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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 32, Sommersemester 1961

Inhalt
Der Balance-Akt des polnischen Films
Wochenschau und Kurzfilm als politische Bildungsmittel
Umstrittene FSK
Literaturbesprechungen
Portrait eines Regisseurs: Jacques Tati
Filmanalyse "Jour de Fête" (TEMPO - TEMPO)
Dr. Mabuse, der Spieler
Der farbige Film
I married a witch (Meine Frau, die Hexe)
Über den Dächern von Nizza (To catch a Thief)
Der Tod eines Radfahrers (La Muerte de un Ciclista)
Rififi (Du Rififi chez les Hommes)
Bellissima (Bellissima)
Quai des Orfèvres (Unter falschem Verdacht)
Der Kanal (Kanal)
Das grosse Manöver (Les grandes Manoeuvres)
Los Olvidados (Die Vergessenen)
Der Weg nach oben (Room at the Top)
Casque d' Or (Goldhelm)
Der achte Wochentag (Osmy Dzieii Tygodnia)
Rückschau


Wilfried Berghahn: Der Balance-Akt des polnischen Films

Bis zum Erscheinen einiger sowjetischer Filme, vor allem natürlich der "Kraniche", wurde der osteuropäische Film in der Bundesrepublik nicht notiert. Das hat sich geändert. Der russische Film ist wieder interessant geworden. Zwar besitzt er nicht mehr jene Faszination, die in den zwanziger Jahren von ihm ausging, aber es bleibt nicht länger unbemerkt, dass in den staatlichen Ateliers der kommunistischen Hemisphäre ein neuer Geist eingezogen ist, der die Reduktion auf die vergangene Epoche des Sozialistischen Realismus unmöglich macht. Was freilich immer noch übersehen wird, ist die Tatsache, dass die erstaunlichsten Dokumente der neuen Filmpolitik in Osteuropa eigentlich nicht in der Sowjetunion selbst zu finden sind, sondern in ihren Nachbarländern, vor allem in Polen.

Polen ist heute das einzige Land in Osteuropa, dem es gelang, ein kulturelles Eigenleben zu entwickeln. Seit dem Tauwetter hat es sich von den meisten Direktiven der Moskauer Kulturpolitik freimachen können. So ist Polen heute das einzige Land jenseits der Elbe, in das westliche Kunst relativ ungehindert einströmen kann. Wer nach Warschau kommt, findet auf den Theaterspielplänen mehr westliche als östliche Stücke. Er kann Ausstellungen abstrakter Malerei besuchen, die in Ost-Berlin oder Moskau noch undenkbar wären. Er gerät nach kürzester Zeit ungezwungen in Diskussionen mit polnischen Intellektuellen, die in einer erstaunlich offenherzigen Sprache geführt werden und keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dass seine Partner über alle wesentlichen Vorgänge "im Westen" ausgezeichnet informiert sind. Dieses Klima kann auch auf den Film nicht ohne Einfluss bleiben. Man darf sogar sagen, dass es im polnischen Film seinen sichtbarsten Ausdruck gefunden hat.

Es gab bereits vor dem Kriege in Warschau eine Gruppe von jungen Künstlern, die sich Gedanken machte über einen unverwechselbar polnischen Beitrag zur Filmkunst. Ihre Wortführer waren der Regisseur Aleksander Ford, Jerzy Bossak, der heute künstlerischer Leiter eines Dokumentarfilmstudios ist, und Jerzy Toeplitz, der Gründer und Rektor der polnischen Filmhochschule in Lodz. Diese Gruppe hatte nach dem Kriege die Chance bekommen, den polnischen Film zu organisieren. Obwohl ihre erste Initiative sehr schnell durch das Diktat des Sozialistischen Realismus erstickt wurde - Ford zum Beispiel konnte nur einen Film von wirklicher Bedeutung drehen, "Die Grenzstrasse", ein Bericht aus dem Warschauer Ghetto - gelang es ihr doch, eine Atmosphäre zu schaffen, in der junge Talente heranreifen konnten, die 1956, kurz vor dem Oktoberumsturz, die Führung im polnischen Film übernahmen. Das erste Werk, das den Festivalbesuchern in Karlsbad zeigte, dass Polen entschlossen war, eine Sonderstellung in Osteuropa einzunehmen, war der Film "Ein Mann auf den Schienen" des Regisseurs Andrzej Munk. Munk, der vorher nur durch einige Dokumentarfilme aufgefallen war, erzählte die Geschichte eines alten Lokomotivführers, der während der stalinistischen Periode in Verdacht geraten war, ein Saboteur zu sein, und erst rehabilitiert werden konnte, als es zu spät war. Als in der letzten Szene des Films der wahre Tatbestand aufgedeckt und alle ideologischen Vorurteile blamiert waren, stand einer der Teilnehmer an der Untersuchungskommission vom Tisch auf und öffnete das Fenster. "Es ist schlechte Luft im Zimmer", sagte er. Wie genau dieser Film die Lage in Polen und ihre Konsequenzen getroffen hatte, zeigte sich, als wenige Wochen nach seiner Fertigstellung Gomulka für Polen dasselbe tat, was der Untersuchungsleiter im Film ihm vorgemacht hatte; die Fenster aufreissen und frische Luft hereinlassen. Munks Film zeigte, wie innig das Kino und die Gesellschaft in bestimmten Situationen miteinander verbunden sein können, so dass die Leinwand zur Projektionsfläche für die geheimen nationalen Wünsche wird. Typisch ist auch, dass dieser Film in Mitteldeutschland nie gezeigt werden durfte.

Man kann den polnischen Film einen Balance-Akt zwischen den Fronten nennen. Das heisst jedoch nicht, dass er bei jedem Schritt vorsichtig Beifall und Missfallenskundgebungen von links und rechts abwägt und sich schliesslich auf einer mittleren Linie durchzulavieren versucht. Der polnische Film ist für Einreden aus Ost und West in erstaunlichem Masse unzugänglich. In Warschau wird alles diskutiert, was auch im Westen die Gemüter bewegt. Doch es wird nicht nachgeahmt. Natürlich lassen sich gewisse Einflüsse nachweisen. Aber sie behalten gleichsam Zitatcharakter. Man assimiliert sie, ohne ihnen eine dominierende Bedeutung einzuräumen. Der Balance-Akt des polnischen Films resultiert aus der polnischen Situation selbst. Er reflektiert die Lage eines Landes, das gezwungen ist, in einem höchst problematischen und von Tag zu Tag gefährdeten Schwebezustand zwischen Ost und West zu leben. Diese Spannung versucht die junge polnische Generation im Kunstwerk fruchtbar zu machen. Während fast alle anderen europäischen Länder sich heute bemühen, ihrer Filmproduktion einen internationalen Anstrich zu geben - ihr Ideal ist die unbeschränkte Exportierbarkeit - beharrt der polnische Film gerade in seinen besten Werken darauf, polnisch zu sein.

Dass man in den polnischen Ateliers nicht gewillt war, den bequemeren Weg zu gehen, zeigte sich auch in der erstaunlich pessimistischen, beinahe selbstquälerischen Grundhaltung der ersten Filme nach Gomulkas Regierungsantritt. Zu der neuerwachten Hoffnung auf eine Änderung der bisherigen Lebensverhältnisse stand die Düsternis der Leinwand in eigenartigem Kontrast. Vielleicht versuchte man, die Erfahrungen der Vergangenheit, die immer wieder gezeigt hatten, dass Polen sich in einer ausweglosen Situation zwischen den Fronten befand, gerade dadurch zu bannen, dass man sie so eindringlich beschwor, damit man sie nie mehr aus der Erinnerung würde verlieren können und in Zukunft gegen alle Verlockungen zu einem leichtfertigen Optimismus gefeit war. Ein bedeutendes Beispiel für diese negative Pädagogik ist Andrzej Wajdas "Kanal". Dieser Film ist ein hohes Lied auf den Mut und die Einsatzbereitschaft der Widerstandskämpfer, aber auch ein düsteres Menetekel der Vergeblichkeit ihrer Anstrengungen. Andere Filme wandelten das Thema Hoffnung und Enttäuschung auf einer privateren Ebene ab. Auch sie meinten freilich nicht nur das Einzelschicksal, sondern die polnische Situation schlechthin. So gab es einen Film "Die Schlinge" von dem Regisseur Wojciech Has, in dem nach einer Erzählung von Marek Hlasko die vergeblichen Anstrengungen eines Trinkers geschildert wurden, der versucht, sich dem Alkohol zu entziehen und schliesslich doch nur im Selbstmord enden konnte. So graue, schmutzige und pessimistische Szenen hatte man in Filmen aus einem kommunistischen Land noch nie gesehen. Es entstand in den Jahren 1957/58 eine sogenannte "schwarze Serie" im polnischen Film. Viele Dokumentarfilme gehörten dazu. Ihre Themen hiessen Trunksucht, Verwahrlosung, Prostitution und Wohnungselend. Die jungen Regisseure, die fast alle in den Dreissigern sind, hatten von der Schönfärberei genug. Sie brauchten die düsteren Sujets, um ihre Phantasie von den Schrecken der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre zu befreien. Natürlich sind die meisten dieser Streifen nie ins Ausland gelangt. Sie waren eine rein polnische Gewissenserforschung.

Nach dem ersten heftigen Ausschlag des Pendels vom Extrem der Schönfärberei ins andere Extrem der ausweglosen Negativität bahnte sich jedoch der Ausgleich an. An die Stelle der grossen Affekte trat die kritische Analyse der neuen Situation und der Vergangenheit. Es entstand eine Reihe von psychologischen Filmen. Vor allem der Regisseur Jerzy Kawalerowicz ist ihr Hauptvertreter. In einem Interview sagte er: "Wir benennen alle Wünsche und Gefühle allzuschnell mit Namen. Wir nennen Hass Hass und Liebe Liebe. Aber die Wirklichkeit ist viel komplizierter." Auch Andrzej Munk erhob die Ambivalenz der polnischen Situation zwischen Hoffnung und Desillusionierung in seinem Film "Eroica" ausdrücklich zum Thema der Handlung. Wo man im ersten Anlauf seine Wünsche und Ängste nur bekenntnishaft aus dem Inneren hinausprojiziert und die Welt zu ihrem Spiegelbild gemacht hatte, begann nun die Differenzierung und die objektive Beobachtung. "Eroica" - das klingt nach Heldenlied und Pathos. Aber Munk verstand den Titel ironisch. Er nahm - wie Wajda - den Warschauer Aufstand zum Anlass, um kontrapunktisch zwei Geschichten gegeneinander zu stellen. Die erste handelt von einem Schwarzhändler, der unfreiwillig in den Aufstand verwickelt wird, eine durchaus komische Figur, ganz und gar kein Partisan, wie er im patriotischen Lesebuch steht, sondern ein kleiner Mann, der seine Heldenrolle wider Willen übernimmt und nicht das geringste Pathos in ihr zu finden vermag. Wahrscheinlich wird er zu seinen Schwarzmarktgeschäften zurückkehren, wenn der Krieg vorbei ist. Dagegengestellt die zweite Episode: kriegsgefangene polnische Offiziere des Jahres 1939 in einem deutschen Lager. Eine Atmosphäre voll falscher Ehrbegriffe, eine Brutstätte für nationale Illusionen, die längst keine Wirklichkeit mehr repräsentieren. Sie werden am Ende lächerlich gemacht, ohne es zu bemerken. Nur der Zuschauer weiss, dass die grossen Worte der Gefangenen - die eigentlich nicht Gefangene der Deutschen, sondern ihrer selbst sind - nur noch für die Groteske taugen. Falsche Fronten, irregeleitete Einsatzbereitschaft, ein Denken in Kategorien, die einem aufgezwungen sind, aber der wirklichen Lage nicht gerecht werden - das ist auch der Inhalt von Wajdas Meisterwerk "Asche und Diamant". Ein Film, der die geistige Verwirrung bei Kriegsende schildert. Wajda ist weit davon entfernt, am Waffenstillstandstag zu frohlocken und eine neue, bessere Zukunft heraufziehen zu sehen. Im Gegenteil, seine Hauptfigur, ein junger Partisan, steht nun, da das Kriegshandwerk überflüssig geworden ist, hilflos vor der neuen Situation. Er verübt ein sinnloses Attentat auf einen zurückgekehrten Kommunisten und endet, angeschossen von der Miliz, auf einem Schuttabladeplatz, während die neuen Herren zusammen mit den übriggebliebenen der Vorkriegsgesellschaft die Siegespolonaise tanzen, die Wajda freilich eher als ein Gespensterreigen erscheint.

Für viele mag damals die Verlockung gross gewesen sein, sich opportunistisch der neuen Zeit anzupassen. Sie verfallen im polnischen Film natürlich erst recht der Satire. Munks letzter Film "Schielendes Glück" hält ihnen den Spiegel vor. Er verfolgt den Weg eines Mitläufers, der sich allen politischen Wechselfällen anzubiedern versucht und am Ende doch jedesmal auf die Nase fällt. Polens Situation, sagt dieser Film, ist nicht so beschaffen, dass man sich aus ihr herausmogeln kann. Die Spannung muss ausgehalten werden. Sie ist nicht auflösbar. Nur wenn man sich zu ihr bekennt, macht man sie vielleicht fruchtbar. Dies ist eine Filmkunst jenseits von Pessimismus und Optimismus, jenseits von ästhetischen Spielereien und blosser Unterhaltung.

Nun sollte man freilich nicht glauben, dass die Blüte des Films in Polen voraussetzungslos entstanden sei. Sie bedurfte nicht nur der spannungsreichen Lage des Landes zwischen den ideologischen Fronten, sondern auch konkreter organisatorischer und handwerklicher Vorbereitung. Die Spielfilmherstellung ist heute in Polen auf acht Produktionsgruppen verteilt, in denen die Regisseure und Drehbuchautoren, also die künstlerischen Kräfte, den Ton angeben. Da der Staat das Geld zur Verfügung stellt und die Filme nicht unter kommerziellen Aspekten produziert werden müssen, brauchen sie auch keine Zugeständnisse an das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums zu machen. Dieses wird weitgehend durch Importe befriedigt. Die Produktionsgruppen sind in erster Linie Zusammenschlüsse von Künstlern mit gemeinsamen ästhetischen und kulturpolitischen Zielen, es sind Werkstattgemeinschaften, keine Produktionsfirmen. Vor allem aber darf man die Bedeutung nicht übersehen, die die Filmhochschule in Lodz für die Heranbildung der heutigen Generation von Regisseuren, Autoren und Kameraleuten besitzt. Munk und Wajda und Kawalerowicz und beinahe alle Kurzfilmregisseure, die auf den internationalen Festivals die Preise einheimsen, sind aus ihr hervorgegangen. Die Schule existiert seit 1947. Sie hat heute etwa 200 Studenten, die in fünf Fächern Filmregie, Kameraarbeit, Produktion, Filmkritik und -theorie und Schauspiel studieren. Für die theoretische und die praktische Anleitung stehen 70 Professoren und Assistenten zur Verfügung. Man beschäftigt sich selbstverständlich nicht nur mit Film, sondern ebenso mit Fernsehen und Theater und produziert etwa 50 Kurzfilme jährlich in eigener Verantwortung, teils Seminar- und Diplomarbeiten, teils völlig selbständige Werke einzelner Studenten. Eine so systematische Ausbildung aller in Polen am Film interessierten Nachwuchskräfte kann natürlich auf das kulturelle Klima des Landes nicht ohne Wirkung bleiben. Film wird dadurch in weit höherem Masse als bei uns zu einer öffentlichen, die Intellektuellen intensiv beschäftigenden Angelegenheit. Man verbannt ihn nicht in die Bezirke blosser Unterhaltung und wundert sich, wenn gelegentlich ein Kunstwerk darin auftaucht, sondern nimmt ihn ernst als das interessanteste Ausdrucksmedium dieses Jahrhunderts. Nur deshalb konnte der Film als Instrument der Selbstinterpretation des polnischen Geistes brauchbar werden. Wenn wir uns entschliessen könnten, diesem Tatbestand grössere Aufmerksamkeit zu widmen, als das bisher der Fall ist, würden wir nicht nur verstehen lernen, dass Warschau eine Stadt ist, die mitten in Europa liegt und nicht hinter einem undurchlässigen Eisernen Vorhang, wie wir aus Bequemlichkeit gerne annehmen, wir würden auch die Bedeutung des Films für unsere eigene Bewusstseinsbildung besser einschätzen können.
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Jerzy Toeplitz: Wochenschau und Kurzfilm als politische Bildungsmittel

Aus einem Referat, das Professor Jerzy Toeplitz, Rektor der polnischen Filmhochschule in Lodz, auf den VI. Westdeutschen Kurzfilmtagen zum Thema "Der Film als politisches Bildungsmittel" hielt. Wir danken der Leitung der Westdeutschen Kurzfilmtage, Oberhausen, für die Abdruckerlaubnis (d. R.).

Gestatten Sie mir bitte, dass ich gleich am Anfang meines Vortrages einige alte Binsenwahrheiten anführe. Ich erachte das wegen der Übersichtlichkeit meiner Vorlesung als notwendig, und nur deshalb erlaube ich mir, hier über ganz offensichtliche Dinge zu sprechen. Es ist undenkbar beim Film, wie auch bei anderen Gebieten der Schauspielkunst, ich meine hierbei an erster Stelle das Theater, den Abnehmer aus den Augen zu lassen. Man kann für sich selbst Bücher schreiben, für sich selbst malen oder komponieren. Einen Film aber macht man für die Zuschauer, und es ist ein Traumbild der Schöpfer, ihrer nicht Hunderte oder Tausende, sondern Millionen zu haben. Aus dieser "differentio specifica" des Films ergeben sich im Vergleich mit anderen Künsten bedeutsame gesellschaftliche und politische Konsequenzen. Eine Kunst, die Millionen anspricht, wird sozusagen automatisch zum Gegenstand des Interesses dieser Institutionen, die den Anspruch erheben, für diese Millionen Sorge zu tragen, also in erster Linie des Staates.

Dieses Interesse kann verschiedene Formen annehmen und von verschiedener Intensität sein, es besteht nicht erst ab heute, es bestand fast seit Anfang der Kinematographie. Noch vor 1914, zu einem Zeitpunkt also, als das Kino als Schaubudenunterhaltung angesehen wurde und die gehobenen Klassen nicht bemerkten oder, besser gesagt, vorgaben, die neue Form der Unterhaltung nicht zu bemerken, schon damals wussten schlaue Unternehmer den politischen Einfluss des Films auf die Zuschauer zugunsten ihrer eigenen Interessen auszunutzen. Im Jahre 1904 - berichtet Georges Sadoul - versah die französische Firma Pathé in ihrem Atelier rekonstruierte Filmchroniken aus dem japanisch-russischen Krieg mit einer sechssprachigen Endaufschrift "Vive le Japon" oder "Vive la Russie" zur Auswahl, gemäss der politischen Einstellung des Kunden.

Es ist kennzeichnend, dass bis 1914 nicht die Staatsmacht, sondern Filmindustrielle, politische Parteien oder Gruppen versuchten, den Film zu politischen Zwecken auszunutzen.

Insbesondere im Deutschen Reich legte die Sozialdemokratie grosse Aktivität an den Tag, indem sie ein eigenes Netz von Lichtspieltheatern organisierte und die Herstellung von Propagandafilmen inspirierte. In einem Zeitabschnitt, da die Wochenschauen erst an Popularität gewannen, besassen die Sozialdemokraten schon ihre eigene "Die Rote Wochenschau". In Frankreich können wir zur selben Zeit Filmversuche syndikalistischer Gruppen, die sich um die von Sebastian Faure, Jean Grave und Marcel Martinet herausgegebenen Schrift "La Bataille Syndicaliste" scharten, verzeichnen.

Der Ausbruch des ersten Weltkrieges führte zu einer grundlegenden Veränderung der Lage und bewirkte eine direkte Einmischung staatlicher Behörden in Angelegenheiten der Kinematographie. Nachdem der erste Schritt getan war, gab es kein Zurück. Die Zeiten des liberalen "Desinteressement" Fragen des Films gegenüber gehörten endgültig der Vergangenheit an. Der Staat übernahm die Bewachung, die Aufsicht, die Kontrolle, manchmal auch die Betreuung, ja sogar das Mäzenatentum über den Film. In allen Ländern bürgerte sich das Recht der Zensur ein. Es erschienen Vorschriften über die Ein- und Ausfuhr von Filmen, Kontingentgesetze und Gesetze, die der inländischen Produktion gewisse Vorzüge einräumten. Auf breiter Front schritt der Staat in das Leben des Films ein.

Ein weiterer Schritt, der von entscheidender Bedeutung für die neuen Entwicklungsperspektiven der Kinematographie war, war das Dekret von Lenin vom 27. Juli 1919 über die Nationalisierung der Filmindustrie. Die Bedeutung dieses Dekrets beruhte meines Erachtens nicht so sehr auf dem wirtschaftlichen Umschwung durch die Übernahme eines neuen Industriezweiges durch den Staat, als auf dem Rang, welcher der Kinematographie zuerkannt wurde, indem sie dem Kommissariat für das Bildungswesen untergeordnet wurde. Damit wurde der Film in seinen Rechten dem Buch, der Theatervorstellung, dem Gemälde, dem Musikwerk gleichgestellt, er wurde - wie auch andere Kunstwerke - zu einem Instrument der Verbreitung der Kultur, der Umgestaltung der Psyche des Menschen, zu einem bedeutsamen Faktor, der beim Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung mithalf. Das war der tiefe Sinn des Leninschen Dekrets, der Sinn, der die Tatsache der Nationalisierung der Filmindustrie selbst weit übertraf, und der zweifellos auch einen Einfluss auf die Einstellung zum Kino in kapitalistischen Ländern ausübte.

Der erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution stellten einen grundlegenden Wendepunkt dar. In den zwanziger Jahren nimmt der Staat schon als bewusster Partner an der Gestaltung und Entwicklung der Kinematographie teil. Nichts geht ohne den Staat vor sich. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass der Staat dem Wirken der Industriellen und Künstler keinen selbständigen Spielraum liess. Das hängt natürlich vom historischen Zeitpunkt, von der Gesellschaftsordnung im gegebenen Land, von der Entwicklung und Macht, die die Kinematographie darstellte, ab. Selbst in den USA, dem klassischen Land des wirtschaftlichen Liberalismus, verzichtet der Staat nicht auf seinen Einfluss auf den Film. Davon zeugt sowohl die Aktion des Staatsdepartments vom Jahre 1920, die Hollywood zum Kampf gegen die "rote Gefahr" mobilisierte, wie auch die Tatsache, dass der Filmindustrie der bekannte Politiker Will Hays zugeteilt wurde. Der "Filmzar", wie man ihn nannte, dessen Aufgabe es war, die Filmgesellschaften anzuleiten und dafür Sorge zu tragen, dass die Filme moralisch und bürgerlich einwandfrei waren.

Wenn wir nun die Frage stellen, warum der Staat so an Fragen des Films interessiert ist und sich sogar auf mehr oder weniger diskrete Weise in die Kinematographie einmischt, so bleibt die Antwort darauf eindeutig und klar. Der Staat ist sich dessen bewusst, dass der Film den Zuschauer anspricht, auf seine Anschauungen einwirkt, auf seine Mentalität und sein Einschätzungsvermögen, und dass er daher dem Staat bei seiner Tätigkeit behilflich sein oder ihn stören kann. Es ist klar, dass kein Staat und keine ihn vertretende Regierung eine seinen Zielen deutlich widerstrebende Tätigkeit auf längere Frist duldet. Im Gegenteil, der Staat wird immer anstreben, dass ihm der Film bei der Verwirklichung seiner Politik behilflich ist. Mit anderen Worten - der Film ist und wird für den Staat immer ein Instrument des politischen Einflusses sein oder - noch krasser ausgedrückt - ein Instrument der politischen Erziehung.

Gehen wir nun von den allgemeinen Prinzipien zu einer eingehenderen Analyse der Methoden über, die der Staat anwendet, um den Film als Mittel des politischen Einflusses auszunutzen. Es gibt hier zwei Seiten, die gegenseitig voneinander abhängig sind und auf sich einwirken, aber zugleich auch wegen ihrer Verschiedenheit gesondert erörtert werden müssen. Ich denke dabei einerseits an die Herstellung der Filme und andererseits an das Repertoire der Lichtspieltheater, die Filme, die vorgeführt werden. Wenn es sich um die Herstellung von Filmen handelt, ist der Staat bestrebt, einen Einfluss auf den Charakter und die potentielle politische Kraft zu gewinnen. Der Staat ist der Mäzen, der verschiedene Mittel anwendet, um zu dem gewünschten Ziel zu gelangen. Diese Mittel können folgende Formen annehmen und nehmen sie auch meistens an: Staatspreise für die Produzenten und Filmschaffenden, Finanzierung oder Zuschüsse/Bankkredite, die französischen "primes de qualité" usw., Exporterleichterungen usw. Im Hinblick auf den Spielplan wendet der Staat folgende Instrumente an: im negativen Sinn, um Schädliches auszusondern - die Zensur, im positiven - Steuerermässigungen, besondere Qualitäten, die eine leichtere und umfangreichere Verbreitung ermöglichen, usw.

Es ist wohl kaum zu bestreiten, dass auf dem von mir dargestellten Bereich der Staat überall tätig ist, in allen Ländern der Welt, ohne Unterschied des politischen Systems' und der politischen Ziele, die er sich stellt. Natürlich gibt es hinsichtlich der Intensität dieser Tätigkeit und der angewandten Methoden Differenzen. Der Staat greift ein direkt oder indirekt, manchmal konzentriert er seine Aufmerksamkeit auf Fragen der Verbreitung, manchmal auf die Produktion. Es scheint, oder besser gesagt, es kann den Schein erwecken, dass in gewissen Fällen wirtschaftliche Gesichtspunkte in den Vordergrund treten und die rein politischen Ziele verdrängen. Aber das ist, wie gesagt, nur der Schein, die Wirtschaftspolitik eines Staates ist nur ein Teil seiner gesamten Politik und ihr letzten Endes untergeordnet. Ich habe schon erwähnt, dass politische Ziele verschieden sein können und es in der Praxis auch sind. Jeder Staat formuliert sie auf Grund seiner Gesellschaftsordnung und seiner geschichtlichen Vergangenheit anders und benötigt auch eine andere Art der Hilfe vom Film. Es ist nicht meine Absicht, in diesem Vortrag verschiedene politische Konzeptionen, die in den erstbesten Ländern der Einstellung dem Film gegenüber zugrunde liegen, zu erörtern oder sie sogar zu kritisieren. Ich fühle mich dazu weder berufen noch zuständig. Ich möchte im weiteren Teil meines Vortrages den polnischen Gesichtspunkt darstellen, den Gesichtspunkt der Volksrepublik Polen, eines Landes, das den Sozialismus aufbaut. Die Staatsmacht in Polen bekennt sich offen dazu, dass der Film für sie ein gewichtiges Mittel des politischen Einflusses und zur Erziehung der Bevölkerung ist. Ich bin mir dessen bewusst, dass unsere Konzeptionen und Erfahrungen auf diesem Gebiet nicht den Anspruch erheben können, in anderen gesellschaftlichen, historischen oder geographischen Bedingungen angewandt zu werden.

Ich möchte mit Fragen des Filmschaffens beginnen. In meinen Erwägungen muss ich verschiedene Arten der Filme berücksichtigen, da die politische Rolle des Films in Abhängigkeit von seiner Art gestaltet wird. Den stärksten politischen Inhalt hat zweifellos die Wochenschau, die in Polen richtig als verbreitetste und meistgelesene, d. h. von Millionen Zuschauern gesehene Schrift gilt. Sowohl wenn es sich um die Auswahl der Themen der Wochenschau, wie auch um ihre redaktionelle Bearbeitung handelt, entscheiden Kriterien der politischen Nutzbarkeit. Wenn man die Wochenschau mit einer Zeitschrift vergleicht, muss man zur Feststellung gelangen, dass die Polnische Wochenschau kein Sensationsblatt ist, das den Zuschauer durch seine Attraktivität und die Bizarrerie seiner Nachrichten in Erstaunen setzen will. Es ist dies eine politisch ausgeprägte Zeitschrift, die den Ehrgeiz hat, die öffentliche Meinung in einer festgelegten Richtung zu beeinflussen.

Hier gleich ein Einwand. Eine politische Zeitschrift mit erzieherischem Ehrgeiz ist nicht gleichbedeutend mit einer langweiligen Zeitschrift. Mit anderen Worten, die graphische Ausgestaltung und die Art, in der die Berichte gehalten sind, müssen interessant sein. Eine Zeitschrift darf sich nicht nur aus Leitartikeln und Berichten zusammensetzen, sie muss auch polemische Artikel, Feuilletons, Humor und Satire beinhalten. Die Polnische Wochenschau ist bestrebt, bei der Zusammenstellung der Themen gerade die Elemente zu berücksichtigen, die die Ausgabe attraktiv und überraschend machen. Es ist immer wichtig, den Zuschauer zu überraschen, ihm etwas zu zeigen, was er nicht erwartet hat. Hierbei kann die geschickte Auswahl der Austauschthemen aus ausländischen Wochenschauen gute Dienste leisten, obwohl die inländischen Angelegenheiten die wichtigsten sind. Polnische Zuschauer hatten oftmals die Gelegenheit, auf der Leinwand ihnen völlig unbekannte, in gewissem Sinne sogar exotische Ereignisse und Erscheinungen zu betrachten, die in Polen aufgenommen wurden. Die Attraktivität und zugleich die politische Wirkungskraft hängt ausser der Auswahl der Themen noch von der Art ab, wie sie dem Zuschauer "verabreicht" werden, also: Aufnahme, Montage und Kommentar. Ein charakteristischer Zug der Polnischen Wochenschau, der ihr zu ihrer Popularität verhalf, ist der polemische, oft kritische und in der Regel interventive Schwung. Die Wochenschau signalisiert Mängel, Lächerlichkeiten, Verspätungen in unserer Entwicklung, sie führt z. B. einen ständigen Kampf gegen die Geschmacklosigkeit verschiedener Gebrauchsgegenstände - Postkarten mit Geburtstagswünschen, Möbel, Inneneinrichtungen und Kinderspielzeug. Die Wochenschauen weisen auf technische Unzulänglichkeiten hin, auf die Vergeudung der Arbeitskraft, auf die Notwendigkeit des technischen Fortschritts und einer besseren Arbeitsorganisation. Aus Anlass des 15. Jahrestages der Wochenschau wurde anstatt einer feierlichen Jubiläumsausgabe eine satirische zusammengestellt, in der alle schwachen und abgeklapperten Tricks, die bisher von den Kameramännern, Redakteuren und Kommentatoren angewandt und missbraucht worden waren, verspottet wurden. Diese Wochenschau war in einem ausgesprochen boshaften und bärbeissigen Ton gehalten, trug aber zweifellos - nachdem sie in allen Kinos gespielt wurde - zu einer weiteren Hebung ihrer Autorität und Popularität bei. Es ist eine grosse Kunst, die eigenen Mängel und Schwächen auszulachen, eine Kunst, fügen wir hinzu, die einem Freunde schafft.

Mit der Wochenschau ist der Dokumentarfilm eng verwandt. Nicht nur durch die artverwandte Technik, sondern auch durch den gemeinsamen schöpferischen Kader und die organisatorischen Bande. Die Polnische Wochenschau und die Dokumentarfilme werden von derselben Gesellschaft hergestellt. Der Dokumentarfilm stützt sich auf der ganzen | Welt auf zwei klar abgezeichnete Muster: das frühere - sowjetische, und das spätere - britische. In beiden Fällen wurde der Dokumentarfilm als Instrument zum politischen Einwirken betrachtet, als Instrument der staatsbürgerlichen Bildung der breitesten Zuschauermassen. Gestatten Sie mir bitte, an eine Formulierung eines der Schöpfer der britischen Dokumentarfilmschule, Sir Stephen Tallents, des Generalsekretärs des Empire Marketing Board, zu erinnern. In der 1932 verfassten Broschüre "The Projection of England" ruft Sir Stephan Tallents dazu auf, eine breitangelegte Propagandakampagne zu starten, um dem In- und Ausland vor Augen zu führen, was England ist, welche ethischen, kulturellen und wirtschaftlichen Werte es besitzt, was die britische Völkergemeinschaft ist, ein freier Bund von Ländern, die einst mit dem Schwert erobert - heute in Zusammenarbeit und Freundschaft geeint sind. Was für ein Instrument würde sich besser für eine solche Kampagne eignen als der Film? Sir Stephen Tallents fand in John Grierson den Mann, der die Ideen und Träume in konkrete Wirklichkeit umgestalten konnte. Grierson übernahm die Aufgabe, auf der Leinwand "das lebendige Britische Imperium, das alltägliche Schaffen und Walten seiner Staatsbürger" zu zeigen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass für die Entwicklung des polnischen Dokumentarfilms vor 1939 und nach 1945 die Konzeptionen des politischen Films, gemäss den sowjetischen Mustern solcher Filmschaffender wie Dziga Wertow, Roman Karmen und Estera Szub, und der britischen Schule von Grierson, Wright, Anstey und Elton richtungsweisend waren.

Nicht immer wurden diese theoretischen Ausgangspunkte in der Praxis entsprechend durchgeführt. Anfangs der fünfziger Jahre verlor der Dokumentarfilm seine publizistische Schärfe, wurde übertrieben bejahend, und der polnischen Wirklichkeit gegenüber sogar apologetisch. Der Kommen-Star, seiner polemischen Akzentuationen entzogen, war meistens eine tautologische Wiederholung dessen, was über die Leinwand lief. Die Krise des polnischen Dokumentarfilms wurde erst nach 1956, dank der Erscheinung der sogenannten "schwarzen Serie" überwunden. Diese Filme, meistens von jungen Menschen geschaffen, waren den Schwierigkeiten und negativen Erscheinungen des Lebens in Volkspolen gewidmet. Mit entbrannter Leidenschaft wurden bisher totgeschwiegene Erscheinungen im Dokumentarfilm ans Tageslicht gebracht, die Halbstarkenjugend, tragische Wohnbedingungen in noch vielen Wohnbezirken von Warschau, das Schicksal von Kleinstädten, die Trunksucht, Prostitution usw. Diese Filme waren von aufrichtiger Sorge durchdrungen, sie forderten eine Aktion, die die Verbesserung der Verhältnisse zum Ziel hatten; oft waren sie ein Alarmsignal. Zweifellos gab es auch hie und da den Hang, alles mit schwarzer Farbe zu malen, eine gewöhnliche und normale psychologische Reaktion, nach einer Periode der manchmal erzwungenen Lobhymnen mit der Kritik zu übertreiben. Aber die "schwarze Serie", die heute schon der Vergangenheit angehört, erfüllte ihre Aufgabe, sie gab dem Dokumentarfilm seinen kämpferischen Charakter wieder. Heute sind die Filmschaffenden bemüht, Erscheinungen auf ausgeglichenere Weise einzuschätzen, ohne in eine oder die andere Richtung zu übertreiben, sie huldigen weder dem rosigen Optimismus noch dem schwarzen Pessimismus.

Ich möchte betonen, dass der publizistische Dokumentarfilm, der ohne Zweifel die grundlegende, wichtigste Form der Produktion von Dokumentarfilmen darstellt, nicht das einzige Modell dieser Filmart ist. Es gibt Dokumentarfilme, die berichterstattenden Reportagen, und andere, die im Stil dichterischer Impressionen gehalten sind. Es ist klar, dass nicht jeder von ihnen politischen Inhalt haben, Sprecher einer bestimmten gesellschaftlichen Aktion oder ein Aufruf zur Tat sein muss.

Der Lehrfilm entbehrt schon auf Grund seiner Eigenschaft polemischer und publizistischer Akzentuation. Er ist weder Manifest noch flammender Aufruf, er ist ein Vortrag und hat zur Aufgabe, das Wissen des Zuschauers zu bereichern, ihn etwas zu lehren, über etwas Wesentliches zu informieren, Er ist ein Lehrbehelf, eine Ausdehnung der Schule in den Vorführraum. Ist er folgedessen, und wenn ja, dann in welchem Grade, ein Instrument zur politischen Beeinflussung der Zuschauer? Ich glaube, man sollte hier nicht über Politik, sondern eher über die philosophischen Konzeptionen, die ihr zugrunde liegen, sprechen. Der Lehrfilm gewöhnt in den polnischen Bedingungen an das Denken in Kategorien der materialistischen Philosophie - und das ist seine grundlegende Aufgabe. Natürlich muss er, um den Charakter eines Lehrbehelfs beizubehalten, zwei Gefahren vermeiden: den Dogmatismus und die Vulgarisierung. Nicht immer gelang das in der Vergangenheit, und nicht immer gelingt das auch heute, obwohl es natürlich schwerfällt, hier etwas zu generalisieren. Das Niveau der polnischen Lehrfilme ist nicht ausgeglichen, auf gewissen Gebieten - Biologie, Ichthyologie, Ornithologie - können wir bedeutsame wissenschaftliche und filmische Erfolge verzeichnen, auf anderen sind die Resultate schlechter.

Und nun die letzte Form des Kurzfilms: Zeichentrick- und Puppenfilme. Es sind dies ihrem Charakter nach Unterhaltungsfilme ohne politische Zielsetzung. Ihre einzige Aufgabe ist es, dem Zuschauer einen angenehmen Zeitvertreib zu bieten. Es gibt natürlich auch bei dieser Form Ausnahmen - zu ihnen gehört der polnische Zeichentrickfilm "Achtung" über die Gefahr der Atombombe. Natürlich gibt es nur wenig ernsthafte Zeichenfilme, ich möchte sagen, dass es sich hier um eine "Randproduktion" handelt.

Diese Filme sind im wesentlichen wirtschaftlich unrentabel, meistens müssen sie finanziert werden. So ist das wenigstens in Polen, wo wir nur einen verhältnismässig kleinen Filmmarkt haben. Wenn der Staat zur Produktion von Kurzfilmen anregt, dann tut er es, weil er sich des gesellschaftlichen Nutzens bewusst ist - deshalb trägt er auch die finanzielle Last. Mit Ausnahme von Trickfilmen sind das Bereiche der Filmproduktion, die eng mit der Verbreitung politischer Konzeptionen der Staatsmacht verbunden sind und ihre Hilfe bei der Verwirklichung ihrer politischen Aufgaben leisten.
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Umstrittene FSK

Jene Institution, die im Jahre 1949 auf Wunsch der Militärregierungen unter Verzicht auf das von ihnen bisher geübte Zensurrecht und im Einvernehmen mit den zuständigen Kultusministern der Länder ins Leben gerufen wurde, die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) also, sieht sich nach zwölfjähriger Tätigkeit immer heftigeren Angriffen ausgesetzt. Nicht nur, dass die Presse mit Recht einzelne Entscheidungen der FSK mehr oder weniger heftig kritisiert, dass Mitglieder des Bayerischen Landtages nach einer staatlichen bayerischen Filmzensur rufen und der Bundestag mit dem von allen Parteien beschlossenen "Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote" der FSK sein Misstrauen ausspricht, sondern es wird auch die Tätigkeit der FSK als unvereinbar mit dem Zensurverbot des Grundgesetzes (Art. 5, I, 3) als verfassungswidrig angesehen.

Anlass zu der Kritik der Presse gaben Vorgänge um die Filme "Rom, offene Stadt" (Rosselini), der zuerst wegen möglicher "völkerverhetzender Wirkungen" von der FSK 1950 nicht freigegeben wurde und erst ein Jahrzehnt später mit entsprechendem beschwichtigendem Vorspann ("Der Film richtet sich nicht gegen das deutsche Volk _...") in unseren Kinos anlaufen konnte und die Auflage der FSK zu Kogons Dokumentarfilm "Die Diktatoren", eine Sequenz herauszuschneiden, in der Franco nachteilig dargestellt wird (Die Welt, Nr. 75, 1961 und Filmkritik 5/61).

Nur präzise Anweisungen des kulturpolitischen Ausschusses des Bayerischen Landtages an die betreffenden Ministerien, die die Bewertungsmassstäbe der FSK für die Freigabe eines Films verbessern sollen, haben uns vor einer staatlichen, bayerischen Filmzensur behütet. "Aus Kreisen der Christlich-Sozialen-Union war zu hören, hier lasse man noch einmal Gnade vor Recht ergehen" (FAZ Nr. 63/1961).

Schliesslich hielt der Bundestag mit dem erwähnten Gesetz die Grundsätze der FSK (A, 1, b, d) und die bisher nicht allzu zimperlichen Entscheidungen der FSK für nicht ausreichend, indem er ein Bundesamt mit der Überwachung des Verbotes, Filme ins Land zu "verbringen", die "nach ihrem Inhalt dazu geeignet sind, als Propagandamittel gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung zu wirken", betraute (Filmkritik Nr. 3/61).

Den schärfsten Angriff jedoch führte Dr. Johanne Noltenius in ihrer Veröffentlichung "Die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und das Zensurverbot des Grundgesetzes" (Verlag Otto Schwartz, Göttingen, 154 S., 1958).

Noltenius schildert ausführlich die Entwicklung der deutschen Theater- und Filmzensur, deren Rechtsgrundlagen und Massstäbe durchaus nicht nur für den Juristen interessant sind: die Zensur als wohlfahrtspolizeiliche Massnahme, als sicherheitspolizeiliche Massnahme und wie durch wagemutige Konstruktionen, etwa als "notwendige Massnahme" im Sinne des Polizeirechts, als Wirkungszensur, die Zensurausübung legitim gemacht wurde. An das Ende der Untersuchungen setzt Noltenius jeweils die entsprechenden Bestimmungen der FSK. Und kommt schliesslich zu dem Ergebnis, dass die Tätigkeit der FSK gegen das Verbot des Art. 5, I, 3 Grundgesetz (Zensurverbot) verstosse.

Dieses Ergebnis stützt Noltenius auf folgende Argumentation, wobei der Film unter dem Gesichtspunkt der Meinungsäusserung und unter dem des Kunstwerks bedauerlicherweise nur am Rande untersucht wird: Als Ausgangspunkt wählt Noltenius die Frage, ob das Zensurverbot sich gegen die staatliche Zensur oder auch gegen "formell privatrechtliche Zensurinstanzen" richte, und führt aus, dass das Grundrecht der freien Meinungsäusserung trotz der individualistischen Formulierung nicht nur ein individualistisches sei, denn es schütze nicht nur die Äusserung einer Meinung, sondern auch den Empfang der Äusserung, mit anderen Worten, dieses Grundrecht schütze den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung als konstitutives Element einer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Der Schutz der freien Meinungsäusserung bedeute also mehr als ein Individualrecht, nämlich Schutz des Kommunikationsprozesses, der zur Bildung der öffentlichen Meinung führe. Dieser Prozess der öffentlichen Meinungsbildung werde aber durch die individuelle Einschränkung des Grundrechts der freien Meinungsäusserung gefährdet, da ihm ein möglicher Beitrag zur Meinungsbildung entzogen würde und damit die Beteiligung anderer beeinträchtige. Dies aber geschehe durch die Tätigkeit der FSK, die auch alle Merkmale einer formellen Zensur trage: Verbot der Veröffentlichung ungeprüfter Filme, Gebot der Vorlage zur Prüfung, Erlaubnis zur Veröffentlichung bzw. Verweigerung der Erlaubnis, zwangsweise Durchsetzung der Verbote und Gebote, wenn auch die Zwangsgewalt privatrechtlicher Natur sei.

Wenn also das Grundgesetz nicht nur das individuelle Recht der freien Meinungsäusserung, sondern auch den Kommunikationsprozess zur Bildung der öffentlichen Meinung schütze, sei nicht nur der Staat, sondern auch die FSK Adressat des grundgesetzlichen Zensurverbots.

Gegen diese Auffassung hat sich in scharfer Form v. Hartlieb in seinem Referat "Die rechtliche, insbesondere verfassungsrechtliche Seite der Selbstkontrolle" gewandt (veröffentlicht in: Selbstkontrolle von Presse, Funk und Film, Schriftenreihe der Deutschen Studiengesellschaft für Publizistik, C. H. Beck Verlag, München und Berlin, 1960, die weitere instruktive und lesenswerte Beiträge zum Thema Selbstkontrolle, u. a. Organisation der Selbstkontrolle, Zensur und Selbstkontrolle in den USA, enthält), und zwar mit zwei Argumenten: Grundsatz der Freiwilligkeit der FSK und, dass es "Aufgabe der FSK sei, die verfassungsmässigen Schranken des Grundrechts der Filmfreiheit bei Kollision mit anderen höherwertigen Grundrechten (einschliesslich Sittengesetz und Verfassungsordnung) festzulegen. Eine Institution, die sich geradezu als ein Hüter der Verfassung auf dem Filmgebiet legitimiere, könne aber nicht grundgesetzliche Vorschriften verletzen". In der Hauptsache wird dabei nur übersehen, dass die FSK sich weder zum Hüter der Verfassung aufschwingen wollte (vgl. Grundsätze der FSK: "_... werden eine verschiedenartige Gestaltung der Kontrolle im Bundesgebiet und eine unvertretbare Belastung der Filmwirtschaft vermieden."), noch dies überhaupt konnte, da die Festlegung "der verfassungsmässigen Schranken des Grundrechts" im Rechtsstaat auf keinen Fall einem wie auch immer gearteten privatrechtlichen Verein zustehen kann, in jedem Fall aber einzig und allein den dazu verfassungsmässig berufenen Instanzen, d. h. den Gerichten, zukommt. Dieses Argument vermag also nicht die Tätigkeit der FSK zu stützen.

Bleibt die Frage nach der Freiwilligkeit, die wiederum davon abhängig ist, wie das Grundrecht der freien Meinungsäusserung zu interpretieren ist. Selbst mit der Unterstellung, dass die Nolteniussche Interpretation des Grundrechts zutrifft und auch die FSK Adressat des Zensurverbots ist, wird man Noltenius nicht folgen können. Jeder muss das Recht haben, seinem Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung die Form geben zu dürfen, die er oder ein von ihm vertraglich dazu bestellter Dritter für richtig befindet. Dies sieht jedoch auch Noltenius, nur zweifelt sie die Freiwilligkeit dieser Entscheidung an. Feststeht, und darauf hat mit Recht v. Hartlieb hingewiesen, dass die Gründung der FSK eine freiwillige war (daran ändern auch die Motive nichts), und dass die FSK bisher freiwillig weiterbestanden hat. Bedenklich, aber auch nur bedenklich, sind die Zwangsmassnahmen, die die FSK auszuüben in der Lage ist; sachlich formuliert: die von der Rechtsordnung anerkannte Ordnungsstrafe aus Vereinsgewalt, und polemisch formuliert: die im artigen Kleide dieser Ordnungsstrafe drohende Möglichkeit eines Ausschlusses, die für den aus der Reihe Tanzenden den wirtschaftlichen Ruin bedeuten würde. Diese Möglichkeit macht die FSK bedenklich, aber noch nicht mit dem Zensurverbot des Grundgesetzes unvereinbar. Jene FSK, die für sich ja auch das Grundrecht der Vereinsfreiheit (Art. 9) in Anspruch nehmen kann, solange sie nicht gegen die Verbotsgründe des Art. 9, II verstösst. Die Grundsätze der FSK sind aber gerade auf die Einhaltung der Anforderungen des Art 9, II gerichtet. Und erträglicher als eine staatliche bayerische Filmzensur - siehe Grundgesetz - und ein "Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote" - siehe Grundgesetz - ist die FSK allemal. Zu hoffen ist nur, dass zum einen die Presse die Tätigkeit der FSK weiterhin scharf überwacht und zum anderen, dass die FSK nicht nur die Grundrechte der Mitglieder, sondern auch ihre politische Beurteilungsfähigkeit dieser ihrer weisen Beschränkung unterzieht.       F. W. Vöbel
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Literaturbesprechungen

Paul Bode KINOS - Verlag Georg D. W. Callwey,

Das Buch dieses renommierten deutschen Architekten gibt in ansprechender Aufmachung einen gründlichen Überblick der Gesichtspunkte, die man beim Bau eines modernen Kinos berücksichtigen sollte. Angefangen bei den Wirtschaftlichkeitsberechnungen und der Errechnung der notwendigen Platzzahl, über die Entwurfslehre bis in die kleinsten Details in der Ausführung von Verkaufsständen, Garderoben und anderen Nebenräumen gibt es all denen wertvolle Ratschläge, die sich mit dem Neu- oder Umbau eines Kinos befassen. Erfreulicherweise verzichtet Bode auf eine übermässig starke Behandlung der Besonderheiten von Breitwandverfahren und Stereoton, wie man es in der letzten Zeit in der Fachliteratur gewöhnt ist. Der sehr umfangreiche Bildteil bietet wahre Leckerbissen an modernen Kinobauten. Kopfschüttelnd fragt man sich: Warum ist dieses oder jenes Kino nicht auch so sinnvoll und formschön angelegt worden, wo es doch eigentlich nur einiger einfacher Gedankengänge bedurft hätte? Unverständlich ist das sogenannte Bezugsquellenverzeichnis. Wenn es eine Liste der Firmen darstellt, die das Zustandekommen dieses Buches unterstützt haben, sollte man das ruhig frei und offen zugeben. Dieses Bezugsquellenverzeichnis reicht auch nicht zu einem Bruchteil an ein vollständiges Verzeichnis der Lieferfirmen kinotechnischen Spezialzubehörs heran.

Johanne Noltenius

Die Freiwilige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft und das Zensurverbot des Grundgesetzes, Verlag Otto Schwartz & Co., Göttingen, 1958, 154 Seiten. (Siehe Besprechung im Artikel FSK ohne Rückverweis!)

Selbstkontrolle von Presse, Funk und Film Schriftenreihe der deutschen Studiengesellschaft für Publizistik, C. H. Beck Verlag, München und Berlin, 1960. (Siehe Besprechung im Artikel FSK ohne Rückverweis!)

Filmkunst: Zeitschrift für Filmkultur und Filmwissenschaft. Herausgegeben von der Österreichischen Gesellschaft für Filmwissenschaft und Filmwirtschaft. Nr. 1 = 1950. (3 Hefte und ein Jahresband = 7,50 DM.)

Diese Zeitschrift berücksichtigt natürlich in erster Linie den österreichischen Film, aber es werden auch Entwicklungen in anderen Ländern und allgemeine Themen, wie Wirtschaft, Pädagogik, Historie usw., behandelt. Zu Beginn des Erscheinens enthielten die Hefte eine Vielzahl Artikel der verschiedensten Richtungen, während die neueren weniger, aber intensivere Abhandlungen enthalten. Besonders hervorzuheben ist das Heft Nr. 22-30: "Kleines Lexikon des österreichischen Films", das Daten über die Entwicklung des Films in Österreich der Jahre 1946 bis 1958 zusammenstellt. Es enthält ein Sachlexikon, eine Namens- und Filmliste (einschliesslich der Kulturfilme). Die Ergebnisse der filmwissenschaftlichen Wochen in Wien wurden in den Heften 15/16 (über die Tagung 1954), 21 (1956), 32 (1960) und im Jahresband 1960 (1958) abgedruckt. Sie bringen Artikel, die man auch in Deutschland mit Gewinn lesen kann. Ausserdem werden fast in jedem Heft Bücher in- und ausländischer Produktion besprochen.
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Portrait eines Regisseurs: Jacques Tati

Er erneuert die Filmkomik im Geiste Chaplins, Buster Keatons und Harold Lloyds. Aber er kommt weder von der Cinémathèque noch von der Filmhochschule, sondern von den Brettern des Kabaretts, er ist ein Clown!

Dabei begann die Karriere dieses Erneuerers der Filmkunst eigentlich als Amateur. Diesem grossen, fülligen Mann mit dem ruhigen, bescheidenen Auftreten war eine Künstlerlaufbahn nicht an der Wiege gesungen worden.

Er wurde am 9. Oktober 1908 in Pecq (Seine et Oise) als Sohn eines russischen Emigranten geboren. Sein bürgerlicher Name ist Jacques Tatischeff. Er erlernte das Handwerk seines Vaters in der kleinen Bilderrahmenwerkstatt in der Avenue Castellane. In seiner Freizeit trieb er Sport, sehr viel Sport. Im Rugby und Tennis hatte er in Frankreich einen guten Namen.

Innerhalb seines Sport-Clubs produzierte er sich auch zum erstenmal mit grossem Erfolg als Parodist. Irgendwann einmal fasste er den Entschluss, aus dieser Begabung einen Beruf zu machen. Jahrelang probierte er an einer Nummer, um dann von Agent zu Agent zu laufen. Der Start wurde ihm nicht leicht gemacht. Schliesslich gelang es ihm, im Jahre 1933 bei Louis Leplee, Direktor des "Gerny's" ein Engagement zu erhalten. Zusammen mit Edith Piaf trat er in einer Parodie auf. Die Colette schrieb damals im "Journal" begeistert über ihn: "Ich glaube, dass kein Meister des Kabaretts sich mit diesem erstaunlichen Künstler vergleichen kann. Er hat etwas Neues erfunden, das halb Tanz, halb Satire und halb ,lebendes Bild' ist. Ihm ist es gelungen, alles auf einmal zu sein: Spieler, Ball und Schläger, Ball und Torwart, Boxer und Gegner, Fahrrad und Radfahrer, Pferd und Reiter, ein Fabelwesen, ein Zentaur!"

Sein eigentlicher, grosser Erfolg aber sollte eine Veranstaltung im Ritz werden, anlässlich der Rückkehr der "Normandie", die das Blaue Band gewonnen hatte. Jetzt wurde er berühmt. Er erhielt sofort ein Engagement im "A. B. C". Seine Tourneen brachten ihn auch kurz vor dem Kriege einmal nach Berlin, wo er zusammen mit Werner Fink in einem Programm auftrat. Obwohl er die Sprache kaum verstand, galt seine uneingeschränkte Bewunderung diesem deutschen Kabarettisten: "Immer, wenn ich während des Krieges in Paris einen deutschen Soldaten sah, dachte ich, jetzt kommt Werner Fink und schliesst Frieden _... Aber den hatten sie natürlich nicht eingesetzt."

Schon sehr früh (1931) begann er sich ernsthaft mit dem Film zu beschäftigen. Es entstanden eine Reihe von Kurzfilmen, die ihm allerdings nicht viel einbrachten, denn das Interesse am Kurzfilm war damals wie heute sehr gering. Bedeutsam wurde für ihn ein längerer Aufenthalt während des Krieges in Indre, Saint Sévère. Hier entwickelte er die Idee zu einem Kurzfilm, der Episoden aus dem Leben eines Landbriefträgers schildert. Nach dem Kriege gelang es ihm, den Produzenten Fred Orain für dieses Projekt zu gewinnen. Aber die Erfolgschancen des Kurzfilmes waren nach wie vor nur klein. Man entschloss sich deshalb, als der Film (in Indre) schon abgedreht worden war, den Stoff zu einer abendfüllenden Dorfgeschichte auszuweiten. Es entstand "Jour de Fête". Aber diese Art von Filmkomik war beinahe noch schwerer an den Verleiher zu bringen als seine früheren Kurzfilme. Schliesslich zeigten die Produzenten den Film ohne jede Ankündigung in einem kleinen Pariser Kino als zusätzliches Programm. Der Erfolg war überwältigend und "Jour de Fête" trat seinen Siegeszug an. 1949 wurde der Film auf den Festspielen in Venedig preisgekrönt. Vier Jahre später folgten "Die Ferien des Herrn Hulot" und nach weiteren fünf Jahren sein erster Farbfilm "Mein Onkel". Nicole Vedrès schreibt dazu in ihrem Aufsatz "A propos Tati":

"Wir hatten uns in der Erinnerung an die ,Ferien des Herrn Hulot' immer wieder gefragt, wie und ob diese unvergleichbare Gestalt nach dem Verstreichen der Zeit des Unwirklichen, die sein Urlaub an der See bedeutete, wohl in der Realität eines Jahresablaufs weiterleben könnte, wenn die Gesellschaft und die Welt der (Nützlichkeit' ihn wieder unter ihre Gesetze zwingen würde. Was könnte dieser Hulot wohl von Oktober bis Juli tun? Durch ,Mein Onkel' haben wir es erfahren und dessen Auseinandersetzung mit dem Alltag, dem besessenen Gewinnstreben, dem Rhythmus des Fortschritts - ja, bis zu jenem Punkt sogar, wo die Gesellschaft der Tüchtigen sich anschickt, ihn ,einzugliedern', ihm Arbeit zu verschaffen und seinem ,Leben ein Ziel zu geben' _... Niemand anders hat es wie hier Tati vermocht, den Instinkt für die Freiheit in fast physischer Weise zu zeigen."

Jahrelange Pausen liegen zwischen seinen drei grossen Filmen. Jacques Tati hat sich die in der Filmindustrie seltene Eigenheit bewahrt, Filme in handwerklicher Kleinarbeit herzustellen. Autor, Regisseur und Hauptdarsteller in einer Person, sind seine Filme das Werk eines einzelnen Mannes. Mit liebevoller Hingabe bastelt er am Drehbuch, baut er Szene für Szene, entwickelt er mit beinahe betulicher Sorgfalt Gag um Gag, bis er sie - einen hübsch nach dem anderen - platzen lässt.       we

Filmografie:
1931 "Oscar, champion de tennis"
1934 "On demande une brûte"
1935 "Gai Dimanche"
1936 "Soigne ton gauche"
1947 "L' Ecole des Facteurs"
1948 "Jour de Fête"
1952 "Les Vacances de Monsieur Hulot"
1958 "Mon Oncle"
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Filmanalyse "Jour de Fête" (TEMPO - TEMPO)

DOKUMENTATION
Land: Frankreich
Regisseur: Jacques Tati
Ort der Aufnahmen: Studio
Aussenaufnahmen: Ste-Sevère-sur-lndre (I.-et-L.)
Premiere: Juni 1949
Filmdauer: 90 Minuten

PRODUKTIONSANGABEN
Produktion: Francinex
Produktionsleiter: Fred Orain
Regisseur: Jacques Tati
Drehbuch und Dialog: Jacques Tati u. René Wheeler unter Mitarbeit von H. Marquet
Kameraführung: Jacques Mercanton
Kamera: Marcel Franchi
Dekoration: René Moulaert
Musik: Jean Yatove unter Mitarbeit von H. Marquet
Montagen: Marcel Moreau

DARSTELLER
François, Briefträger: Jacques Tati
Roger, Gaukler: Guy Decombre
Marcel, Gaukler: Paul Frankeur
Gauklerin: Santa Relli
Jeanette: Maine Vallée
Friseur: Rafal
Cafébesitzer: Beauvais
Klatschbase: Delcassan
die Bewohner von Ste-Sevère-sur-Indre u. ein altes Fahrrad, Marke Peugeot, Modell 1911.

Die Autoren
Jacques Tati (Regisseurporträt s. oben)
René Wheeler war lange Sekretär des berühmten französischen Schauspielers Noël-Noël, für den er an mehreren Drehbüchern mitarbeitete, so an "Ademai" und "La Cage aux Rossignols". Er gab sein Debüt als Regisseur mit "Premières Armes".

Die Handlung
Résumé: An einem schönen Sommertag findet in einer kleinen französischen Ortschaft ein Fest statt, zu dem sich Schausteller und Gaukler zusammengefunden haben. Das Geschehen versetzt den Betrachter für kurze Zeit unter die Menschen, er begegnet dem Briefträger François, der ihn durch die Naivität seines postalischen Eifers fasziniert und zu nachdenklichem Lächeln anregt.

Szenenfolge
I. Vorbereitungen des Festes
 a) Ankunft der Gaukler, Aufbau des Festplatzes
 b) François möchte sich nützlich machen
 c) François demonstriert seine archaische Methode, Briefe unter die Leute zu bringen
II. Das Fest
 a) Die Begeisterung der Leute
 b) François verlässt seinen Posten und würdigt den süffigen Weisswein
 c) Die Postverhältnisse in Amerika oder das Zelt
 d) Ein nächtlicher Spaziergang
III. Die Wendung ins Amerikanische
 a) Der Ort erwacht
 b) Die Gaukler erklären François das Fahrradfahren
 c) François' erste Versuche auf dem Fahrrad
 d) Verteilung der Post
 e) Wilde Fahrt und Kopfsprung
 f) Rückkehr in Enttäuschung und der Abzug der Gaukler

Dramatische Analyse
Aufbau
Um genau zu sein: es gibt keine eigentliche Handlung in diesem Film, sondern nur eine Anzahl glücklicher Beobachtungen und phantastischer Ereignisse, die sich auf ein sehr allgemeines Ereignis beziehen (eine Ortschaft in Feststimmung). Deshalb ist es schwierig, von einem dramatischen Aufbau einer dramatischen Konstruktion zu sprechen. Sie ist nur oberflächlich und setzt die Person des Briefträgers in den Mittelpunkt des Interesses.

In den alten und neuen Methoden der Postzustellung, die antithetisch aneinandergereiht werden, erweist sich der Film als ein Abbild der klassischen Komödie, die das Neue immer in Opposition gegen das Alte stellt, erläutert an der Entwicklung des Helden. Allerdings bricht die Handlung zwischen den Teilen I und II und dem Teil III auseinander. Ist in Teil I und II noch die Gesamtheit der Dorfbevölkerung gewissermassen Held des Geschehens, schöpft die Kamera ihre Beobachtungen aus der Fülle verschiedener Ereignisse, so reduziert der letzte Teil das Interesse allein auf den Briefträger und seine Eskapaden.

Passagen deskriptiven Pointillismus' (kurze Szenenfolgen, zahlreiche Personen) folgen Passagen erzählenden Charakters (lange, gut gestaltete Szenenfolgen, ein einziger Held).

Das Komische
Es ist unzweifelhaft, dass "Tempo-Tempo" einen Akzent in der Geschichte des französischen Komödienfilms setzt, weil er mit der Vaudevilletradition und der Schule der verfilmten Komödie bricht. Tati bekannte zu seinem Film, dass er eine Vorliebe für Chaplin habe. Dennoch tragen seine Gags durchaus persönliche Züge.

a) Komik in der Betrachtungsweise.
Die Kamera, zwingt dem Zuschauer eine sehr subtile Betrachtungsweise auf, selbst das kleinste Detail birgt oft Komik oder wird durch die Interpretation der Kamera komisch: so die Ankunft der Gaukler, die radikalen Methoden des Dorffriseurs beim Schneiden der Haare, die militärische Grussweise François'.

b) Das burleske Moment.
Während sich die Komik der Betrachtungsweise hauptsächlich in den beiden ersten Teilen findet, stösst man auf das Burleske in allen drei Teilen.

Das Burleske trägt die Handlungsweise der Personen und formt sie. Es sei hingewiesen auf die Gags des schielenden Mannes (dessen Person übrigens von Ben Turpin beeinflusst ist), die Tongags des Mastes, montiert mit dem überstürzten Eintritt des Briefträgers in die Herberge - zu Fahrrad natürlich.

Die Personen
Der aufmerksame Betrachter wird erkennen, dass "Tempo-Tempo" nur eine einzige genau gezeichnete Gestalt besitzt, die des Briefträgers. Alle anderen Beteiligten erscheinen typenhaft und sind im Gegensatz zur Hauptgestalt nur als Skizzen konzipiert. Die Figur des Briefträgers lässt sich mit den Eigenschaften "naiv", "enthusiastisch", "aufopfernd" und "ungeschickt" definieren. Der Vergleich zu Chaplin liegt nahe, aber erweist sich bei genauer Betrachtung als verfehlt. François besitzt nicht jene Angst, jenes Gehetztsein der Figuren Chaplins, er ist nicht von jener hilflos tragischen Revolte gegen die Maschinen wie in "Moderne Zeiten" beseelt, sondern er zeichnet sich durch herzhaft bäurische Lustigkeit aus, liebt guten Wein, und die Tücken des Fahrrades werden mit gutmütigem Staunen überwunden. Tati setzt sich allerdings ähnlich wie Chaplin in Szene: Ausser dem Gesicht ist es die Silhouette, die man sieht: gross, mager und missproportioniert.

Die beiden Gaukler sind wenig durchgestaltet. Tati hätte aus ihnen ein Komikerpaar von der Sorte Pat und Patachon machen können, aber er war wahrscheinlich zu sehr mit seiner eigenen Rolle beschäftigt. Dagegen sind die Bewohner der Ortschaft glänzend gezeigt. Sie agieren als Typen, kenntlich durch eine bestimmte Eigenschaft, die sie aus der Masse heraushebt: der schreckliche Friseur, die lächerlichen jungen Mädchen, die schlafenden Postbeamten.

Die filmische Analyse
Die technische Sprache
Jacques Tati drehte "Tempo-Tempo" mit bewundernswert technischer Sauberkeit; um so erstaunlicher, da es sich um Tatis Debüt als Regisseur handelt. Sein Film zeichnet sich durch klare Schnitte und eine dem Sujet angemessene Kameraführung aus. Eine erstaunliche Tiefenwirkung rückt die Bildgestaltung in die Nähe der Filme von Renoir, Welles und Wyler, ohne deren Vorbild zu kopieren. Die Kamera dramatisiert nicht das Geschehen (Gleichheit der Ereignisse, Intrigen etc. oder das Zusammenpressen mehrerer dramatischer Ereignisse), noch malt sie in realistischer Technik (wie z. B. Wyler), sondern sie registriert mit grosser Reinheit die Ereignisse.

Als Raffinessen seien hervorgehoben: der auf der Strasse tanzende Junge (Anfang und Schluss), der Flirt Roger-Jeanette und fast alle Szenen des Gauklerfestes (z.B. die Ankunft der Fanfare, gesehen von den Holzpferden aus). Unterstützt wird diese Sicht der Geschehnisse durch die differenzierte Anwendung aller photographischen Mittel. Alle Bilder sind in einem ästhetischen Sinne schön, aber diese Schönheit ist nicht das Ziel, sondern das Resultat der verwendeten Mittel. Ziel ist eine optische Erzählung von äusserster Präzision zu schaffen. Diese optische Erzählung besitzt eine eigene Poesie, die sich in oft nebensächlichen Details und photographischen Kunststückchen ausdrückt (z. B. das Spiel des Schattens auf der Mauer). Dialoge

Tati ist hauptsächlich Pantomime, deshalb sind die Dialoge oft schlechter als Optik und Spiel.

Interpretation
Es ist schwierig, einen Film von Tati zu interpretieren, genauso schwierig wie einen Film von Chaplin. Es scheint, dass die Absurdität der Handlungsweise François' den Sinn ergibt, oder dass er nur in der Pantomime und im Gebrauch der optischen und szenischen Materialien liegt.

Bauten
Die Bauten sind in ihrer realen Wirkung nicht von der Realität zu unterscheiden. Der Architekt hütet sich geflissentlich vor der Stilisierung, um das Flair der Unnatürlichkeit zu vermeiden.

Ton
Eine der grossen Neuheiten dieses Films ist die Verwirklichung einer Tonkomik, die die optischen Gags je nach Absicht des Regisseurs verfremdet oder unterstützt.

Musik
Die musikalische Untermalung bleibt Untermalung, einfach, aber ohne Vulgarismen. Sie greift abwechselnd auf zwei Grundthemen zurück, die die entscheidenden Stimmungen der Handlung wiedergeben: Stimmung des Festes und Stimmung der Freude, schnelle Läufe und getragene Bewegung. "Tempo-Tempo" ist ein Film, der unter Anwendung filmischer und dramatischer Mittel im Grund nur dazu dient, die Grösse Tatis als Komiker und Pantomime herauszustellen. Hierin gleicht er Chaplin vollkommen.

      Jean Pierre Escande (I.D.H.E.C.) (Aus dem Französischen, übertragen, gekürzt und bearbeitet von Wolfgang Vogel)
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Ein Kapitel Filmgeschichte Dr. Mabuse, der Spieler (s.a. Kurznotiz)

In der "Berliner Illustrierten Zeitung" erschien ab Nummer 39/1921 der Roman "Dr. Mabuse, der Spieler" von Norbert Jacques. Die drei Brüder Ullstein, in deren Verlag die BIZ erschien, hatten ihr Geld unter anderem auch in einer Filmgesellschaft angelegt, in der alle Romane der BIZ, der damals wohl am meisten gelesenen deutschen Illustrierten, verfilmt wurden. Da die UFA ebenfalls an der Gesellschaft beteiligt war, übernahm Fritz Lang die Regie. Längs letzter Film "Der müde Tod" hatte seinen Namen gerade durch den ausserordentlichen Erfolg weithin bekannt gemacht. Ausserdem war die Gattin Längs, Thea von Harbou, mit den Ullsteins bekannt. Sie übernahm auch die Umarbeitung des Romans zum Drehbuch. Ihr früherer Gatte, Rudolf Klein-Rogge, erhielt vertragsgemäss hier, wie auch in späteren Filmen Längs, die Hauptrolle. Vor Drehbeginn besuchte Lang den Autor in München, um sich mit ihm zu beraten.

Während der letzten Fortsetzungen im Frühjahr 1922 erschienen die ersten Bilder des Films in der BIZ. Die Premiere des ersten Teiles fand am 27. April 1922 im "Palast am Zoo" statt. Anschliessend daran wurde ab dem 26. Mai der zweite Teil gezeigt. Der Film hatte grossen Erfolg: in München lief er gleichzeitig in drei Kinos, nach Österreich kam er Ende 1922, nach England im März 1923; dort wie auch in anderen Ländern (z. B. in den USA), wurde er sehr gut besucht. In Dänemark verbot ihn die Zensur.

Der Film hat einige wichtige Änderungen gegenüber dem Roman aufzuweisen. Sowohl die Einleitung als auch der Schluss sind hinzugefügt worden. So erfährt man im Film schon zu Beginn das Wichtigste über Mabuse und seine Arbeitsmethoden, im Roman dagegen erst recht spät (er beginnt mit der Spielaffäre Hulls). Von da ab folgt der Film mehr oder weniger genau dem Roman - bis auf ein Zwischenspiel, die Flucht Mabuses, die im Film fehlt -. Im Film erhält, in der Séance des "Dr. Weltmann", Wenck den hypnotischen Befehl, in den Steinbruch zu fahren. Nach seiner Errettung folgt der Strassenkampf und Mabuses Irrewerden. Im Roman dagegen wird Wenck nach der Séance entführt, an das Flugzeug Mabuses gebunden, mit dem dieser ins Ausland entkommen will. Mabuse wird aber von der Gräfin aus dem Flugzeug gestürzt, Wenck gerettet. Lang behielt sich also eine günstigere Ausgangsposition für eine Fortsetzung vor. Der Roman spielt zum grössten Teil in München, erst nach der Flucht Mabuses in Berlin; der Film bezeichnet keine Stadt als Ort der Handlung.

Wichtiger als diese stofflichen Abweichungen sind die der Darstellung des Geschehens. Jacques ist bemüht, vor allem die Personen Wenck und Mabuse herauszuarbeiten, sie als Kontrahenten, die doch einander ähnlich sind, zu zeichnen. Lang legt demgegenüber das Hauptgewicht auf die Wiedergabe eines "Zeitbildes". Wenck verblasst und Mabuse wird zu einem Aussenseiter in der Gesellschaft; die einzelnen Handlungen der beiden, besonders die Mabuses, sind daher im Roman weitaus besser motiviert.

Von der zeitgenössischen Kritik ist in erster Linie die Zensur zu behandeln. Beide Teile wurden erst ab 18 Jahren freigegeben. Für den zweiten Teil forderte die Filmprüfstelle in Berlin eine Reihe Schnitte: bei der Feier Mabuses mit seinen Dienern und beim Strassenkampf. Gegen diesen Entscheid wurde Berufung eingelegt. Die Oberprüfstelle kam zu der Überzeugung, dass, obwohl sehr roh dargestellt, das Trinkgelage der Fülle der Eindrücke wegen nicht im Gedächtnis haften bliebe, und hob die Beanstandung auf. Der Kampf wäre zwar als dramatischer Höhepunkt notwendig, aber sie fände die Realistik zu übertrieben. Sie wäre dafür verantwortlich, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu wahren. Nach den Kämpfen kurz nach dem Kriege wäre endlich eine Beruhigung eingetreten, sie könnte durch diese Darstellung gestört werden. Zudem wären in früheren Filmen Strassenkämpfe stets nur um politischer Ziele willen geführt worden, hier aber, um einen Verbrecher der (staatlichen) Gerechtigkeit zu entziehen. Insgesamt wurden rund 29 Meter (etwa 1 Minute) geschnitten.

Die Zeitungskritiken, die zur Verfügung standen, stammen aus dem "Kinematographien", dem "Film", der "BIZ", den "Frankfurter Nachrichten" und einer Anzahl Zeitungen - hauptsächlich aus Berlin -, die der Verleih zu einem Reklameheft zusammengestellt hatte; diese waren in einigen Fällen nicht vollständig abgedruckt. Es wäre vorteilhaft, in den verschiedenen örtlichen Archiven nach Zeitungskritiken dieses Filmes zu forschen (ab Mai 1922). Die Frankfurter Verhältnisse werden am Schluss des Artikels behandelt.

Kritiken im anspruchsvollen Sinne sind es nicht, obwohl sie nicht schlechter sind als die meisten heutigen Besprechungen in Zeitungen und Zeitschriften. Sieht man von allzu dienstbeflissener Lobhudelei und mehr oder weniger wörtlicher Übernahme von Werberatschlägen des Verleihs und Zwischentiteln ab, ergibt sich folgender Eindruck: In allen Besprechungen wird die Lebensnähe des als "Zeitbild" aufgefassten Filmes betont, wenn auch öfters hervorgehoben wird, dass damit nur eine gewisse Schicht erfasst wird. Mabuse selbst wird als grosser Spieler mit sich und anderen gesehen; hierbei sei auf die Nähe zur Reklame verwiesen. Es wird hervorgehoben, dass er nicht mehr der plumpe Verbrecher früherer Filme sei, sondern den Doktortitel trage und alle Geistesmittel in den Dienst des Verbrechens stelle. Als zweiter wichtiger Punkt wird stets der optische Eindruck genannt. Die zusätzlich durch die Regie gesteigerte Spannung und vor allem die grossartige Bewältigung der Nachtaufnahmen. Bei der Premiere des ersten Teiles erhielten die Nachtaufnahmen Sonderapplaus. Dieser Film war einer der ersten, die die Virage nicht mehr nötig hatten (vergl.: "Der farbige Film" S. 40). Erwähnenswert ist noch, dass der Film im Atelier aufgenommen wurde. Für uns ist es heute kaum verständlich, dass Mabuse als "der" Übermensch erschienen sein soll. Er ist ein Falschspieler mässigen Formates, der als seinen privaten Trick die Hypnose anwendet. Die Darstellung ist den Absichten, wie sie aus der Reklame zu entnehmen sind, nicht adäquat.

Im "Kulturfilmbuch" (1924) schreibt Lang: "Dr. Mabuse war ein Sensationsfilm und ein Erfolg. Aber der Nerv des Erfolgs lag hier nicht einmal im Sensationellen, das noch einigermassen bescheiden im Hintergrund blieb. Es lag in der Ausnützung des Films als Zeitbild, oder besser gesagt, in der Auswertung des Films als eines Zeitdokumentes. Der Film als Zeitdokument (eine Gattung, von der Mabuse nur ein erdgebundener Vorläufer war) zeigt den Menschen von heute - oder vielmehr: er muss ihn zeigen - in derselben Übersteigerung, in der ich die Nibelungen zu zeigen versucht habe. Nicht einen Menschen von 1924, sondern den Menschen von 1924."

Die Bewertung des Filmes in späteren Jahren soll an einigen Beispielen kurz kritisch dargestellt werden. Sehr viele Autoren (z. B. Moreck - Sittengeschichte des Kinos 1926, Zlinicki - Der Weg des Films 1956) haben sich auf die Beurteilung Oskar Kalbus' (Der Stummfilm, 1934) gestützt, der im grossen und ganzen dergleichen Ansicht über Mabuse ist wie die zeitgenössischen Kritiker: der alles überragende Geist und Führer.

Geseks Darstellung in seinem Buch "Gestalter der Filmkunst" 1948 ist ein Beispiel dafür, dass die Erinnerung oft trügt. Er lässt in seiner kurzen Betrachtung den Film mit der Szene beginnen, in der das Gesicht Mabuses erst klein, dann immer grösser auf der Leinwand erscheint - im Film gehen ihr aber rund eine Stunde Spiel voraus.

In einem holländischen Buch (Graad van Roggen: Monographie over Filmkunst V: Duitsche Filmkunst; 1931) lässt man die Montagetechnik als Vorläuferin der Eisensteins gelten; ähnlich wie in Längs späterem Film "Die Nibelungen" habe sich der Rhythmus verselbständigt. Auf das Problem der Montage dieses Filmes möchte ich aber nicht näher eingehen, da es dazu einer genaueren Untersuchung des Filmes bedarf. Die Kamera steht, wie es um diese Zeit noch üblich war, fest (etwa in Schulterhöhe), so dass die Handlung und die Montage die Spannung erzeugen muss. Für diesen Film scheint typisch zu sein, dass sehr oft zwei Geschehen nebeneinander verlaufen und ineinander geschachtelt werden. Die Zeitdauer einer Aufnahme beträgt bis zu einer Minute, ein grosser Teil liegt über der üblichen Durchschnittslänge; es liegt also ein recht langsamer Schnitt vor.

Lotte Eisner weist in der "Dämonischen Leinwand" 1955, S. 40 und 76 (sie legt in diesem Buche das Hauptgewicht auf die Filmästhetik) auf die Überreste des Expressionismus - der im ,Kabinet des Dr. Caligari' (1919) sogleich seinen Höhepunkt fand - hin, der nur einige Male schockartig und fast nur im Dekor aufträte. Für das Hervorrufen des Schreckens benötige Lang nicht mehr des Horrors, wie er im "Kabinett", "Nosferatu" und anderen angewandt worden sei, er verstehe es, unmittelbar durch das Geschehen zu packen. Zudem sei die Handlung viel zu real, als dass Lang auf jene Effekte hätte zurückgreifen können. Lang, der von Beruf Maler war, wählte aus allen Stilen immer das für die gerade vorliegende Situation ihm am geeignetsten erscheinende aus; nahezu alle bedeutenden Filme der damaligen Zeit können dem Betrachter assoziativ einfallen, auch Längs spätere Filme, in denen er manche Stilmittel ausführlicher benutzte. Dem Vergleich mit dem "Kabinett" werden wir später noch einmal mit umgekehrtem Vorzeichen begegnen.

Siegfried Kracauer: Von Caligari bis Hitler 1947 (engl., 1958 deutsch, S. 52 ff.). Da der Autor sich zur Aufstellung einer Theorie über die Entwicklung des deutschen Filmes stark auf diesen Film stützt, müssen wir uns ein wenig eingehender damit befassen. Um den Nachweis zu führen, dass man aus den Filmen der zwanziger Jahre ablesen kann, wie sehr das deutsche Volk auf Hitler "eingestimmt" war, untersucht Kracauer (siehe auch die Einleitung zu seinem Buch!) die bekanntesten Filme nach soziologischen Grundsätzen auf den Problemkreis: Tyrann - Unterwerfung (Resignation) des Volkes. Er kommt dabei zu interessanten, aber auch oft an den Haaren herbeigezogenen Ergebnissen und Schlussfolgerungen.

Er rückt Dr. Mabuse in die Nähe Caligaris, Nosferatus und anderer. Mabuse, ein "von grenzenloser Herrschsucht getriebener ,Führergeist', ein ,Übermensch', der an der Spitze einer Bande von Mördern, blinden Falschmünzern und anderen Verbrechern steht, mit deren Hilfe er die Gesellschaft terrorisiert", ist für ihn die Vorahnung des kommenden Diktators. Das zumindest dürfte übertrieben sein. 1921, als Lang in München Jacques besuchte, war von Hitler noch nicht viel die Rede (das war erst knapp ein Jahr später der Fall), so dass von dieser Seite keine Anregung erfolgt sein kann.

Eine Ähnlichkeit mit Caligari kann allerdings nicht geleugnet werden: Beide arbeiten mit denselben Mitteln, wenn auch - im Gegensatz zu Kracauers Meinung - aus verschiedenen Motiven heraus. Caligari, neben persönlichen, mehr aus rein wissenschaftlichen, Mabuse, um zu herrschen, um Geld zu gewinnen. Trotzdem ist Mabuse, im Film!, gewiss keiner, der die Weltherrschaft anstrebt oder die Gesellschaft terrorisiert. Zwar ist für Kracauers Untersuchung nur wichtig, wie man damals über diesen Film dachte, doch bietet selbst die Anerkennung des Übermenschentums Mabuses noch lange nicht genügend Grund für Kracauers Ansicht über diesen Film. Wenn man aus dem Erfolg des Filmes - unter der Annahme, dass das Zeitbild diesen Erfolg beim Publikum begründete und nicht die spannende Kriminalhandlung - Rückschlüsse auf das Wesen des Publikums zieht, hat man gerade dies erst einmal zu berücksichtigen; eher liessen sich die Hersteller auf diese Weise analysieren. So weitgehende Theorien darauf aufzubauen, wie es Kracauer tut, scheint mir gefährlich. Anzumerken wäre auch der grosse- Erfolg in anderen, nicht von Tyrannen heimgesuchten Ländern, sowie auch der heute noch überall verbreitete Typ des Verbrechers vom Schlage Mabuses. Ebensowenig Anhaltspunkte liefert der Film für die Unterwerfung des "Volkes" unter die Willkür des Tyrannen. Nicht nur die Komplicen Mabuses und die von ihm hypnotisierten Spieler vertreten das Volk. Zeigen nicht Wenck und die Gräfin ihre Auflehnung deutlich genug, oder das Volk bei der Verhaftung des Attentäters (Sprengstoffattentat auf Wenck) gar die gegen die Staatsgewalt, weil die Leute glauben, der Staat begehe ein Unrecht?

Auch bei Kracauer wird (um der These willen?) das Expressionistische als anarchistisch und die Verwandtschaft mit Caligari stark betont, und hier führt dies zum umgekehrten Ergebnis, gegenüber dem bei Eisner: Lang verlege "seine Filmhandlung häufig aus einer realen in eine übertrieben künstliche Umwelt" und schaffe damit eine "gefühlserhitzte Scheinwelt". Diese Ansicht scheint mir nach dem Ansehen des Filmes zu weit zu gehen, ich möchte der Eisners den Vorzug geben.

Sofern (selten) nur mit Hell-Dunkel gearbeitet wird, stehen die Personen im Licht vor dunklem Hintergrund. Nur in der Szene Carozza-Gräfin Told im Gefängnis, sieht man die Tänzerin als "Scherenschnitt"; diese Szene scheint allerdings keine dramaturgische Aufgabe zu haben, sie überrascht jedenfalls, da sie nicht in den allgemeinen Rahmen passt. Die Zwischentitel sind bis auf wenige Ausnahmen (Brief u. a.) weisse Druckschrift auf schwarzem Grund und in den Film eingeklebt. Das spricht dafür, dass wir eine Originalkopie vorführen konnten, da man zur Herstellung der Titel, im Gegensatz zu der des Films, besonders hartes (kontrastarmes) Filmmaterial benötigte. Ausserdem sollten die Titel nicht mitviragiert werden, und man übernahm wahrscheinlich aus Gewohnheit diese Praxis auch für diesen Film. Ob die Kopie allerdings vollständig war, wissen wir nicht. In Riess' "Das gab's nur einmal" werden einige Szenen erwähnt, die nicht in dieser Kopie vorkommen.

Die früher üblichen Schablonen-Auf-und-Abblendungen werden des öfteren effektreich angewandt. Der Übergang vom ersten zum zweiten Teil ist so gelöst, dass der Film, auch wenn er pausenlos vorgeführt wird, ohne Bruch abläuft: Wenck nimmt den Brief der Gräfin Told in die Hand, um ihn ein zweites Mal zu lesen und die Erzählung des Grafen Told wird von Rückblenden unterbrochen.

In Frankfurt wurde der Film in den Alemannia-Lichtspielen (Schillerplatz 4) gezeigt; der erste Teil lief ab 5. Mai und musste verlängert werden. Er wurde am 6. Mai in der Abendausgabe der "Frankfurter Nachrichten" besprochen. Der Kritiker lobt die Zeitnähe, die gute Schilderung der Welt der Spieler und Schieber, aus der notgedrungen das Verbrechen wachse. Er bemängelte aber, dass die Exposition zu breit geraten sei und das Episodische zu sehr in den Vordergrund träte. Nach seinen Angaben hat der Film 15 Millionen Mark gekostet - das entspricht einer Kaufkraft von etwa einer Million DM, für die damalige Zeit ein recht ansehnlicher Betrag, den nur sehr wenige Filme erreichten. "Der Film" berichtet am 28. Mai, dass dieser Film in Frankfurt in einer gewaltsam gekürzten Fassung liefe. Es wäre wohl erlaubt, den Film in der Provinz statt zwölf- nur zehnaktig laufen zu lassen, der (damalige) Besitzer des Alemannia habe aber zusätzlich noch etwa 340 m entfernt. In der Frankfurter Presse liess sich leider nichts darüber finden.

Der zweite Teil lief am 23. Mai (drei Tage vor Berlin) an. Eine Besprechung fand in den "FN" nicht statt. Die "Frankfurter Zeitung" nahm den Film in gewohnter Weise nicht zur Kenntnis. Die "Frankfurter Illustrierte" ist ebenfalls nicht darauf eingegangen. Weitere Zeitungen aus Frankfurt standen nicht zur Verfügung.

Zum Abschluss werden die filmografischen Angaben des Filmes aufgeführt. Wir möchten dem "Staatlichen Filmarchiv der DDR" vielmals dafür danken, dass wir den Film zu Studienzwecken etwas länger behalten durften. Die Zwischentitel wurden abgeschrieben, aber es ist hier nicht der Platz, sie wiederzugeben.

Dr. Mabuse, der Spieler nach dem Roman der Berliner Illustrierten Zeitung von Norbert Jacques.
Manuskript: Thea von Harbou
Spielleitung: Fritz Lang
Die Mitarbeiter: Bauten: Otto Hunte und Stahl-Urach
Photographische Leitung: Karl Hoffmann
Die Toiletten der Hauptdarstellerin wurden nach den Entwürfen von Valerie Reinecke in den Modeateliers von Flatow-Schädler und Mossner angefertigt.
Die Hauptrollen und ihre Träger:
Dr. Mabuse: Rudolf Klein- Rogge
Cara Carozza, die Tänzerin: Aud Egedy Nissen
Gräfin Lucy Told: Gertrud Welker
Graf Told: Alfred Abel
Teil I. Der grosse Spieler - ein Bild der Zeit 6 Akte = 3496 m, Prüfung: 25. 4.1922
Teil II. Inferno - ein Spiel von Menschen unserer Zeit. 6 Akte = 2530 m, Prüfung: 17. 5. 1922, Oberprüfstelle: 20. 5. 1922.
Ursprungsfirma: Uco-Film, Verleih: Decla-Bioskop AG.
Weitere Darsteller:
Wenck, Staatsanwalt: Bernhard Goetzke
Hull, junger Millionär: Paul Richter
Spoerri, Mabuses Sekretär: Forster Larrinaga
Georg, Mabuses Chauffeur: H. Adalbert von Schlettow
Pesch, Diener Mabuses, Attentäter: Georg John
Hawasch, Leiter der Falschmünzerwerkstatt: Karl Huszar
Fine, Dienerin Mabuses: Grete Berger
Karsten, ein Freund Wencks: Julius Falkenstein
Eine Russin: Lydia Potechina
Schramm, Proprietär: Julius Herrmann
Tolds Diener: Karl Platen
Eine Tänzerin (im Frack): Anita Berber
Der Mann, der die Pistole bekommt: Paul Biensfeldt
ferner: Julie Brandt, Auguste Prasch-Grevenberg, Adele Sandrock, Max Adalbert, Gustav Botz, Leonhard Haskel, Erner Hübsch, Gottfried Huppertz, Hans Junkermann, Alfred Klein, Erich Pabst, Edgar Pauly, Hans Sternberg, Olaf Storm, Erich Welter und Heinrich Gotho, den Lang für diesen Film entdeckte.       HBi
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Der farbige Film

Seit Beginn der Kinematographie war man bemüht, den Film durch Farben zu beleben, um einerseits den Ansprüchen des Publikums nachzukommen, und andererseits die Kontraste des noch sehr harten Filmmaterials zu mildern. Hierzu waren bei der Virage (franz. tintage) die einzelnen Sequenzen der Situation entsprechend eingefärbt; so z. B. bei Mondschein blau, bei Nacht blaugrün, im Freien grün, im Zimmer gelb oder braun, bei unheimlichen Szenen phosphorgrün und bei Feuer oder bei Liebesszenen rot. Eine feste Regel gab es nicht, doch versuchten Mauritz Stiller und D. W. Griffith als erste in den Jahren nach 1910 die Virage auch dramaturgisch einzusetzen. Während die Einfärbung des Filmmaterials sich nur auf die hellen Teile des Bildes erstreckte, benutzte man später - als der Film mehr Abstufungen in der Grauskala aufwies - bei der Tönung (franz. virage) Chemikalien, die nur mit dem Silber in der Filmschicht reagierten, also in den geschwärzten Bildteilen "warme" Gelb- oder Brauntöne erzeugten. (Man sieht viragierte und getönte Filme heute nur noch selten, da neugezogene Kopien nicht mehr eingefärbt werden.)

Neben Virage und Tönung des Schwarzweiss-Filmmaterials, die heute nicht mehr üblich sind (einige Szenen im Film "Die gute Erde" des Jahres 1936 waren wohl die letzten echt viragierten; später wandte man diese Methode noch einige Male um des Effektes willen an - "Die Zürcher Verlobung"), gab es den kolorierten Film. Schon vor Lumière zeigte Emile Reynaud um 1895 mit seinem Praxinoskop kolorierte Filmstreifen, deren Bilder jedoch nicht auf fotografischem Wege gewonnen, sondern gezeichnet waren. Méliès, Pathé, Messter und Edison kolorierten manche ihrer Filme auf zwei verschiedene Arten: Bei der Handkolorierung wurde jedes einzelne Bild - ursprünglich 16, später 24 Bilder je Sekunde Vorführungsdauer - unter der Lupe ausgemalt, während bei der Schablonenkolorierung für jede Farbe ein entsprechendes Schablonenband ausgeschnitten und der Film dann maschinell eingefärbt wurde. Noch 1952 wurden in Indien auf diese Weise Farbfilme hergestellt.

Die ersten farbfotografischen Versuche von Ducos du Hauron im Jahre 1862, die aber an dem nur für Blau und Violett empfindlichen Filmmaterial scheiterten, stützten sich auf Experimente über additive Farbmischung von Maxwell und Sutton, wonach man alle Farben durch das Zusammenwirken von farbigen Lichtstrahlen, z. B. den Grundfarben Rot, Grün und Blau erhält. Bei gleicher Intensität der Farben des gesamten sichtbaren Spektrums liegt die Farbempfindung Weiss vor, wenn keine Lichtstrahlung vorhanden ist, Schwarz.

(Die normale Chlor- oder Bromsilberemulsion reagiert bevorzugt auf blaues Licht. Um die Schicht auch für andere Farben empfindlich zu machen, müssen bestimmte Chemikalien - die Sensibilisatoren - zugesetzt werden. Die Sensibilisierung muss in dem Masse erfolgen, dass die Wiedergabe der Farben in Grautönen denen unseres Augeindrucks entspricht. Erst nach Entwicklung des sensibilisierten Schwarzweissfilmes konnten entsprechende Farbversuche unternommen werden.)

Im Bereich der Fotografie bedeutet dies, dass man drei Aufnahmen durch drei verschiedene Farbfilter macht und deren Positive durch die gleichen Filter mit drei Projektoren auf der Leinwand zu einem Bild vereinigt. Anfangs benutzte man oft nur zwei Farbauszüge; so z. B. Georg Albert Smith, der 1906 vor der Kamera und - synchron dazu - vor dem Projektor eine aus Rot- und Grünfiltern zusammengesetzte Scheibe rotieren liess. Friese-Greene arbeitete nach dem gleichen Prinzip, jedoch mit drei Filtern und erhöhter Bildfrequenz, während ein verhältnismässig neues Verfahren nach W. Milais vier Farbauszüge benutzt. Da sich wegen der zeitlichen Verschiebung der Aufnahmen die Farbauszüge in den Konturen nicht genau decken, werden bei Francitacolor drei Farbauszüge mit einviertel der normalen Bildfläche - in Dreiecksform auf dem Filmstreifen angeordnet - aufgenommen. Bei Roux-Color werden vier Farbauszüge nebeneinander mit einem Spezialobjektiv, das etwa 30 Linsen enthält, festgehalten. Neben dem Auftreten von lokaler Parallaxe liegt die Schwierigkeit, deckungsgleiche Bilder zu erhalten, in der ungleichen Schrumpfung des Filmträgers.

Es gelang auch, die aus den Grundfarben aufgebauten Aufnahmen auf einer Fläche zu fotografieren, indem man nicht mehr drei Filter, sondern eine Farbrasterplatte benutzte. Diese bestand bei der Autochromplatte der Gebrüder Lumière (1904) aus etwa 0,012 mm grossen, farbigen Stärkekörnchen, wobei die Zwischenräume geschwärzt werden mussten, damit kein ungefiltertes Licht auf die fotografische Schicht gelangen konnte. Agfa benutzte 1916 Gerbsäurepartikel, die lückenlos aneinanderschlossen, so dass keine zusätzliche Schwärzung erforderlich war. In beiden Fällen ist eine Entwicklung im Umkehrverfahren notwendig, um farbwertrichtige Bilder zu erhalten. Dufay-Color arbeitet noch heute nach diesem Prinzip.

(Fällt Licht auf eine fotografische Schicht, so wird diese geschwärzt, es entsteht also ein in den Helligkeitswerten umgekehrtes Bild, das Negativ. Durch Kopieren auf gleiches Material erhält man das Positiv. Dieser Vorgang ist jedoch wegen Korngrösse und besonders bei Rasterplatten unzweckmässig. Deswegen wird beim Umkehrverfahren nach der Entwicklung das geschwärzte Silber entfernt und durch eine zweite Belichtung und Entwicklung das anfangs unbelichtete geschwärzt. Somit erhält man ein Positiv.)

Um die gleiche Zeit entwickelte Rudolphe Berthon nach einer Idee von Liesegang das sogenannte Linsenrastverfahren, bei dem Farbraster auf optischem Wege erzeugt wurde. In der Optik der Kamera wird eine aus drei parallel nebeneinanderliegenden Farbfiltern bestehende Scheibe eingeschoben, so dass von jedem Gegenstandspunkt drei Farbstrahlenbüschel erzeugt werden. In die gesamte Filmoberfläche sind kleine Zylinderlinsen quer zur Filmbahn eingeprägt (Linsenbreite 0,028 mm, Eindruckstiefe 0,004 mm), die so bemessen sind, dass die drei Farbstrahlenbüschel unter jeder der Zylinderlinsen nebeneinander abgebildet werden. Nach der Umkehrentwicklung erhält man bei der Projektion ein normales Schwarzweiss-Bild, das aber farbig wird, wenn die Filterscheibe - der Aufnahme entsprechend - in die Optik des Projektors eingebaut wird. Dieses Verfahren hat sich jedoch nicht durchsetzen können, da das präzise Einprägen der Linsen und die Vervielfältigung einen sehr grossen technischen Aufwand bedingen. (1936 wurde nach dem hier beschriebenen Opticolor-Berthon-Siemens-Verfahren der Kurzfilm "Das Schönheitsfleckchen" von C. Froelich gedreht.) Keller-Dorian-Berthon, eine Vorstufe hierzu, arbeitete nicht mit zylindrischen, sondern mit sphärischen Linsen. Kodak brachte unter dem Namen Kodacolor einen Umkehrfilm nach dem Linsenrastersystem heraus, während Pantachrom von Agfa nur Gelb und Purpur mit Linsenraster aufzeichnete und den Blauauszug subtraktiv herstellte. Ebenfalls mit additiver Farbmischung arbeitete Bocco-Rudatis-Color, ein Stereotypenverfahren. Hierbei ist die Schichtoberfläche mit Prismen bedeckt, wobei jede Prismenseite einer der Grundfarben entspricht. Ein schwarzer Fleck in der Mitte des Filters im Brennpunkt der Optik hält das ungebrochene weisse Licht zurück.

Da jedes additive Farbverfahren je nach Anzahl der Farbauszüge zwei bis vier Silberbilder erfordert, und unter Umständen mehrere Objektive benötigt, wird sehr viel Licht absorbiert. Dies ist der Hauptgrund, weshalb man die subtraktive Farbmischung bevorzugt, bei der aus dem "weissen" Licht einzelne Spektralfarben ausgefiltert werden und so die Komplementärfarbe - auch Rest- oder Minusfarbe genannt - sichtbar wird. Man stellt drei - früher zwei - Farbauszüge her, löst in einem Bleichbad das Silber aus der Schicht und färbt sie mit den Komplementärfarben der Filter ein. Übereinandergelegt projiziert, ergeben sie das farbige Bild.

Ein oft angewendetes Verfahren dieser Art ist Druck von Technicolor. Nach drei - vor 1932 zwei - hinter Filtern liegenden Filmstreifen, die gleichzeitig über eine Optik belichtet werden, stellt man drei bzw. zwei Reliefmatrizen her, mit denen auf einem Spezialfilm die Farbauszüge aufgedruckt werden, was dem normalen Farbdruck entspricht. Vor Aufdruck der Farben wird auf dem Spezialfilm die Tonspur und ein sehr schwaches mit Hilfe des Grünauszuges gewonnenes Schwarzweiss-Bild einkopiert, wodurch in den farbschwachen Bildteilen bessere Farbsättigung und höhere Konturenschärfe erreicht wird. Da ausserdem jede Körperfarbe neben ihrem charakteristischen Ton noch einen weisslichen oder schwärzlichen Einfluss - Verhüllung genannt - zeigt, wird dieser unbunte Farbeinfluss wenigstens z. T. berücksichtigt. Während des Druckes besteht die Möglichkeit, durch verschiedene Sättigung oder Ummischung der Einzelfarben Farbstiche auszugleichen oder auch besondere Farbeffekte zu erzielen. Man kann auch nur eine Farbe aufdrucken, wie z. B. im Film "Funny Face". ("The Toll of the Sea", 1922, war der erste Technicolorfilm mit Zweifarbendruck, Disneys Silly Symphony "Flowers and Trees", 1932, der erste im Dreifarbendruck.) Roncarolo und die Prisma-Process-Methode ("The Glorious Adventure", 1919) entsprechen fast völlig dem Technicolorsystem, nur dass bei diesen die Aufspaltung des Strahlengangs durch Prismen und nicht durch halbdurchlässige Spiegel erfolgt.

Die anderen Farbfilmverfahren benutzen Mehrschichtfilme, die nach dem Prinzip der chromogenen, d. h. farbstoffbildenden Entwicklung arbeiten. Rudolf Fischer entdeckte 1911, dass Oxydationsprodukte, die bei der Entwicklung einer Halogensilberemulsion auftreten, mit den der Emulsion oder dem Entwickler zugesetzten Kupplungskomponenten - auch Farbstoffbildner genannt- Farbstoffe bilden können.

Das Filmmaterial von Agfacolor - Ferraniacolor, Gevacolor, Pakolor und Sovcolor weisen nur geringe Abweichungen in der Verarbeitung auf - zeigt folgenden Aufbau: Die oberste Schicht bleibt unsensibilisiert, d. h. nur blauempfindlich, während die zweite grün-, die dritte rotsensibilisiert ist. Um von diesen beiden Schichten die Blaustrahlung fernzuhalten, wird unter die erste ein Gelbfilter aus kolloidalem Silber gelegt, der während der Entwicklung verschwindet. Durch die in die drei Schichten eingebauten Farbstoffbildner entsteht neben den Silberbildern in der blauempfindlichen Schicht ein Gelb-, in der mittleren ein Purpur- und in der untersten ein Blaugrünbild. Nach der Entwicklung werden alle Silberbestandteile durch Bleichung und Fixierung entfernt, so dass ein komplementärfarbiges Bild, das Farbnegativ, entsteht. Durch Kopieren auf gleiches Material entsteht der Positivfilm. Werden Grautöne mit leichter Färbung wiedergegeben, können diese Farbstiche mit entsprechend gefärbtem Kopierlicht ausgeglichen werden. (Der erste Spielfilm in Agfacolor war "Frauen sind doch bessere Diplomaten".) Bei Sovcolor wird der Positivfilm in allen Schichten gelb angefärbt, so dass die spezielle Gelbfilterschicht fortfällt. Ufacolor - das mit zwei Farben arbeitete - und Gasparcolor ordneten die Schichten auf der Ober- und Unterseite des Trägermaterials an. (Dipo- bzw. Tripo-Film).

Unter dem Namen Kodachrom gibt es zwei Verfahren. Das ältere benutzt zwei getrennte Negative, die auf einen Dipo-Film kopiert werden, während das spätere Eastmancolor, Ektachrom und Ektacolor entspricht. Hier zeigt das Negativ an den nicht oder nur schwach belichteten Stellen eine orangefarbige Maske, die dadurch entsteht, dass die sonst farblosen Farbkuppler in der grünempfindlichen Schicht gelb und in der rotempfindlichen orange sind. Der teilweise Verbrauch an Farbstoffbildnern während des Entwicklungsprozesses führt in der grünempfindlichen Schicht neben dem negativen Purpurbild zu einem positiven Gelbbild. Auf diese Weise werden Farbverschiebungen durch Fehlabsorption, d. h. durch Farbabsorptionen in benachbarten Spektralbereichen, vermieden, da die Absorption des gelben Farbstoffes für blaue Strahlen der Fehlabsorption des Purpurfarbstoffes im gleichen Spektralbereich entspricht. Das gleiche gilt für die rotempfindliche Schicht. Im Positivfilm sind die Farbkuppler farblos. Bei Eastmancolor ist abweichend von den anderen Verfahren die Reihenfolge der Schichten anders gewählt: Die oberste ist grün-, die mittlere rot-, die direkt auf dem Träger blauempfindlich. Während Eastmancolor besonders für kräftige Farben geeignet ist, geben Technicolor und Agfa die Pastellfarben gut wieder.

Ein noch in der Entwicklung stehendes Verfahren arbeitet mit metachromischen Farben, die nur in Öl gelöst lichtempfindlich sind. Diese werden in mikroskopisch kleinen Trockenkapseln auf einen Träger aufgebracht. Zerquetscht man nach der Belichtung die Kapseln im Dunkeln, so verdunstet das Öl und die Farben sind fixiert. Vorläufig liegen jedoch keine gleichmässig und ausreichend sensitiven metachromischen Farben vor.

Ein besonderes Problem bei Farbfilmen war anfangs die Tonspur. Die übliche Fotozelle ist für Farbtonspuren nicht empfindlich genug, was geringere Lautstärke oder mehr Grundgeräusche als beim Schwarzweissfilm zur Folge hat. Hinzu kommt, dass Farben nicht so kontrastreich abgestuft werden können wie die Grautöne des Silberbildes. Dies bringt eine Verschlechterung des Frequenzganges mit sich. Um eine Schwarzweiss-Tonspur zu erhalten, darf der Silberbleichprozess nur auf den Bildteil erstreckt werden, oder es muss - wie bei Sovcolor - nach der Farbentwicklung eine nur auf die Tonspur begrenzte Wiederentwicklung des Silberbildes durchgeführt werden.       Hartmut Birett

Literatur:
Wege zur Farbfotografie, Heinrich Kluth, Orionbuch Nr. 61, 1953, Verlag Sebastian Lux, Murnau/Obb.
Filmlexikon Reinert, Verlag Benzinger & Co., Einsiedeln/Schw.,1946
Film, Jugend, Schule, Gelsenkirchen, 4x jährlich, Nr. 25 = 1960 I.


I married a witch (Meine Frau, die Hexe)
Produktion: Cinema Guild Productions (USA) 1942; Regie: René Clair; Buch: Robert Pirosh und Marc Conelly nach Thorne Smith; Kamera: Ted Tetzlaff; Musik: Roy Webb; Darsteller: Frederic March, Veronika Lake, Robert Benchley, Susan Hayward, Cecil Kellaway.
Der Bewertungsausschuss hat dem Film das Prädikat "wertvoll" verliehen. Der Film gehört zu jenen Schöpfungen R. Clairs, in denen der Reichtum der Einfälle und der fanatischsurrealistischen Sequenzen zu einer geschlossenen und stilreichen Form zusammengegossen sind. Die Möglichkeiten des surrealistischen Bildes werden hier benutzt, um die verschiedenen Arten der "Benebelung" (hier im Film ganz im wörtlichen Sinne) zu persiflieren. Die weissen Wölkchen, in denen die Hexe und ihr Zauberpapa verborgen sind, benebeln sowohl den Taktiker der Politik, der eben im taktisch richtigen Moment heiraten will, wie auch seine Wähler. An wem die Wölkchen vorüberziehen, hat seine liebe Not mit den Benebelten. Der Stoff wird obenhin und in einer leichten, spielerischen Manier behandelt, doch sind alle Szenen treffend, witzig und manchmal auch von einem bedeutsamen Humor. Die witzig-kunstvolle Art bewährt sich auch in jenen Szenen, die durch die Wiederholung der gleichen Situation wirken sollen.       Filmbewertungsstelle der Länder

Im Jahre 1935 drehte René Clair seinen ersten Film in englischer Sprache: "The Ghost Goes West" (Das Gespenst zieht nach Westen), der von einem amerikanischen Millionär handelt, der ein schottisches Schloss kauft, es nach Amerika schaffen lässt und darauf besteht, dass auch das zum Schloss gehörige Gespenst mit hinüberfährt. Was Clair in diesem Film noch ein wenig hölzern inszeniert, hat er sieben Jahre später, nach seiner Emigration nach Hollywood, in eine abgeklärte und logisch aufgebaute Form gebracht. Die Welt der Geister und Hexen beherrscht er mit seinen raffinierten Tricks und seinem gewohnten Phantasiereichtum fast zu gut. Man hat Vergnügen an diesem Film, doch wird mehr der Verstand als das Gefühl angesprochen.       HBi
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Über den Dächern von Nizza (To catch a Thief)
Produktion: Paramount (USA) 1955; Regie; Alfred Hitchcock;; Buch: John Michael Hayes; Darsteller: Cary Grant, Grace Kelly, Jessie Royce Landis, John Williams.
Unter der bewährten Hand von Alfred Hitchcock ist der Film zu einer höchst amüsanten, parodistischen Kriminalgeschichte geworden. Ein jeder bewegt sich gerade um so viel überbetont und übersteigert, dass der Zuschauer ihn und seine Handlungsweise nicht mehr als real und ernst gemeint hinnehmen kann. So kommt ein wunderbar gelöstes Spiel zustande, an dem man nur sein helles Vergnügen haben kann. Der deutsche Dialog ist geschliffen und voller witziger Pointen. Ein Lob dem Verfasser! Als ein Meister der Regie erweist sich wieder Alfred Hitchcock, der mit leichter Hand die Schauspieler führte und sie doch spielen liess. Der Film ist gespickt mit netten kleinen Einfällen, die fast immer seinen leicht karikierenden Charakter betonen. Der Schnitt ist sehr geschickt und vermag oft Bildfolgen von grosser Aussagekraft zu schaffen. Schlechthin hervorragende Arbeit hat der Kameramann geleistet, sei es nun in Panorama- oder Grossaufnahmen. In schönen Farben ist die bezaubernde Landschaft der Riviera auf die Leinwand gebracht worden.
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Der Tod eines Radfahrers (La Muerte de un Ciclista)
Produktion: Guion, Suewia, Madrid/Trionfalcine, Rom 1955; Regie und Buch: Juan Antonio Bardem; Kamera: Alfredo Fraile; Musik: Isidro Maiztegui; Darsteller: Lucia Bosé, Alberto Closas, Otello Toso, Bruna Corra.
Der erste Film, den Bardem nach der Trennung von Berlanga selbst inszenierte, hiess "Comicos" und war eine eindrucksvolle Studie aus der Welt des Theaters. Schon seine zweite Arbeit, der "Tod eines Radfahrers", fand internationale Anerkennung. Der Sozialkritiker Bardem kleidete hier seine Kritik in das Gewand eines spannenden Thrillers, der das breite Publikum ebenso anzuziehen vermochte wie das kleine Häuflein der Cinéasten. Durch den "Tod eines Radfahrers", den die junge Frau eines reichen Industriellen verursacht, wird eine Kettenreaktion menschlicher und sozialer Handlungen ausgelöst, deren Verlauf bedenkliche gesellschaftliche Verhältnisse aufdeckt.       Süddeutsche Zeitung, 30.5.59

"Der Tod eines Radfahrers" ist ein ernstes, überzeugendes und packendes Werk. Es hat zwar Mängel, die weniger die der Jugend sind als die eines Temperamentes, das bisher zu flüchtig im Kontakt mit dem Filmschaffen des Auslandes war und das zu verschiedene Einflüsse aufgenommen hat, ohne der Entwicklung der verschiedenen Schulen folgen und genau unterscheiden zu können, was schon vorbei ist und was noch gilt. Aber Bardem gehört sicher zu dieser neuen Generation von Filmschöpfern, die nur aus dem Film selbst und aus nichts anderem stammen: Das ist die Hauptsache.
Es wäre jedoch ungerecht, wenn man sich beklagen wollte. Bardem allein ist das ganze ernst zu nehmende spanische Filmschaffen, ich würde diese Einwände nicht machen, wenn sein Werk nicht diese Bedeutung und wenn sein Film nicht so viel Resonanz und Einzigartigkeit hätte. Es ist zweifellos meine Sache, wenn mir "Comicos" vielleicht lieber ist, denn dieser Film erscheint mir einfacher und packender. Aber wir wollen den "Tod eines Radfahrers" nicht unterschätzen unter dem Vorwand, dass einem der Film nüchterner und schärfer lieber gewesen wäre. Es ist einer der wichtigsten Filme des Jahres, wichtig für Spanien und wichtig an und für sich. Es besteht kein Zweifel, dass das Talent Bardems sich noch entwickeln wird, dass er, wenn er sich seines eigenen Wertes bewusster wird, sein Herz mehr sprechen lassen und sich weniger um die Techniken der anderen kümmern wird.       Jacques Doniol-Valcroze, Cahiers du Cinéma, Oktober 55
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Rififi (Du Rififi chez les Hommes)
Produktion: Indus/Prima/Pathé, Frankreich, 1954; Regie: Jules Dassin; Buch: Jules Dassin; René Wheeler, Auguste le Breton nach dem gleichnamigen Roman von Auguste le Breton; Kamera: Philippe Agostini; Musik: Georges Auric; Darsteller: Jean Servais, Karl Mahner, Robert Manuel, Janine Darcey, Pierre Grasset, Robert Hossein, Marcel Lupovici, Dominique Maurin, Magali Noel, Jules Dassin.
Es war vorauszusehen, dass sich die meisten Auseinandersetzungen über Jules Dassins "Rififi" an der Frage entzünden würden, ob dies ein moralischer Film sei oder ein unmoralischer. Von den Hütern der Moral konnte man hören, hier seien bedeutende filmische Kunstmittel zur Heroisierung von Verbrechern eingesetzt worden - mithin ein unmoralischer Film; von den Libertinisten, Dassin habe an einem abschreckendem Beispiel demonstrieren wollen: crime doesn't pay - also ein moralischer Film.
Die bestallten Moralhüter glauben mit beneidenswerter Sicherheit wie eh und je, sich auch im Falle von "Rififi" nicht erst lange Gedanken machen zu müssen. Verbrechen bleibt Verbrechen. Während die andere Seite immerhin leidenschaftlich argumentiert: Wie könne von einer Idealisierung die Rede sein, wo die Gangster doch so eindeutig als leere Menschen gekennzeichnet seien? Tony der Sanfte wünscht sich nach dem gelungenen Einbruch "nichts", und die kleinbürgerlichen Träume seiner drei Komplizen dürften kaum dazu angetan sein, unsere Phantasie in unerlaubte Richtungen hin zu beleben. Oder wie könnte man die Worte von Jos Frau überhören, die die ganze Moral des Films enthielten? Sie sagt zu ihrem Mann, nachdem ihr kleiner Sohn von den feindlichen Gaunern gekidnappt worden ist: "Es gibt tausende, die wie du im Elend geboren und gross geworden sind. Warum musstest du ein Verbrecher werden, ein so ,harter Macker'? Welcher Unterschied besteht bloss zwischen dir und anderen Männern? Hast du dich nicht einmal selbst gefragt, ob die wirklich ,harten' ihr seid oder nicht vielmehr die, die ihren Unterhalt verdienen, indem sie arbeiten!" (Diese so wichtige Dialogstelle ist in der deutschen Fassung leider so verändert, dass sie einen sentimentalen eher denn einen moralischen Sinn erhält.) Man sieht, die Libertinisten sind gar nicht libertin. Sie sind eigentlich nur die intellektuell Redlichen, und sie pflegen genau hinzuschauen.
Dassin ist der Vorwurf nicht zu ersparen, dass er aus dem Thema bei weitem nicht das gemacht hat, was zu machen gewesen wäre. "Rififi" zerbricht in zwei Teile. Und damit zerbricht die Kunst Dassins: der erste Teil verspricht einen problemschwangeren (sozialkritischen?) Film, der zweite speist unsere Erwartungen nur noch mit formalen Gags; der erste Teil ist dokumentarisch und im psychologischen Abriss der vier Hauptgestalten eine Delikatesse, im zweiten wird am laufenden Band gekillt.
Da machen sich vier mit Humor und Stoizismus ausgestattete Burschen daran, mit unheimlicher Präzision die Pariser Filiale von Mappin & Webb auszunehmen. Dreissig Minuten (!) Stille. Nur Tanz von Licht und Dunkel, Blicken und Gesten, Linien und Flächen. Das Hantieren mit Meissel, Hammer, Strick, Regenschirm und Bohrmaschine verwandelt sich in abstrakte Bewegung, der Bewegung teilen sich Rhythmus und Melodie mit _... Der Zuschauer kommt währenddessen gar nicht auf den Gedanken, hier geschehe eine Untat (womit nicht gesagt sein will, es gäbe keine Kinogänger ohne Organ für Poesie). Aber soweit nun auch die vier davon entfernt sein mögen, jemandem Leid zuzufügen (wie behutsam gehen sie mit dem Portiersehepaar um!), hier sprechen wir wie die Moralprediger: Einbruch ist Einbruch. Und was wir von Dassin erwarten, ist eine Antwort, oder wenigstens deren Versuch. So bestaunenswert schlicht und veristisch sich der erste Teil gibt (Agostini fotografiert, nebenbei bemerkt, in echten Innenräumen und auf den Strassen von Paris) - der zweite wird zur formalen Orgie. Das Finale: Der waidwundgeschossene Tony rast mit dem geretteten Kind seines toten Freundes Jo im Auto durch die Avenuen am Etoile dem Ende seines hündischen Lebens zu. Vor einem trostlos verschleierten Himmel zertanzen die Silhouetten der blätterlosen Zweige der Alleebäume zu wirr verschlungenen Fäden und ins Nichts. Wie ein französischer Kritiker richtig empfand: man transzendiert. Diese Schlussmontage gehört zu den besten Filmgedichten, die ich kenne (die der Avantgarde eingerechnet), viel zu schade für das, was voraufgeht. - Vielleicht macht Dassin eines Tages den Film, den er vollkommen frei wählen und gestalten kann, von der Vorlage bis zum Schnitt.       (Theodor Kotulla in film 56.1 - gekürzt.)
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Bellissima (Bellissima)
Produktion: "Film Bellissima s.r.l.", Italien, 1952; Regie: Luchino Visconti; Buch: Suso Cecchi d' Amico, Francesco Rosi, Luchino Visconti nach einer Novelle von Cesare Zavattini; Kamera: Piero Portalupi, Paul Ronald; Musik: Franco Mannino; Darsteller: Anna Magnani, Walter Chiari, Tina Apicella, Gastone Renzelli, Alessandro Blasetti.
"Hässlich mit Augen, die verschlingen, das schwarze Haar wild und ungepflegt, die Stirne rund und hoch, die Geste fieberhaft, doch von kräftigem Humor und bluthafter Kraft des Gefühls und strömend in der Güte: so erschien sie als Frau aus dem Volk", schreibt Martin Schlappner über Anna Magnani in seinem Buch "Von Rossellini zu Fellini". Und fährt fort: "Mag sie sich in den Rollen solcher Frauen, die sie in der Folge darzustellen hatte, immer auch nach Sinn und Erfordernis gewandelt haben, so blieb ihr Gesicht doch stets diese gleiche elementare Landschaft des Menschlichen, kam ihre Geste stets in dieser Unmittelbarkeit, die braust wie ein Sturm, faltete sich ihr Gefühl stets aus in die Wahrhaftigkeit, die universal ist. Sie ist die romanische, die römische Frau, aber nicht die Frau, die sich nach dem Modell des folkloristisch oder damenhaft Gängigen richtet, sondern einmalig ganz und gar ist sie, einmalig vor allem in der strahlenden Kraft der Beobachtung und der Darstellung, dieser rauschenden Poesie des Lebens. Ihre reifste Kunst hat sie wohl in Viscontis ,Bellissima' gezeigt."
"Bellissima" ist die Geschichte einer einfachen, italienischen Arbeiterfrau, die plötzlich vom Filmfimmel gepackt wird. Nicht sie selbst will zum Film, sondern ihre kleine, achtjährige Tochter soll nach ihrem Willen auf der Leinwand Ruhm ernten. Und es ist weiter die Geschichte der grossen Enttäuschung von dem widerlichen und herzlosen Kinderstarrummel, aber auch die versöhnliche Geschichte von der "Rückkehr zur Wahrheit des Gefühls, zur Mutterliebe, zu einem neuen Anfang".
Man könnte meinen, dieser Film sei eine Auseinandersetzung in foro zwischen Neoverismus und dem Kino der weissen Telefone. Aber das wäre zuviel gesagt. Wenn dieser Film eine Tendenz hat, so verschwindet sie hinter der starken, leidenschaftlichen Schilderung eines Einzelschicksals.
Luchino Visconti schuf ein paar Jahre vorher mit "La terra trema" einen der Höhepunkte des italienischen Neoverismus. Aber er ist kein "typischer" Neoverist. Er ist hauptsächlich Theaterregisseur, ein eigenwilliger zwar, aber durchaus ein Handwerker des Theaters, der in allen Stilarten zu Hause ist. "Bellissima" ist lediglich veristisch in seiner Authenzität. Die Schauplätze, die Aufnahmetechnik, die peinlich genaue Schilderung des Lebens der kleinen Leute, das alles ist so wahr, wie es nur der italienische Nachkriegsfilm beobachtet hat. Die Cutterin Iris und viele andere spielen in diesem Film ihr eigenes Schicksal. Der Altmeister des italienischen Films spielt sich selbst: den berühmten Regisseur Blasetti.
Die "Neue Zürcher Zeitung" schreibt: "Visconti erzählt diese Geschichte ohne jeden Anflug des Melodramatischen, ohne jede Spur von Sentimentalität und gerade darum erschüttert sie. Seine Bildsprache ist von höchster artistischer Bewusstheit, aber sie wirkt nie gekünstelt. Es wird sehr viel geredet in diesem Film, der sehr italienisch ist, Katarakte von Worten fallen über einen herab, und doch - alles Entscheidungsvolle geschieht im Bild, geschieht im Hintergrund, im Symbol verschlüsselt, alle Rede - so scheint es - ist nur da, damit das übermächtige des Gefühls, das leidenschaftlich, gefährlich und gewalttätig Schöne im Schweigen bestürzend, ergreifend, beglückend fühlbar werde."
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Quai des Orfèvres (Unter falschem Verdacht)
Produktion: Majestic-Film, Frankreich, 1947; Regie: Henri-Georges Clouzot; Buch: Jean Ferry und Clouzot nach einem Roman von Steemann; Kamera: Armand Thirard; Musik: Francis Lopez; Darsteller: Louis Jouvet, Bernard Blier, Suzy Delair, Simon Renant, Charles Dullin.
"Als der Film auf der Biennale in Venedig gezeigt wurde, rief er eine wirkliche Sensation hervor. Einzelne Kritiker befassten sich mit dem Drehbuch, das offene Schwächen aufweist und nicht frei von Unwahrscheinlichkeiten ist. Aber alles war sich darin einig, dass man der Darbietung eines überlegenen Stils beiwohnte.
Von den ersten Bildern ab verleiht Clouzot der Handlung einen ausserordentlichen Rhythmus. Es gelingt ihm, geschickt zwei Darstellungen übereinander anzuordnen, denen ohne Aufhören zwei akustische Ebenen entsprechen. Die Hauptgestalten erleben das Drama, und hinter ihnen rollen die Nebenepisoden ab, deren einziger Zweck es ist, die Atmosphäre eines bestimmten Berufsmilieus zu schaffen. Die Atmosphäre des Variétés und der Nachtlokale, da die Heldin eine Kabarettsängerin ist.
Die Existenz dieser zweiten Ebene gestattet es, verblüffende Verbindungen zwischen den Hauptszenen zu schaffen. Der Zuschauer hat keine Zeit mehr zum Atmen. Später beschreibt Clouzot das Milieu der Polizei und - eine äusserst seltene Sache im Film - das Milieu der Journalisten mit einer nicht weniger eindrucksvollen Richtigkeit im gleichen Tempo. Ein weiteres Verdienst: Der Regisseur elektrisiert die Darsteller, von denen auch noch der geringste mit Begeisterung einem Jouvet nacheifert, wie er nie besser war. Virtuosität von einem Ende zum anderen! Das ist ,Quai des Orfèvres'. Genügt Virtuosität für alles? Man muss es hier wohl zugeben, denn Henri Clouzot macht aus einem Film, der sonst irgendein Film hätte sein können, ein Werk ersten Ranges."       Louis Chauvet im "Figaro"
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Der Kanal (Kanal)
Produktion: Film Polski, 1956; Regie: Andrzej Wajda;Buch: Roman Mann,Halina Krzyanowska, Roman Wolyniec nach der gleichnamigen Erzählung von J. S. Stawinski; Kamera: Jerzy Lipman; Musik: Jean Krenz; Darsteller: Teresa Isewska, Tadeusz Janezar, Teresa Berezowka, Emile Karewiec, Wiencyslaw Glinski.
"Das ist unerträglich. Das ist aber auch sehr grosse Filmkunst", schrieb in Cannes der Korrespondent einer Pariser Tageszeitung nach der Vorführung von "Kanal". Ist darunter zu verstehen, dass grosse Filmkunst unerträglich ist oder dass ein Film unerträglich sein kann und trotzdem sehr grosse Filmkunst? Wir berühren damit das Schlüsselproblem des ganzen Filmschaffens im Osten, das 1949 unter die Edikte Shdanows fiel, mit positiven Helden, revolutionärer Romantik usw. Eines Tages ist die Lüge geplatzt, das goldene Kalb stürzte zusammen und lieferte eine ganze Jugend der Verlassenheit und der Verzweiflung aus. Einer heilsamen Verzweiflung, die es erlaubt, den Bodensatz einer geschraubten Dialektik wegzufegen, die Augen für das Wirkliche zu öffnen, für das Elend rings umher und für das enttäuschende Morgen.
Die Botschaft Wajdas würde uns nicht anrühren, wenn sie nicht der Ausdruck einer erbitterten Revolte wäre und wenn diese Revolte nicht in wesentlich filmischen Mitteln ausgedrückt würde. Wajda verleiht dauernd dem Augenblick sein Gewicht, der einfachen Anstrengung des einzelnen, oder er projiziert seine Kamera in einen Raum, dessen Koordinaten nichts Willkürliches haben. Man könnte ihm sogar eine übertriebene Virtuosität vorwerfen: die geheime Zusammenkunft der "Generation" (früherer Film Wajdas, die Red.) mit der ausserordentlichen Fahraufnahme im geschlossenen Kreis über die Gesichter der Verschworenen; die Ouvertüre von "Kanal", ein deskriptives Anthologiestück, das eines Chateaubriand würdig ist, ein beispielhaftes In-die-Situation-Setzen der Gestalten innerhalb eines Dekors durch eine Fahraufnahme, die eine halbe Rolle dauert. "Kanal" ist auf dem heftigen Kontrast zwischen dem blendenden Licht der Freiluftszenen und dem dämmerigen Halbdunkel der Kanalszenen aufgebaut. Mit "Kanal" wird jedoch der Atem des Regisseurs grösser, der kurze Schnitt wird aufgegeben zugunsten langer Sequenzeinstellungen, der Mensch wird mehr in seiner Anstrengung gezeigt und weniger idealisiert. Nach dem Tauwetter von 1956 kann Wajda jedoch auch mehr seiner Liebe zum surrealistischen Detail nachgehen: das junge Mädchen mit dem abgeschnittenen Bein, der sich an einer Mauer festklammernde Tote, die Leiche im Schlamm. Gegenüber "Generation" erhebt "Kanal" den Gesang der Liebe und des Widerstandes noch um zwei Töne höher: auf der einen Seite die sublime Liebesgeschichte zwischen Gänseblümchen und Korab, der vor Fieber nichts mehr sieht; auf der anderen Seite der Bruch zwischen Halinka und ihrem grossen Blonden, der ihr verborgen hatte, dass er verheiratet ist. Zwei wunderbare Einstellungen, die Gipfel des Films: Gänseblümchen stützt Korab vor dem vergitterten Ausgang zur Weichsel; Halinka tötet sich links von der Leinwand im Halbdunkel, während sich ihr feiger Liebhaber überrascht umwendet.       Louis Marcorelles in den "Cahiers du Cinéma"
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Das grosse Manöver (Les grandes Manoeuvres)
Produktion: Filmsonor - Rizzoli, Frankreich-Italien, 1955; Regie: René Clair; Buch: Jerome Geronimi, Jean Marsan, R. Clair; Kamera: Robert Lefèbvre; Musik: Georges van Parys; Darsteller: Gérard Philipe, Michèle Morgan, Brigitte Bardot, Simone Valère, Lise Delamare, Jacqueline Maillan.
René Clair: Bei den meisten für die Leinwand erdachten Stoffen ist die Liebe ein Beiwerk, das routinemässig und gewissermassen "zusätzlich" in die Handlung verflochten wird. Um von vornherein jedes Missverständnis auszuschalten, will ich gleich betonen, dass es in diesem Film einzig und allein um die Liebe geht: Ein Herzenserlebnis bildet den Angelpunkt des Geschehens. Heinrich Heine sagte einmal, jeder Mensch müsste einen "Faust" schreiben. Man könnte diesem Ausspruch hinzufügen, dass jeder Autor zweifellos früher oder später daran gedacht hat, einen "Don Juan" zu schreiben. Auch "Das grosse Manöver" stellt eine der unzähligen Variationen über dieses ebenso berühmte wie unerschöpfliche Thema dar. Ich hätte meinen Film also "Mit der Liebe spielt man nicht" benennen können, wenn dieser hübsche Titel nicht schon mit einem klassischen Meisterwerk des Theaters verbunden wäre. Der Titel "Das grosse Manöver" erschien mir aber im Grunde auch passender für eine Geschichte, deren Held ein junger, unwiderstehlicher Don Juan in der flotten Uniform eines Kavallerieleutnants ist. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, diesem zwischen Komödie und Drama schwingenden Thema Gesicht und Atmosphäre zu geben.
W. Schwerbrock (Frankfurter Allgemeine Zeitung): Das historische Kolorit, das Bunt der Uniformen, Hüte, Schleier, Reifröcke und Sonnenschirme lassen René Clairs Absichten deutlich erkennen. Da gibt es eine Reihe von Motiven, die etwas von der Technik und Thematik der Malschule von Barbizon hindurchschimmern lassen. Ein Nebeneinander von kleinsten Farbteilchen, die mit faszinierender Fluoreszenz die Lichtbrechung, das Flimmern der Farben wiedergeben, lässt an die Aera von Degas oder Cézanne denken. Manets sonnenschirmtragende Dame aus "Les Printemps" in Handschuh, Seidenmieder, blumengeschmücktem Hut taucht in einer Nebenrolle auf. Kurzum, der ganze Impressionismus passiert Revue. Ulrich Gregor (Film 56): Eine höchst zwiespältige Reaktion hat dieser Film hervorgerufen. Die Kritiker der "progressistischen" Länder haben ihm seine mangelnde Bereitschaft zum Engagement vorgeworfen, das sie in dieser galanten Geschichte um einen Kavallerieoffizier im 19. Jahrhundert vermissen. So entrüsteten sich die Kritiker des "Express" - des Organs von Mendès France - anlässlich der Uraufführung in Moskau: "Nicht dieses Frankreich der belle époque mit ihrem lustigen Garnisonleben und -lieben hätten wir den Russen zeigen dürfen _... Dieser Film wird im Ausland vielleicht Sympathien für René Clair wecken, nicht aber für Frankreich."
Und während einige impertinente Zungen behaupten, "Les grandes Manoeuvres" sei "der Film eines Greises", ergehen andere Kritiker sich in Lobeshymnen. "Unbestreitbar ein Meisterwerk", nannte ihn François Bondy, und die "Cahiers du Cinéma" feierten ihn als "Clairs besten Film seit ,Schweigen ist Gold'."
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Los Olvidados (Die Vergessenen)
Produktion: Ultramar-Films, Oskar Dancigers, Mexiko, 1950; Regie: Luis Buñuel; Buch: Luis Buñuel und Luis Alcoriza; Kamera: Gabriel Figueroa; Darsteller: Stella Inda, Miguel Inclan, Alfonso Meija, Roberto Cobo.
"Los Olvidados" ist der dritte Film, den Buñuel in seiner neuen Heimat Mexiko geschaffen hat. Er schildert das Leben und Treiben einiger Halbwüchsiger in den Slums von Mexikos Hauptstadt. Diese Bande verwahrloster Jugendlicher schreckt selbst davor nicht zurück, hilflose Krüppel und Blinde zu überfallen und auszurauben. Einer von ihnen ist Pedro, der im Grunde ein guter Mensch ist und ein anständiges Leben führen möchte. Als er des Diebstahls verdächtigt wird, läuft er davon und treibt sich herum. Nachdem er kurze Zeit in einer Erziehungsanstalt verbracht hat, trifft er mit dem Anführer der Bande zusammen. In der Auseinandersetzung zwischen den beiden wird Pedro erschlagen.
Der Film kann nicht einfach als sozialkritisch angesehen werden, denn Buñuel hat kein standardisiertes soziales Bewusstsein. Erbarmungslos zeigt er uns, dass die Wurzeln des Übels, das die Welt regiert, tiefer sitzen als in einer aus den Fugen geratenen Gegenwart. Die Schweizer Filmzeitschrift "Filmklub - Cinéclub" schreibt in ihrer Nummer 24, die dem Filmschaffen Luis Buñuels gewidmet ist:
"Der Film, der gleichsam ins Herz von Mexiko City dringt, ist keine intolerante Anklage, kein einseitiges Manifest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung. Buñuel ist auch weit davon entfernt, die Armen zu idealisieren: Der blinde Bettler entpuppt sich als grausam und gnadenlos; die Mutter im Elendsviertel gibt sich dem Freunde ihres Sohnes hin; der arme Bauer setzt seinen Knaben im Grossstadtlabyrinth aus. Charakterarmut und materielle Not gehen Hand in Hand. Aber Buñuel wühlt nicht im Elend; er ist - trotz seines Pessimismus - kein sturer Schwarzseher, wie es manche Neorealisten nach ihm wurden, nur weil sich mit der Darstellung der Armut so leicht Effekte erzielen lassen. Buñuel besitzt zudem instinktiv eine echte poetische Kraft, eine Zärtlichkeit etwa für Kinder, die nicht aufgesetzt ist. Einige vereinzelte Konzessionen lassen sich in "Los Olvidados" erkennen. Am Schluss des Films beispielsweise, als der Direktor der Erziehungsanstalt in die Worte ausbricht: ,Ich wünsche bei Gott, wir könnten der Armut alle Tore verschliessen.' Buñuel verhehlt heute nicht, dass er mit solchen Szenen nachträglich keineswegs einverstanden ist: Nicht, weil er alles Gute, alles Hoffende restlos ablehnen würde, sondern weil dadurch seine Grundkonzeption - das Verlorensein eines jeden Wesens, in menschlicher wie auch sozialer Hinsicht - einige leicht sentimentale Aufgesetztheiten erhält."       ams
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Der Weg nach oben (Room at the Top)
Produktion: Remus-Film, London, 1959; Regie: Jack Clayton; Buch: Neill Paterson nach dem Roman "Room at the Top" von John Braine; Darsteller: Simone Signoret, Laurence Harvey, Heather Searts, Donald Wolfit, Ambrosine Phillpotts, Donald Huston.
Der Film hat seine Note, ein paarmal, wenn er wie ein müder Gaul dem ausgedroschenen Stroh des heimatlichen Stalles zustreben möchte, macht er streng mit sich und pflichtbewusst eine. Kehrtwendung, und trabt wieder, ein bisschen stolpernd zwar, aber nicht ohne Stolz auf die ungezäunte Koppel des Anstössigen, dahin, wo allenthalben Hindernisse einer schwierigen Moral zu überspringen sind. Dabei haben wir es auf den ersten Blick mit dem aus mancherlei soziologisch bestimmter Literatur vertrauten Streber zu tun, dem Volksschulersten der Vorstadt, der sich des proletarischen Klassenbewusstseins längst begeben hat, der sich seines Vaters heute schon schämt, halb aber auch seine Herkunft als Wurfgeschoss in die feinere oder auch nur eine Generation früher hochgekommene Gesellschaft schleudert, trotzig und herausfordernd, aber nicht aus Selbstbewusstsein, sondern aus empfindlicher Intelligenz.
Ein nicht ganz gewöhnlicher Bursche also, der aber doch zunächst nur besonders scheint durch den gewissenlosen Zynismus, durch den rohen Hochmut, der auf den Platz an der Spitze wie auf eine Siegestrophäe als Schmuck für sein kahles Herz lauert. Das möchte er vor allem mit der lieblichen Tochter des mächtigen Selfmademannes der Kleinstadt möblieren; aber auch, schon wählerischer im geistigen Geschmack, mit der reifen Französin, die eine unglückliche Ehe in das britische Industrienest verschlug.
Zu beiden Frauen treibt ihn der Ehrzeig, sich kostbarer zu machen: für den Platz hinter dem Schreibtisch und den im Bett. Aber nun ist es keineswegs so, dass ihm das Drehbuch den entscheidenden Endspurt bequem geebnet hat, wiewohl es immer wieder ganz so aussieht; schliesslich ist ja die Industriellentochter das knusprige, ihm überdies himmlisch leicht und irdisch fest zugefallene Kind, und die Verheiratete, bei der er die Defekte seiner proletarischen Sexualität verfeinert, ist die wohl 20 Jahre Ältere, die durch viele Leiden schon ein wenig Morsche, mit der es "ohnehin nicht lange gut gehen könnte"
Aber da nun kommt das Vertrackte, da schlagen die Briten mutwillig den Haken und wenden das fabelhaft Gesunde, das die Leute schläfrig und kundig erwarten, ins extreme Gefühl, das seinen Glanz aus dem Fieber bezieht: Der Widerstand, der dem Jungen zu schaffen macht, kommt aus ihm selbst. Er verliebt sich nicht in die reiche Kleine- die Unschuld, die sie ihm, betulich und possierlich auf dem Tableau der Ewigkeit serviert im Heuschober abtritt, lässt ihn kalt - er liebt die Andere, sie ist die Ewigkeit, fast verschwenderisches Spiel in jedem grossen, schlingenden Augenblick, die nutzlose Leidenschaft ist herrischer als das kühle Kalkül, er hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit sich selbst Simone Signoret, die in Cannes dafür die Palme als beste Schauspielerin bekam hat ein Gesicht, bedeutend und gross, schön auf eine ansaugende Art, in der das Gefährliche das Tödliche aus der Phantasie des Kopfes, aus der Geistigkeit des Herzens kommt.       Karena Niehoff in "Der Tagesspiegel" 9-8-59
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Casque d' Or (Goldhelm)
Produktion: Speva-Film-Paris-Film, Frankreich 1952; Regie: Jacques Becker; Buch: Jacques Becker und Jacques Companeez; Kamera: Robert Lefèbvre; Darsteller: Simone Signoret, Serge Reggiani, Claude Dauphine, Raymond Bussiers.
Paris um die Jahrhundertwende: Wie ein Katalysator zwischen Gut und Böse wirkt dieses Mädchen Marie mit den blonden Haaren, dessen Attraktivität nicht nur ihre Bandenfreunde, sondern auch Aussenstehende in Bann schlägt. Sie selbst, Prisengut der auch Gestrandeten, verliebt sich in einen Outsider, den Zimmermann Manda, der auf diese Weise ungewollt in das Gangster-Unwesen hineingezogen wird. Maries Versuche, ihn herauszuhalten, misslingen. Mit echter Zwangsläufigkeit geht Manda den Weg zum Schafott, weil er sich nicht bedrohen, nicht erpressen lässt und die Justiz in eigene Hände nimmt. Als in Frankreich bekannt wurde, dass Becker den "Casque-d' Or"-Stoff verfilmen und in der Nacherzählung eine wahre Begebenheit des Fin du siècle in Paris darstellen wolle, die sich um die Gangsterbraut Marie und ihre Liebe zu einem bislang in den Akten der Polizei nicht geführten Zimmermann drehte, kamen einige findige Verwandte der historischen Marie auf den Gedanken, mit Hilfe eines Prozesses aus dem verfilmten Schicksal der Marie "Marie" zu machen, der ach so reichen Filmproduktion ein paar Hunderttausender zu entlocken. Nun, eins wurde bei dieser Gelegenheit auch den Nichtkennern der Historie und der Histörchen um Marie klar: Hier lag offensichtlich ein geschichtlicher Stoff einem Film zugrunde, der als historische Wahrheit nicht fortzudiskutieren war.
Jacques Becker hat von diesem seinem Film gesagt, er sei ein "Zeitgemälde zwischen Renoir und Sue". Das ist verteufelt treffend ausgedrückt, der Film gar nicht besser zu charakterisieren. Die Kamera von Robert Lefèbvre kennt alle Nuancen von den Valeurs impressionistisch-romantischer Malerei bis zu beschwörendem Realismus und grellem Naturalismus. Zugleich erklärt damit der Regisseur unmissverständlich, was er geben will: ein Zeitgemälde. Also eine dokumentarische Berichterstattung über einen Fall" ein Erebnis und nicht etwa eine programmatische Aussage nach irgendeiner Seite- weder einen Werbefilm für die "lieben, armen Missgeleiteten" noch die Grossaufnahme eines erhobenen pädagogischen Zeigefingers.
Wenn man den Film als das nimmt, was er sein will, wird man auch seine intimen Reize und seine künstlerische Sprache entdecken. Es ist eine Entdeckung, die eine Columbusfahrt wert ist.       (J. W. Scheutzow, gekürzt.)
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Der achte Wochentag (Osmy Dzieii Tygodnia)
Produktion: CCC - Zespolu Studio, Deutschland-Polen; 1958; Regie: Aleksander Ford; Buch: Aleksander Ford und Marek Hlasko nach der gleichnamigen Novelle von Marek Hlasko; Kamera: Jerzy Lipman und Igor Oberberg; Musik: Kazimierz Serocki; Darsteller: bonja Ziemann, Zbigniew Cybulski, Bum Krüger, Ilse Steppat, Tadeusz Lomnicki, Jan Swidersky.
Es wird einen achten Wochentag geben. Möglich, dass der optimistische Schluss an diesen tristen, polnischen Film "Der achte Wochentag" des inzwischen emigrierten jungen Schriftstellers Marek Hlasko erst nachträglich, angefügt wurde. Die existenzialistische Not und der Weltschmerz einer Jugend äussern sich hier zwischen Trümmern, zugigen Bahnhöfen tropfenden Wasserhähnen, Regen und Alkohol, viel Alkohol, so monoton und magisch' dass der Zuschauer wie durch Tränen das heutige Warschau und eine verlorene Generation erblickt.
Wie in dem Film "Berliner Ballade" Otto Normalverbraucher in Wunschträumen grosse Zuckertorten sieht, erlebt hier das junge Liebespaar, das nirgends eine stille Ecke findet wo es einmal ungestört Zusammensein kann, im Keller eines Warenhauses - in den es unversehens gerät - sein Schlaraffenland. Und die Wodkaflasche ist nahe, die diesen Traum eine Weile andauern lässt. Es ist ein guter Einfall, dass dieser Teil des Schwarz-Weiss-Filmes in prallen Farben erscheint, obwohl die Farbdramaturgie noch mehr hätte tun können. (Wir sahen in dem amerikanischen Film "Bonjour Tristesse" einen ähnlichen Versuch) Der Film ist bedrückend realistisch und zugleich so dicht und voller Poesie, dass wir uns in ein italienisches Film-Polen versetzt fühlen und an "Das Dach" von de Sica denken müssen um einen Vergleich zu haben. Die sozialkritische Absicht ist in eine schlichte Erzählung von zwei Menschen eingewoben. Sie schildert freimütig, aber gar nicht böse, vielmehr mit verzweiteltem Humor, Zustände in dem heutigen Polen, was prompt das Verbot des Films zur Folge hatte. Aleksander Ford, der die graue Monotonie dieser Warschauer Bilder bis zum Schluss durchhält und mit so viel innerer Spannung erfüllt, hat aus dem deutschen "Schwarzwaldmädel" Sonja Ziemann eine östliche Frau mit einem fesselnden Gesicht gemacht; und ebenso eindrucksvoll ist der Pole Zbigniew Cybulski als junger Liebender. Wo gibt es einen deutschen Film, in dem Liebesszenen so echt und mit einer solchen Leidenschaft gespielt werden, dass Gefühl sichtbar wird? Ob diese Szenen ursprünglich zu heiss und zu frei waren, werden wir nicht mehr erfahren, da hier offensichtlich die Schere der Zensoren gearbeitet hat. Der Schluss, in dem der funkelnd neue, ersehnte Wohnungsschlüssel endlich in der Hand des Mädchens blinkt, macht die Geschichte nicht glaubwürdiger, aber er will trösten.       Erika Müller in "Die Zeit".
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Rückschau

Das Filmstudio zeigte im Wintersemester 1960/61 im ausserordentlichen Programm:

The General von und mit Buster Keaton, eine Story, in der eine Lokomotive und eine Kanone die Hauptrequisiten einer mit sich überschlagenden Einfällen gespickten Handlung abgeben.

Dr. Mabuse, der Spieler, der von Filmhistorikern als erster Gangsterfilm bezeichnet wird, ist in dem Artikel unseres Heftes ausführlich behandelt.

Das Testament des Dr. Mabuse, Langs letzter deutscher Film, war im März 1933 von den damaligen Machthabern verboten worden und konnte erst 1951 in Deutschland erstaufgeführt werden. Eine damals nach Frankreich geschaffte Schnittkopie wurde dort fertiggestellt. Eine zweite Fassung mit zum Teil anderen Schauspielern wurde daraufhin in England gedreht.

Panzerkreuzer Potemkin, dessen Vorführung zum gängigen Ritual eines jeden ambitionierten Filmklubs geworden ist, erhielt bei der Brüsseler Weltausstellung im Jahre 1958 nach einer Umfrage bei international bekannten Filmhistorikern die meisten Stimmen als der "bedeutendste Film aller Zeiten".

Arbeitssitzungen

Im Dezember und Januar führte das Filmstudio seine filmkundliche Arbeit in erweitertem Umfang in der Form von Arbeitssitzungen fort. Durch Vorführung von Filmen (aus dem Privatarchiv Paul Sauerlaender und der Filmothek Mainz) und kurze Referate wurde eine Einführung in die Filmkunde, in die Filmgeschichte (ihre Anfänge; Klamaukfilme, Lustspielfilme) und in den Dokumentarfilm gegeben. Die Arbeitssitzungen waren sowohl von studentischen als auch nichtstudentischen Mitgliedern gut besucht und brachten uns einige neue aktive Mitglieder.

Ein Ergebnis dieser Arbeit war eine neue hektografierte Publikation: die "filmstudionotizen". Die bisher erschienenen drei Nummern unterrichteten unsere Mitglieder über aktuelle Probleme des Films, zusätzliche Veranstaltungen und Änderungen im Programm des Filmstudios.

Der Nummer 3 wurde das Programm der Semesterferien beigelegt, da wir nicht in der Lage waren, ein "FILMSTUDIO"-Heft herauszubringen.

Ende des vergangenen Jahres konnte die vom Filmstudio zusammengestellte Dokumentation über die "Deutschen Filmtage Kiel 1960" herausgegeben werden. Sie enthält die Vorträge und die Zwischentitel der dort gezeigten Stummfilme.

Im Februar und März zeigte das Filmstudio zusammen mit der "Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit" eine Reihe von Filmen unter dem Titel "In jenen Tagen".
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