacher. Wenn man einen Normalmenschen mit einem Ödipuskomplex ausstatten will, versieht man ihn mit drei oder vier Symptomen, die man in jedem Lehrbuch der Psychoanalyse findet, um das zu beweisen. Das ist praktisch, denn es macht weilläufigere und kompliziertere Beziehungen zwischen einer Mutter und einem Kind, die niemanden interessieren, überflüssig.

Frage: Wenn Sie aus der Neuen Welle den repräsentativsten Film für den französischen Film aussuchen sollten, welchen würden Sie nennen?

Chabrol: "LES 400 COUPS"

Frage: Und für die FILMKUNST?

Chabrol: Entweder "A BOUT DE SOUFFLE" oder "UNE FEMME EST UNE FEMME".
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Brief aus Helsinki

Zum ersten Mal seit ungefähr 20 Jahren kann man nun von einer Wende im finnischen Filmschaffen sprechen. Die Ursachen liegen auf der Hand: etwa vom Jahre 1950 an datiert die Periode einer ernsthaften, finnischen Filmkritik; ein paar Jahre später nahmen die Filmclubs ihre Tätigkeit auf und schliesslich, man schrieb das Jahr 1957, wurde ein Filmarchiv eingerichtet, das der finnische Staat seit zwei Jahren nun auch finanziell unterstützt, - allerdings in nur geringem Umfang. Und endlich verlieh der Staat - erstmalig 1961 - auch Filmpreise. Der beste abendfüllende Film erhält eine Prämie von etwa 190 000 Mark.

Aber erst im Jahre 1962 entstanden zwei Filme, die auch ausserhalb der Landesgrenzen ein gewisses Interesse erwecken werden: Yö VAI PÄIVÄ (Tag oder Nacht) von Risto Jarva und Jaakko Pakkasvirte sowie YKSITYISALUE (Privatgebiet) von Maunu Kurkvaara.

Der eine der Regisseure, nämlich Risto Jarva, drehte viele Kurzfilme. Sein TYÖTÄ YLIOPPILASTEATTERISSA (Die Studentenbühne arbeitet) erhielt den staatlichen Kurzfilmpreis. Risto Jarva kommt von einer kleinen Gruppe Architektur- und Ingenieur-Studenten, die seit der Mitte der 50er Jahre nicht nur Kurzfilme herstellen, sondern auch aufmerksam das Werk ihrer Meinung nach wichtiger Regisseure wie Eisenstein, Hitchcock und - Frank Tashlin untersuchen. Jaacko Pakkasvirta dagegen machte sich einen Namen als Theaterregisseur und ehemaliger Intendant der Studentenbühne. Seine hohen schauspielerischen Fähigkeiten stellte er in RAKAS (Liebste) von Kurkvaara unter Beweis.

Zu Yö VAI PÄIVÄ schrieben beide Regisseure auch das Drehbuch. Dieser Film erzählt die Ferienreise einer ausländischen Touristengruppe: sie lernen Finnland kennen, finden Kontakt zu den finnischen Menschen. Meistens wird englisch gesprochen. Die Autoren scheinen die Regie unter sich aufgeteilt zu haben: während Pakkasvirta sich mehr den Personen zuwandte, scheint die exakte Berücksichtigung der kleinen typischen Details die Hand Jarvas zu verraten. Unter den wenigen finnischen Farbfilmen ist dieser Film der erste, der bewusst versucht, das natürliche Farbsystem zu leugnen. Darüberhinaus ist es aber auch der erste Versuch, so etwas wie eine finnische Filmmythologie zu formulieren. Die Regisseure wollen, wie sie einmal erklärten, ,die Möglichkeiten des finnischen Films auf verschiedenen Gebieten untersuchen'. Bewusst integrierten die Regisseure auch die landläufigen Motive und Themen: das parodistische Element kommt nicht zu kurz.

Trotz des genauen Gestaltungsplans gelang es den Autoren, den Eindruck der Improvisation zu erwecken. Mit seinen unbefangenen Einstellungen erinnert Yö VAI PÄIVÄ an die besten Filme der NOUVELLE VAGUE. Meiner Meinung nach könnte es Jarva und Pakkasvirta gelingen, das Ansehen des finnischen Films wieder zu heben. Jedenfalls überragt Yö VAI PÄIVÄ den hier so geschätzten ,Kunstfilm' TUNTEMATON SOTILAS (Der unbekannte Soldat) und dürfte weit besser als all die finnischen Filme sein, die auf den Filmfestspielen bisher zu sehen waren.

Maunu Kurkvaara ist in Deutschland schon bekannt; sein Film RAKAS wurde bereits in Lübeck gezeigt. YKSITYISALUE (Privatgebiet) freilich ist gleichmässiger. Dieser Film ist Kurkvaaras sechster und wohl auch bester; der zweite übrigens in einer Trilogie, deren dritter, ein Farbfilm, MEREN JUHLAT (Die Feste des Meeres) bald fertiggestellt werden soll. Vom tappenden Hochmut seiner Frühproduktionen ist Kurkvaara nun zu einem Stil à la Antonioni gekommen. Die Zentralgestalt in YKSITYISALUE ist der Architekt Koski, der schon zu Anfang des Films stirbt - durch Selbstmord. Man beginnt nun, sein Schicksal zu untersuchen, den Weg zu seinem Ende zu rekonstruieren. Wesentlich dabei ist die Erkenntnis der eigenen Grenzen, die Einsicht, dass der Mensch nicht einmal sich selbst kennen kann.

YKSITYISALUE ist ein angenehmes und bewusstes Werk; Kurkvaara Regisseur, Produzent, Drehbuchautor, Kameramann und Cutter in einem. Unter den heutigen finnischen Regisseuren dürfte er einer von den wenigen sein, die auf dem internationalen Markt am ehesten Beachtung finden könnten.       Peter von Bagh       (Übersetzung: L. J. Eerikäinen)
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Martin-Hilfen

Ende Februar trafen sich in Paris Filmvertreter aus Italien und der Bundesrepublik, um filmpolitische Fragen, die im Zusammenhang des Rom-Vertrages der EWG stehen, zu diskutieren. Ursprünglich war römischer Boden für diese Besprechungen vorgesehen, aber die deutsche Delegation fand - auf höhere Weisung! - das Klima dort zu "antideutsch" und sagte die Reise kurzfristig ab. Nur auf "neutralem" Ort liessen sich die Deutschen vorerst auf Sondierungsgespräche ein. Die sechs Abgesandten der Filmwirtschaft (Dr. Wolf Schwarz, Dr. Grüter, Luggi Waldleitner, Horst von Hartlieb, Edmund Luft und Dr. v. Halem) hatten sich vorsorglich drei Politiker mitgenommen (die Bundestagsabgeordneten Dr. Martin-CDU, Schwabe-SPD und Dr. Emden-FDP). Zum "Führer" wurde der Vorsitzende des kulturpolitischen Ausschusses im Bundestag, Dr. Berthold Martin, erkoren, der sich seit gut einem Jahr mit Vehemenz in die Filmpolitik gestürzt hat.

Warum tat er das? Ist er ein so grosser Kenner der Materie? Sucht er in schönem Politiker-Ehrgeiz ein noch unbeackertes Betätigungsfeld? Oder verbindet sich dies letztere Anliegen mit kleinen suggestiven Anregungen von "interessierter Seite"? Fest steht nur, dass man die erste Frage bis vor einem Jahr getrost hätte verneinen können. Fest steht auch, Hass die Lobbyisten der Filmwirtschaft noch jedem neuen Vorsitzenden des kulturpolitischen Bundestagsausschusses in den Ohren lagen. Dr. Martin entging diesem Schicksal um so weniger, als er in diesen Fragen ganz "frisch" und "unbefangen" war und als die deutsche Filmwirtschaft inzwischen die tiefsten wirtschaftlichen und künstlerischen Niederungen erreicht hatte. Man führte das Argument vom "nationalen Prestige" und vom Film als "Kulturgut" ins Feld.

Etwas anderes kam in diesem nationalen Zusammenhang hinzu. Die deutsche Filmwirtschaft war seit langem gram darüber, dass sie selbst mit ihren Filmen im Ausland - am wenigsten in Italien - kaum landen konnte. Dafür aber griffen gerade italienische Filme immer ungehemmter in deutschen Kinos Platz. Und sogar solche, die nicht eben glimpflich mit der deutschen Nazi-Vergangenheit abrechneten. Der Argwohn besteht nicht erst seit den "Vier Tagen von Neapel" und de Sicas "Eingeschlossenen von Altona". Gestehen wir nur, dass es schon Rossellinis "Rom, offene Stadt" sehr, sehr schwer hatte, in deutsche Kinos zu kommen.

Aber nun erst war das deutsche Gefühl "aufbereitet" und selbstbewusst genug, sich ehrlich zu entrüsten über die "antideutschen" Filmattacken aus Italien. Eine Bemerkung (ausgeschickt von der interessierten Exportunion) über die Absicht der Italiener, in Mar del Plata den Film "Das Gold von Rom" vorzuführen, genügte, um die deutschen Gemüter aufzubringen. Das sollte ein Ausbund an Gehässigkeit gegen den EWG-Partner Bundesrepublik sein. Man sah den Film bald darauf in Cannes und verstand nichts mehr. Es geht darin um die Scheusslichkeit deutscher SS-Einheiten 1943 in Rom, die die jüdische Gemeinde zwangen, fünfzig Kilogramm Gold zu sammeln. Und da fallen von einem jungen Juden ein paar böse Worte gegen die Deutschen, die - immerhin staatlich legitimiert damals! - solche Forderungen stellen.

Die Vertreter des kulturpolitischen Bundestagsausschusses (niemand hatte etwa die umstrittensten "Vier Tage von Neapel" gesehen), die zu Filmverhandlungen nach Rom reisen sollten, wurden in diesem aufbegehrenden nationalen Rausch zurückgehalten. Dr. Martin selber schrieb im CDU-Pressedienst und in der "Kölnischen Rundschau" entrüstete Artikel über diesen "geschichtsfälschenden" Film. Er kam schliesslich mit seiner Abordnung nach Paris, und hatte nur eine vordringliche Sorge, die vier italienischen Filmvertreter zur Stellungnahme über ihre "antideutschen" Filme zu bewegen. Von Eitel Monaco, dem Präsidenten der "ANICA", befragt, wer denn die fraglichen "Vier Tage von Neapel" gesehen habe, schwiegen acht deutsche Vertreter. Nur Dr. Grüter gab an, den Film zu kennen _...

Ein sehr allgemeines Kommuniqué wurde schliesslich herausgegeben, das mit keinem Wort die Frage der "antideutschen" Filme berührt. Dr. Martin aber schrieb gleich nach Rückkehr aus Paris in seinem Pressedienst, Eitel Monaco hätte für die italienischen Produzenten die Versicherung abgegeben, zukünftig keine "antideutschen" Filme mehr drehen zu wollen. Jeder Beobachter des italienischen Filmwesens wird wissen, dass dergleichen so gut wie unvorstellbar ist. Italienische Produzenten- und Autorenverbände vertreten zwar sehr geschlossen und lautstark ihre Interessen, aber sie würden sich nie von ihrem Präsidenten derartige Bindungen auferlegen lassen. Eitel Monaco also dementierte, die Produzenten und Autoren protestieren. Dr. Martin indes blieb bei seiner Behauptung.

In diesem Zusammenhang sind Martins andere Filmpläne zu sehen. Das "nationale Prestige" des Films interessiert ihn, und so begrüsste er den seinerzeit vorgelegten Selbsthilfe-Plan der Spio, der einen Millionen-Fonds aus drei- bis fünfprozentigen Abgaben der Kinos zur Unterstützung der Produktion vorsah. Er stoppte dann auch zusammen mit dem Geschäftsführer des Produzenten- und Verleihverbandes, Horst von Hartlieb, dies Unternehmen, weil es gegen das Kartellgesetz verstiess und wenig Aussicht auf Genehmigung durch das Wirtschaftsministerium hatte. Er machte nun daraus - wiederum in enger Fühlungnahme mit den Interessenvertretern der herrschenden Filmwirtschaft - einen Gesetzentwurf zur Filmhilfe, der inzwischen dem Bundestag vorliegt.

Eine Anstalt des öffentlichen Rechts soll unter Federführung des Wirtschaftsministeriums den 30-Millionen-Fonds verwalten. 21 Köpfe soll der Aufsichtsrat haben, davon elf Interessenvertreter der Filmwirtschaft. Die FSK soll darüber befinden, welche Filme "förderungsunwürdig" sind. Die FSK ist eine Einrichtung der Filmwirtschaft. Die Förderung einzelner Produktionen soll nach den Einspielergebnissen an den Kinokassen bemessen werden. Das heisst "gängige" Filme erhalten grosse Zuwendungen, künstlerische Versuche, auf die das Publikum nicht gleich fliegt, gehen leer aus.

Der Gesetzentwurf sieht schmerzstillende Spritzen für eine todkranke Filmwirtschaft vor. Jene Kräfte, die auch mit viel Geld (das sie nach dem Krieg ja oft genug hatten) keine guten Filme zustande bringen, sondern immer noch nach überholten Traumfabrikpraktiken wursteln, werden noch eine Weile künstlich hingehalten. Die schöpferischen Kräfte, die nur jenseits der industriellen Routine und bürokratischer Kontrollen arbeiten können, werden in dem Gesetzentwurf nicht bedacht.

Dr. Martin hatte Interessenvertreter als Berater, die ihr darbendes Gewerbe, aber nicht den guten, künstlerisch diskutablen Film retten wollen. Es ist leider bei uns zwischen beiden Möglichkeiten zu unterscheiden. Unterstützt man die etablierte Filmwirtschaft, so verhindert man beinahe folgerichtig den guten Film. Solange man diese Tatsache nicht deutlich sieht, ist jede noch so wohlgemeinte Filmhilfe vergeblich.       Heinz Ungureit
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Rettung durch die Betriebswirtschaftslehre?

Zugleich ein Hinweis auf: Bergner, Heinz: "Versuch einer Filmwirtschaftslehre" erschienen bei Duncker & Humblot, Berlin 1962, DM 24,80

Für den zur Zeit nicht nur künstlerisch, sondern auch ökonomisch darniederliegenden deutschen Film existieren Hilfspläne, insbesondere der vieldiskutierte Entwurf eines Filmhilfegesetzes des CDU-MdB Dr. Martin. Keiner dieser Pläne, auch der Martin-Plan nicht, lässt indes erkennen, dass er auch eine wirtschaftliche Gesundung der Filmindustrie und eine Verbesserung der Rentabilität und Wirtschaftlichkeit der Filmproduktion anstrebt, über dem Hinweis auf die wie auch immer geartete Bedeutung des Films als Massenmedium wird schlicht unterschlagen oder auch nur vergessen, dass Film im ökonomischen Sinne eine Ware ist und dass sich die Filmwirtschaft auch nach den Grundgesetzen wirtschaftlichen Handelns zu richten hat. Wissenschaftliche Untersuchungen historischer, ästhetischer, soziologischer und technischer Art wurden angestellt, doch kaum solche, die den Massstäben der modernen Betriebswirtschaftslehre genügen. Ein kurzer Blick in eine Bibliographie der deutschsprachigen Filmliteratur neuerer Zeit zeigt, dass diese Veröffentlichungen selten sind. (Kinematographie 2, Bibliographie der deutschen Filmliteratur, Frankfurt 1962) Vorlesungen an einer deutschen Hochschule gab es bis vor kurzer Zeit nicht. Das mag einmal an der Unpopularität des Themas Film für die deutsche Universität liegen, zum anderen aber daran, dass die deutsche Filmwirtschaft im Vergleich zu anderen Branchen zahlenmässig kaum ins Gewicht fällt. Erst vor einigen Jahren entstand durch die Initiative des Direktors des Industrieseminars der Universität zu Köln, Prof. Dr. Theodor Beste, mit besonderer Unterstützung des damaligen Ufachefs Arno Hauke ein erstes Domizil filmbetriebswirtschaftlicher Forschung. Durch die Vergabe einer grösserer Anzahl von Diplomarbeiten und Promotionsthemen wurde das Interesse an einer betriebswirtschaftlichen Erfassung der Filmindustrie geweckt.

Ein Überblick über die Themen - Bewertung, Finanzierung, Aufgaben und Bedeutung des Verleihs, Berufe in der Filmwirtschaft, Probleme des Filmtheaters, seine Planung, Führung und seine Nebengeschäfte, bis hin zur Untersuchung der deutschen Fernsehindustrie - zeigt deutlich, wie vielfältig, aber auch gleichzeitig lückenhaft das Forschungsgebiet in Angriff genommen werden musste. Zusätzlich wird seit kurzer Zeit auch eine dreisemestrige Vorlesung "Theater und Filmwirtschaft" gelesen, ergänzt durch Exkursionen zu Film- und Fernsehateliers, Kopieranstalten, Theatern u. ä. Betrieben.

Ebenfalls konnte durch die Zusammenarbeit mit der Ufa eine Reihe "Filmwirtschaftliche Studien aus dem Industrieseminar der Universität zu Köln" entstehen, deren Bände II und III als abgeschlossene Monographien über bestimmte Themen schon vor einigen Jahren erscheinen konnten.
(Bürfeld, Werner: "Die optimale Unternehmungsgrösse in der Filmproduktion" und
Adam, Wilfried: "Das Risiko in der deutschen Filmwirtschaft" (jetzt beide bei Duncker & Humblot, Berlin))

Trotz des Zusammenbruchs der Ufa war es möglich, diese Reihe inzwischen zusammen mit dem Verlag Duncker & Humblot mit dem Band I, "Versuch einer Filmwirtschaftslehre" fortzuführen. Diese Arbeit stellt wohl den bisher ersten umfassenden Beitrag der Betriebswirtschaftslehre zum Thema Film dar. Die dort gewonnenen Erkenntnisse und die Anwendung der Terminologie dienen der exakten Klärung der Grundbegriffe.

Ein erster Blick zeigt, wie mit einer derartigen Untersuchung der bisherigen Verwirrung in der Formulierung der Elementarbegriffe und den daraus resultierenden sachlichen Fehlern begegnet werden kann. So weist der Verfasser schon zu Beginn darauf hin, dass dem Wort "Film" sehr unterschiedliche Bedeutung beigelegt werden und schlägt vor, "diesen als Einheit aus materiellem Kunststoffträger und ihm aufgeprägter dramatischer Handlung" zu bezeichnen, bei der Betrachtung der Bestandteile aber "einerseits von Filmband oder -träger, andererseits von Film- oder Spielhandlung" zu sprechen und das Wort Film zu vermeiden. Ebenso gelingt ihm bei der Frage nach dem Erzeugnis in der Filmwirtschaft eine wesentlich befriedigendere Lösung als die in der bisherigen Literatur vertretenen Darstellungen, dass die Filmkopie das Erzeugnis der Branche darstelle und diese ähnlich einer Gliederung in Produktions-, Grosshandels- und Einzelhandelsstufe in die Sparten Filmproduktion, Verleih und Filmtheater unterteilt sei. (So etwa bei Dadek, Walter: "Die Filmwirtschaft", Freiburg 1957) Bergner weist nun nach, dass "sich das Erzeugnis der Filmwirtschaft in Form und Inhalt im wesentlichen als die mit filmdramaturgischen und - technischen Mitteln dargebotene Spielhandlung" darstellt. Bezieht man auch das sogenannte Beiprogramm - Wochenschau, Kurzfilm usw. - ein, so erscheint als Erzeugnis der Filmwirtschaft die Filmvorstellung, (Bergner, S. 104 ff.) die Theaterkopie neben der Inszenierung, der Primärvorstellung und dem Primärfixieren aber nur als Hauptzwischenerzeugnis. Ein solcher Begriff verlangt natürlich auch nach einer neuen Klassifizierung der Glieder der Filmwirtschaft, die der Verfasser dann neben einer eingehenden Untersuchung der Hauptzwischenerzeugnisse ausführlich darstellt.

In einem besonderen Kapitel zu Beginn des Buches weist der Verfasser auch auf die Problematik des bestehenden ungenügenden und veralteten Urheberrechts hin, soweit seine Einflüsse für den Standpunkt der Betriebswirtschaftslehre von Bedeutung sind. Es sei nur am Rande erwähnt, dass hier auch das vieldiskutierte Folgerecht - d. h. dass der Urheber auch an künftigen Wertsteigerungen seines Werkes beteiligt werden solle - mit dem Hinweis abgelehnt wird, dass Wertsteigerungen von Kunstwerken auf rein wirtschaftliche Tatbestände zurückgeführt werden müssen. (Bergner, S. 39 ff.)

Eine eingehendere Besprechung ist bei dem vorliegenden ersten Teil eines auf fünf Bände geplanten Werkes noch nicht möglich. Aus der Anlage und dem Aufbau des Werkes, dem Bemühen um eine möglichst präzise Erfassung der Tatbestände und dem Aufzeigen der Zusammenhänge lässt sich aber erkennen, dass das endgültige Werk eine Lücke in der filmwissenschaftlichen Literatur schliesst, in der es noch soviel "Grünland der Forschung" gibt. (Gercke, Ekhardt: "Notwendigkeit, Ziel und Weg einer speziellen Betriebswirtschaftslehre des Films" in Kinematographie 1, Frankfurt 1962) Ob die Filmwirtschaft sich aber die Erkenntnisse aus diesen Bemühungen der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zunutze macht, erscheint bei der Mentalität der augenblicklich dort bestimmenden Kräfte mehr als fraglich.       Robert Bernauer


Die Abkürzungen bedeuten unter den Notizen zu den Filmen: EFB - Evangelischer FilmBeobachter KFD - Katholischer FilmDienst

S. M. Eisenstein

S. M. Eisenstein ist der mit Recht prominenteste Vertreter jenes Zeitabschnitts der Filmgeschichte, den man die Epoche des sowjetischen Revolutionsfilms nennt. Die russische Filmkunst der zwanziger Jahre erhielt ihre ersten Impulse durch den Wochenschaudokumentaristen Dsiga Wertow und den genialen Filmexperimentator Lew Kuleshow. Beide fanden die theoretischen Grundlagen zur Technik der "Montage", jenes Stilprinzips, nach dem sowohl die fortlaufende Konstruktion der Handlung als auch emotionale Effekte durch rationales Aneinanderfügen von Einstellungen verschiedensten - teilweise indifferenten - Bildinhalts erreicht werden.

Eisenstein, Meyerhold-Schüler und neben vielen anderen Berufen bis dahin hauptsächlich Theaterregisseur drehte nach STREICK (1925) einen Film, der als "das klassische Werk" in die Filmgeschichte eingehen sollte:
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Panzerkreuzer Potemkin (Bronenosez Potiomkin)

Produktion: UdSSR, 1924/25; Regie: S. M. Eisenstein; Regieassistenz: G. W. Alexandrow, ferner Antonow, Gamarow, Lewshin, Strauch; Kamera: Eduard Tisse; Darsteller: A. Antonow, G. Alexandrow, W. Barskij, A. Lewschin und Laien.

Aus dem fast unübersehbaren Schrifttum zu diesem Film seien hier Gregor und Patalas zitiert, die in "Geschichte des Films" eine klar formulierte Analyse geben:

"_... Die grosse Überzeugungskraft des PANZERKREUZER POTEMKIN gerade auch in den westlichen Ländern rührt unzweifelhaft daher, dass der thematische Kern des Films, die Revolution, in eine so adäquate und dynamische Form übersetzt wurde. Das lässt sich wie in der Dramaturgie auch in der Mikrostruktur des Films nachweisen. Kollision von Gegensätzen, Umschlagen eines Zustandes in den anderen bestimmen jede einzelne Phase der berühmten Treppensequenz. ,Zusammenprall' liegt schon im Alternieren von Grossaufnahmen und Totalen während dieser Sequenz. Den chaotisch rennenden Gestalten der Volksmenge folgen unmittelbar die rhythmisch die Treppe hinabstampfenden Soldatenbeine. Die sich steigernde Abwärtsbewegung schlägt um in eine Aufwärtsbewegung: die Mutter, die ihr ermordetes Kind den Soldaten entgegenträgt. Doch dann verkehrt sich die Aufwärtsbewegung wieder in Abwärtsbewegung. Das Laufen der Menge springt um in eine neue Darstellungsmethode: ein Kinderwagen rollt die Treppe hinab. Und schliesslich springen die Salven vieler Gewehre um in den Antwortgruss eines Geschützes _...

_... Die Treppenszene, in welcher herabmarschierende Kosaken eine fliehende Menge brutal füsilieren, wurde durch Eisensteins Montagekunst zum Höhepunkt dieses Films und zu einer der berühmtesten Anthologieszenen aus der Filmgeschichte überhaupt _..."

Mit dem PANZERKREUZER POTEMKIN war Eisensteins Talent aber noch lange nicht erschöpft. Zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution realisierte er 1927:
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OKTOBER

(Originaltitel: Oktjabr, Titel in Westeuropa: 10 Tage, die die Welt erschütterten.)

Produktion: UdSSR, 1927/28; Regie: S. M. Eisenstein; Regieassistenz: G. W. Alexandrow, Ilja Trauberg; Buch: S. M. Eisenstein; Kamera: E. Tisse; Bauten: W. Kowrigin; Darsteller: Nikandrow, N. Topow, B. Liwanow, ferner Soldaten der Roten Armee und Arbeiter von Leningrad.

Rune Waldekranz in "Knaurs Buch vom Film": "_...Auch Eisensteins nächster Film war richtungweisend. In den ZEHN TAGEN, DIE DIE WELT ERSCHÜTTERTEN schilderte er Kerenskis kurzes Regime in einer so realistischen Bildchronik, dass man glaubte, authentische Bilder vor sich zu haben. Eisenstein drückte seine revolutionären Ideen ausschliesslich durch die Masse aus - und die einzige freistehende Person war daher Kerenski, der mit verächtlicher Ironie gezeichnet wurde. Die bekanntesten Szenen sind die Episode an der Klappbrücke und die Erstürmung des Winterpalastes. In der erstgenannten Episode fliehen die Massen vor den blindschiessenden Soldaten, sie versuchen über eine Brücke zu kommen - aber die Kosaken lassen die Brücke aufziehen und das Volk wird in einer Todesfalle gefangen. Mitten auf der Brücke liegt die Leiche eines Mädchens. Langsam heben sich die beiden Brückenhälften, und Strähne für Strähne gleitet das Haar des toten Mädchens in die immer grösser werdende Leere. Eisenstein zeigt abwechselnd Bilder mit fliehender Volksmenge, stürzender Menschen von der Pferdekutsche und dem toten Mädchen auf der Brücke. Selten sind Hoffnungslosigkeit und Todesverzweiflung so unheimlich impressiv dargestellt worden." Für OKTOBER hatte Eisenstein seine Arbeiten an einem anderen Film unterbrochen, der in den Jahren 1926-29 entstand:
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DIE GENERALLINIE

(Originaltitel: Staroje i Novoje; Titel in Westeuropa: Der Kampf um die Erde.)

Produktion: UdSSR, 1926/1929; Regie: S. M. Eisenstein; Regieassistenz: G. Alexandrow; Buch: Eisenstein und Alexandrow; Kamera Eduard Tisse; Darsteller: Marfa Lapkin, W. Busenkow, K. Wassiljew, F. Matwej.

Rune Waldekranz in "Knaurs Buch vom Film": "_...Der friedlichen Revolution wandte sich Eisenstein in dem Grossfilm DIE GENERALLINIE zu. Hier wurde der kühle Theoretiker zum lyrischen Epiker. Seine Hymne an die Erde und die Arbeit war - wie die meisten Eisensteinfilme - vom Stoff her klassisch einfach und wesentlich. Der Film handelt von dem zähen Kampf eines Bauern gegen Aberglauben und Vorurteile bei der Errichtung eines Dorfkollektivs. Aber nicht der Bauer wurde dank seiner Pionierarbeit zum Helden des Films, sondern ein Milchseparator und ein Traktor _... Eisenstein machte es zu einem atemberaubenden Ereignis, wenn der erste Milchstrahl aus dem Separator spritzt oder wenn der Traktor sich in Bewegung setzt _..."

Paul Rotha in "The Film Till Now": "_... In GENERALLINIE wird das Hauptinteresse zwischen der Zentralfigur des Bauernmädchens Lapkina und dem soziologischen Gehalt des Themas geteilt. Natürlich war es ein Film, der ausdrücklich zur Instruktion der landwirtschaftlichen Kommunen gemacht worden war, sie zur Annahme moderner, maschineller Methoden anstelle ihrer primitiven Verfahren zu bewegen, und von diesem Gesichtspunkt aus war er wahrscheinlich erfolgreich. Kinematographisch war er interessant in der Konstruktion seiner Sequenzen und der rhythmischen Plazierung der Zwischentitel, ebenso wie in der Schilderung der Bauern, und in den weiten Einstellungen von Landschaft, Wind, Sturm und Wolken. Glänzend waren die Schönheit der Bildkompositionen und die einzelnen Typen _..."

Während der Arbeit an GENERALLINIE wurde im Westen der Tonfilm erfunden. Die geplante Vertonung des Films scheiterte an technischen Schwierigkeiten. Eisenstein reiste ins westliche Ausland, um die Tonfilmtechnik zu studieren. Der Erfolg des PANZERKREUZER POTEMKIN ebnete ihm zwar die Wege, doch sollte sowohl sein Aufenthalt in Deutschland und Frankreich als auch sein Halbjahresvertrag mit der Paramount in den USA fruchtlos bleiben. Zur Finanzierung eines langgeplanten Projektes, eines Films über Geschichte und Gegenwart Mexicos, wandte er sich an den Schriftsteller Upton Sinclair. Sinclair sagte seine finanzielle Unterstützung zu, und Eisenstein konnte mit der Arbeit an einem grossangelegten Filmwerk beginnen:
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QUE VIVA MEXICO!

Der Film wurde nie fertiggestellt. Als Rohfilmkontingent und Drehzeit weit überschritten waren, sperrte Sinclair weitere Mittel. Enttäuscht fuhr Eisenstein zurück in die Sowjetunion. Aus dem Material von etwa 60 000 Metern Länge wurden von verschiedenen Interessenten mehrere kurze und lange Filme zurechtgeschnitten. Erst 1956, nach Eisensteins Tod, stellte der Filmhistoriker Jay Leyda im Museum of Modern Art eine mehrstündige Fassung zusammen, die den ursprünglichen Intentionen Eisensteins nahe zu kommen versucht.

In der Sowjetunion hatte sich nach der Rückkehr Eisensteins die politische Konstellation etwas geändert. Eisenstein wurde als Formalist angeklagt, seine Projekte zurückgewiesen. Erst 1938 konnte er unter etwas günstigerem Klima einen neuen Film schaffen:
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ALEXANDER NEWSKI

Produktion: UdSSR, 1938/39; Regie: S. M. Eisenstein; Musik: Sergej Prokofiew. (weitere Produktionsangaben fehlen)

Während bei Eisensteins früheren Filmen die Masse und das Kollektiv unbestritten im Mittelpunkt des Geschehens standen, machte Eisenstein in diesem Film insofern Konzessionen an die Aera des Personenkults, als er die Heldengestalt des Prinzen Alexander Newski hervorhob und als individuelle Herrschergestalt glorifizierte. Bezeichnend ist auch, dass sich Eisenstein, der einstige Regisseur der provozierend aktuellen Thematik, nach der mehrjährigen Kaltstellung einem historischen Thema zuwandte. Der einzige Bezug zur Gegenwart mag in der Betonung des Kriegerischen gesehen werden. (Die Schlachtszene nimmt fast ein Drittel der Gesamtlänge ein.) In der Sowjetunion herrschte damals wie in aller Welt Kriegsangst. Der Sieg über das deutsche Ritterheer auf dem vereisten Peipussee mochte als Stimulans russischer Kriegsbereitschaft willkommen sein. Dieser propagandistische Effekt konnte allerdings erst zur Wirkung kommen, als der Krieg mit Deutschland bereits ausgebrochen war. Während der Dauer des deutsch-sowjetischen Paktes durfte der Film nicht aufgeführt werden.       we
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LIEBESSPIELE (Les jeux de l'amour) Frankreich 1959 - Produktion: Ajym Films - Verleih: Rank - Regie: Philippe de Broca - Buch: Ph. de Broca und Daniel Boulanger - Kamera: Jean Penzer - Musik: Georges Delerue - Darsteller: Geneviève Cluny, Jean Pierre Cassel, J. L. Maury.

Seine Filme wurden fast alle Erfolge: LIEBESSPIELE, WO BLEIBT DA DIE MORAL, MEIN HERR, LIEBHABER FÜR FÜNF TAGE und CARTOUCHE, DER BANDIT. Bis auf den letzten Film hat de Broca ein Ähnliches zur Absicht, wie es Antonioni differenzierender und analytischer, vielleicht könnte man sagen wissenschaftlicher tut: die Liebe in der modernen Industriegesellschaft. Wenngleich bei de Broca das Dekor wesentlich ist, so kann es doch keineswegs richtig genannt werden, dass seine Filme ,Spiele' im leeren Raum des Unverbindlichen sind. LIEBESSPIELE ist sicherlich der heiterste und unbeschwerteste Film, voller Esprit und ,Leichtigkeit'. Aber unter der dünnen Schicht des Frivolen und Spöttischen sitzt jenes Unbehagen der Darsteller - stellvertretend für die, denen nichts problemlos ist - an einem festgefügten und unbezweifelbaren Ordnungsgebäude, am Reglement der eisernen Disziplin ohne eigentliche Festigkeit. Was deutlich wird in den genannten folgenden Filmen: de Boca reflektiert heiter, ausgelassen und engagiert.       dd
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MEIN GROSSER FREUND SHANE (Shane)

USA 1953 - Regie: Georges Stevens -Darsteller: Alan Ladd, van Heflin, Jack Palance.

Den vollkommensten Ausdruck dieser ästhetisierenden Tendenz (des Western) bildet George Stevens! SHANE, wo die Legende des Wilden Westens tatsächlich auf das Wesentliche reduziert und in die träumerisch-durchsichtige Form des Märchens gebracht worden ist. Der Held (Alan Ladd) ist kaum noch ein Mensch zu nennen, sondern so etwas wie der Geist des Westens, in seinen fransenbesetzten Buckskins prächtig anzuschauen. Er taucht geheimnisvoll aus der unendlichen Prärie auf, Liebenswürdigkeit ausstrahlend und eine Schwermut, die nicht mehr lediglich die natürliche Folge der Cowboy-Erlebnisse ist, sondern sich vergeistigt hat; und wenn seine Mission erfüllt ist, wenn er in dem düsteren Jack Palance den Geist des Bösen - etwas ebenso Metaphysisches wie seine eigene Verkörperung der Tugend - getroffen und zerstört hat, verschwindet er - ein Mann, dessen Zeit vorüber ist - wieder in einem noch Wilderen Westen und lässt nur den staunenden kleinen Jungen zurück, der die ganze Geschichte geträumt haben könnte.       Robert Warshow in F-58/3
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JULES UND JIM (Jules et Jim)

Frankreich 1961 - Produktion: Carosse/ S.E.D.I.F. - Verleih: Constantin - Regie: François Truffaut - Buch: Fr. Truffaut, nach einem Roman von Henri-Pierre Roche - Kamera: Raoul Coutard - Musik: Georges Delerue - Darsteller: Oscar Werner, Henri Serre, Jeanne Moreau, Marie Dubois.

François Truffaut, von dem wir LES 400 COUPS und TIREZ SUR LE PIANISTE kennen, hat mit JULES UND JIM sein sicher am weitesten differenziertes Werk gedreht, in dem nicht festumrissen ist, was denn nun diese nahezu märchenhafte Freundschaft zwischen dem Deutschen JULES und dem Franzosen JIM ausmacht, woher CATHERINE, das ungewöhnliche Mädchen, kommt, wie ihre Beziehung zur Welt ist. Der Hintergrund des Films, das Leben in Paris um 1910, der Weltkrieg I und die Bücherverbrennungen 1933, alles ist nur eingeblendet, Legitimation für die folienhafte Handlung; so sind die Schwächen des Films - nämlich die Ausklammerung der Realität und der Verzicht auf geschichtliche Genauigkeit und Konsequenz - gleichzeitig die Prämissen seiner Einmaligkeit: Die Bereiche des Märchens und die des irrationalen Glücks, das dann, als wolle Truffaut seinen Film mit der Wirklichkeit aussöhnen, mit einem gewaltsamen Griff realiter untergeht.       dd

KFD 10930: Aber Truffauts Film hat nichts Laszives, keine Fragwürdigkeiten in Bild oder Wort, und trotz des so fragwürdigen Themas der Liebe zu dritt (oder noch mehr), nicht einmal etwas Demoralisierendes; die Männer handeln gegeneinander aus unverbrüchlicher Freundschaft, Cathérine ihrerseits aus der Unbedingtheit und Spontaneität ihrer Natur, die etwas Elementares besitzt, und die Lösung des Konflikts ist letztlich ein Bekenntnis zur Monogamie, da Cathérine erkannt hat, dass es zu dritt halt nicht geht.
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DAS MÄDCHEN ROSEMARIE

Deutschland 1958 - Produktion: Roxy-Verleih: Neuer Filmverleih - Regie: Rolf Thiele - Buch: Erich Kuby, Rolf Thiele, Jo Herbst, Rolf Ulrich - Kamera: Klaus v. Rautenfeld - Musik: Norbert Schultze - Darsteller: Nadja Tiller, Peter van Eyck, Mario Adorf, Carl Raddatz, Gert Fröbe, Horst Frank.

Dieser Film verdankt seine Entstehung der Aktualität: dem Mord an der Prostituierten Rosemarie Nitribitt, der bis heute wegen ,gewisser Schwierigkeiten' nicht aufgeklärt worden ist. Rolf Thiele, der Regisseur und Mitautor des Skripts, hat zusammen mit Erich Kuby versucht, die Wirklichkeit der ,Feudalhure' Rosemarie, deren Gebundenheit an die Kreise, von denen sie loskommen möchte, obgleich sie durch diese erst hochgekommen ist, nachzuzeichnen, um damit etwas Licht in das gesellschaftliche Dunkel der Hautevolée zu bringen. Der Versuch ist durchaus als geglückt anzusehen. Wir sind sogar der Meinung, dass dieser Film der einzige deutsche Beitrag zu der nie erfolgten ,sozialkritischen Welle' ist; die Tendenz des Drehbuches ist eindeutig und in der Einfachheit richtig: dass nämlich die Liberation von den Kräften, die den Aufstieg nicht nur durch sich selbst verkörpern, sondern ihn einzig auch gewähren können, nicht möglich ist, weil die Teilhabe an ihren Gepflogenheiten gleichsam die unauflösbare Bindung an sie impliziert. In dem Moment, als Rosemarie, dieses Mädchen, das nicht mehr "verbrochen" hat, als den gleichen Geschäftssinn auf die Intimsphäre der käuflichen Liebe übertragen zu haben, der die Welt um sie beherrscht, die Ausbeutung ihres Wissens über die Ausbeuter verkaufen will, fällt sie über die Schranken des Profits. Der Warencharakter der Liebe, der nicht automatisch mit der Prostitution zu identifizieren ist, zeigt sich am stärksten, als man die Leidtragende ermordet. Der Ausbruch ist ebenso unmöglich, wie es Arglosigkeit noch sein kann.

Die Verfilmung des später auch als Roman erschienenen Buches von Kuby ist mit Nadja Tiller und Peter van Eyck glücklich besetzt. Die eingeschobenen Songs, vorwiegend rezitiert von Mario Adorf, geben einen kabarettistischen Einschlag, der vielleicht die einzige Fehldisposition des Ganzen ist. Das Inszenieren auf den Mord hin verrät vieles der Wirkung an die Sensationen. Das aber ist zugleich ein Teil der Wirklichkeit.       dd
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LABYRINTH DER LEIDENSCHAFTEN

Deutschland 1959 - Produktion: Universum/C.E. I. Incom. - Verleih: UFA -Regie: Rolf Thiele - Buch: Rolf Thiele, Gregor von Rezzori, nach dem Roman ,Unruhig ist mein Herz' von Gladys Baker - Kamera: Klaus von Rautenfeld - Musik: Hans Martin Majewski - Darsteller: Nadja Tiller, Peter van Eyck, Nicole Badal, Amedeo Nazzari, Matteo Spinola.

Der Originaltitel dieses Thielefilms lautete schlicht und vieldeutig LABYRINTH. Mit der Leidenschaft sollte der Misserfolg kompensiert werden, der das Labyrinth durchzog. Es war nicht möglich. Was den Film für uns zeigenswert macht, ist die negative Didaktik, die man mit ihm betreiben kann: Es zeigt sich deutlich dabei, wohin ambitioniertes Verfilmen hinführt, wenn die Dürftigkeit des Skripts so gross ist, wie in diesem Fall. Das Phänomen der Liebe, gesehen von Rolf Thiele, dem einschlägigen Spezialisten, gerät zum völligen Kunstgewerbe. Auch die grossartige, aber geradezu manierierte Kamera - wenn man an dem misst, was sie darzustellen hat - eines Klaus von Rautenfeld und die elektronische Musik von Majewski retten nicht viel mehr, als das Interessante. So prätensiös hat selbst Thiele nur noch einmal gedreht - nämlich in MAN NENNT ES AMORE, nur mit dem Unterschied, dass dabei der Dialog von Herrn Rezzori die Ambitionen des Visuellen übernommen hat.

Wenn man sich fragt, warum hierzulande kein einziger Regisseur einen Film gedreht hat, der das veränderte Bild der Liebe in der derzeitigen Gesellschaft adäquat hätte einfangen und reproduzieren können, wird von keinem Beweis besser beantwortet als durch diesen Film. Die Divergenz von Wort und Bild ist total.       dd
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PROFESSOR MAMLOCK

Deutschland Ost 1961; R.: Konrad Wolf; K.: W. Bergmann; M.: H.-D. Hosalla und Beethoven IX. Sinfonie; D.: W. Heinz, U. Burg, H. Thate

Konrad Wolf, Absolvent der Moskauer Filmhochschule und sicherlich einer der markantesten Regisseure Ostdeutschlands, drehte diesen Film nach einem Drama seines Vaters, Friedrich Wolf, das 1933 unter dem Eindruck der ersten Judenverfolgungen entstand und in der Zeit von Mai 1932 bis April 1933 spielt. Die Titelfigur, Professor Mamlock, ist ein jüdischer Arzt, der eine berühmte Klinik leitet, deren Führung man ihm entzieht. Er ist einer von den Juden, die sich völlig deutsch fühlen und nicht an das Unrecht glauben können, bis sie schliesslich angesichts unleugbarer Tatsachen ihre Illusionen verlieren und zu politischer Klarsichtigkeit gelangen. Ihm gegenüber steht sein Sohn, der junge Kommunist - eine Dualität, die sich auch in anderen Filmen Wolfs findet - wobei der Kommunismus als Rettung vor dem Nationalsozialismus propagiert wird. Bildgestaltung und Schnitt in diesem Film sind von einer an Manierismus grenzenden Raffinesse. Das Können der Darsteller vermag nicht die Pathetik der Dialoge zu überspielen, die sich auf der Bühne besser ausnehmen würden.       bnr
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EINE FRAU IST EINE FRAU (Une femme est une femme)

Frankreich 1961 - Produktion: Rom/Paris - Verleih: Nora - Regie: Jean Luc Godard - Buch: Jean Luc Godard - Kamera: Raoul Coutard - Musik: Michel Legrand - Darsteller: Anna Karina, Jean-Claude Brialy, Jean Paul Belmondo, Nicole Paquin.

Fast ist das plot ähnlich dem der LIEBESSPIELE: Auch hier will die Frau (Anna Karina) endlich den Zustand der ständigen Tändeleien überwinden, will heiraten, oder zumindest doch ein Kind. Aber abgesehen von der Handlung: die formale Gestaltung dieses Films ist voller Raffinement, voller Gags und scheut nicht vor dem 'slap-stick' zurück. Godard integriert die Filmgeschichte ebenso, wie er in VIVRE SA VIE auf deren Anfänge zurückgeht. FORM ist eigentlich keine gegeben, viel eher die reflektierte und sinngebende Formlosigkeit. Der Schluss ist der Zusammenfluss der widerstreitenden Tendenzen: Der Wunsch von Anna Karina soll wohl doch in Erfüllung gehen: sie wird ein Kind bekommen.       dd

EFB 13.508: Frech und unbeschwert wird auf zerbrechlichen Tabus getanzt, je kecker um so besser, und zum Schluss fängt man sich über dem Abgrund der Leichtfertigkeit und steuert in den Hafen der Ehe oder der Familie. Dieser verschlüsselte und verborgene Sinn für das Gesunde entspricht der Einstellung, die man seit einigen Jahren den jungen Franzosen nachsagt.
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NACHTS, WENN DER TEUFEL KAM

Deutschland 1957 - Produktion: Divina - Verleih: Gloria - Regie: Robert Siodmak - Buch: Werner Jörg Lüddecke, nach einem Illustriertenbericht von Will Berthold - Kamera: Georg Krause - Musik: Siegfried Franz - Darsteller: Claus Holm, Annemarie Düringer, Mario Adorf, Monika John, Hannes Messemer, Peter Carsten, Carl Lange, Werner Peters, Margaret Jahnen.

Als der Verleih diesen Film als Geschichte aus den ,Hintertreppen des Regimes' anpries, war er ebenso schlecht beraten, wie unbedacht. So war es dann dem Betrachter möglich, alle jenen Unmenschlichkeiten und Rechtsbeugungen des ,Dritten Reiches' auf eben einer Hintertreppe anzusiedeln, wo sie nicht hingehören. Die eigentliche Tendenz des Films, der trotz vieler Einwände gegen die Typisierung und den Schematismus ein wesentlicher Beitrag zur filmischen Darstellung des nationalsozialistischen ,Euthanasie-Erlasses' ist, liegt vielmehr in dem Engagement für den Psychopathen, der vom Regime der SS liquidiert werden soll, ganz so, als müsse sich ausrotten lassen, was sich nicht reglementieren lässt.

Dass der pflichteifrige Kriminalkommissar, der die Aufklärung wünscht, mit dem fanatischen SS-Führer kollidiert, ist die Logik des System. Die Obrigkeit bringt in ihrer bedingungsfeindlichen, keinerlei Präferenzen duldenden Autorität den noch zu Fall, der ihr eigentlich, ohne zu wissen bis zu welchem Punkt, ergeben dient. Sein Aufbegehren ist kaum erfolgversprechend - er wird auf 'humane' Art beseitigt, nämlich strafversetzt, bewährungshalber an die Front, wie es im Jargon der Unmenschen hiess.       dd
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DER FALL GLEIWITZ

Deutschland Ost 1961; R.: Gerhard Klein

Der angebliche Anlass für die deutsche Invasion in Polen 1939 war ein Überfall polnischer Freischärler auf den Reichssender Gleiwitz. In Wirklichkeit inszenierten verkleidete SS-Männer die Aktion. Diesen Vorfall, seine Planung und z. T. die allgemeine Situation schildert der Film. Besonders zu beachten ist die Bildgestaltung, in die der Regisseur oft den entscheidenden Teil der Aussage legt. So steht die symmetrische Auffahrt zweier Autos stellvertretend für die Perfektion des Systems, und indem wir die Schönheit der Bildkonstruktion erfassen, sollen wir assoziieren, wie es die Verantwortlichen befriedigte, wenn es gelang, die Tötungsmanöver nach den bis ins Detail entworfenen Plänen auszuführen. Beachtenswert sind auch die Szenen, die in blitzschneller Rückblende-Manier die Lebensgeschichte des Naujoks und gleichzeitig seine Schnellzugfahrt durch die Landschaft des noch friedlichen Polen zeigen. In solchen entscheidenden Szenen spielt die Musik eine wichtige Rolle. Leider fehlen auch in diesem Film nicht die Klischees vom tier- oder ordnungsliebenden, teilkultivierten Nazi. Der Charakter der Personen setzt sich überzeugend aus unbedingtem Gehorsam und eigener politischer Kalkulation zusammen. Trotzdem und trotz seiner künstlerischen Qualität hinterlässt der Film den Eindruck einer gewissen Sterilität.       bnr
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WENN DIE KRANICHE ZIEHEN (Letjat Shurawlij)

UdSSR 1957 - Produktion: Mosfilm -Regie: Michail Kalatosow - Drehbuch: W. Rosow - Kamera: S. Urussewskij - Musik: M. Wainberg - Darsteller: Tatjana Samoilowa, A. Batalow, W. Merturiew, A. Schworin, S. Kharitonowa - Verleih: Pegasus.

Nicht, dass es wieder einmal ,um den Krieg geht' in diesem so ausserordentlichen Film soll hier hervorgehoben werden, das bedeutet noch nichts - wie die bundesrepublikanische Serienproduktion der fünfziger Jahre beweist, sondern um die Technik, mit der es dem Regisseur Kalatosow gelungen ist, den Erkaltungsprozess der Gefühle zu zeigen, der allen durch den Krieg zudiktiert wird. Der Mensch Boris, seine Geliebte Veronika und auch der Bruder von Boris, sie werden durch die Bestialität des technischen Krieges, bei dem es kein Hinterland und keine Etappe mehr gibt, ihrer selbst entfremdet. Sie verlieren die Fähigkeit, aufrichtig gegenüber sich selbst sein zu können, wenn auch Veronika, die Boris über den Tod hinaus die 'Treue' bewahrt, davon ausgenommen zu sein scheint. Das Ende dementiert die Individualität: allen gelten die Blumen, die sie für ihn bereitgehalten hatte, obgleich sie wusste, dass er tot ist, allen - damit aber im Grunde keinem mehr. Die Versöhnung ist irreal geworden.       dd

EFB 01.510: Vom Scheitern einer Liebe im Krieg, von der Treulosigkeit im Zwange eines grausamen Schicksals und von der dennoch bewahrten Treue des Herzens, von Tod und Verzweiflung. Ein bewegendes Zeugnis warmer Menschlichkeit, ein filmisches und darstellerisches Meisterwerk aus Russland.
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EIN AMERIKANER IN PARIS

USA 1951; R.: Vincente Minnelli; D.: G. Kelly, L. Caron, O. Levant

Bevor Minnelli diesen Film drehte, herrschte allgemein die Auffassung, die Zeit für Tanzfilme sei endgültig vorüber. Aber Minnelli schuf mit "Ein Amerikaner in Paris" einen neuartigen Tanzfilm, eine Art Musical, und führte damit erneut eine Gattung ein, die - wie schon einmal in ihrer Blütezeit um 1932 - wiederum ein Gegenbild zu dem in beiden Fällen gerade gängigen Realismus darstellt. Held des Films ist ein junger Amerikaner, der in Paris malen lernt, Freunde findet und sich verliebt, und dem es am Schluss gelingt, seine Impressionen von der berauschenden Stadt mit dem Pinsel festzuhalten. Minnelli verschmolz diese einfache Vorlage meisterhaft und voller Ironie zu einer Einheit von Handlung, Musik (nach Melodien von Gershwin), Tanz und filmischer Form. Dennoch bleibt vor allem spürbar, dass Minnelli ursprünglich von Fotografie und Bühnenbildnerei her zur Regie kam. Er bedient sich vollauf der Möglichkeiten des Farbfilms, indem er die Farbe bewusst als dramatisches Element einsetzt. Besonders deutlich zeigt sich das im grossen Schlussballett, wo jede der neun Szenen von einer anderen Farbgebung bestimmt ist. Gene Kelly, der Hauptdarsteller, wurde nach diesem Film selbst einer der bedeutendsten Regisseure des Musicals.       n
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