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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 48, Januar-März 1966

Inhalt
Gespräch mit Jean-Marie Straub
Jean Marie Straub: Daten
Gespräch mit Wolfgang Staudte
Bezeichnender Wandel in Kinofabeln (1932)
Zum Beispiel: Der ewige Jude
FBW und Grundgesetz
Rückumschlag
Der Fall Kolberg
Le Bonheur (Die Unmittelbarkeit des Glücks)
Die glorreichen Reiter

Gespräch mit Jean-Marie Straub

(Ausschnitte eines Gesprächs das am 24 November 1965 in Frankfurt am Main auf Tonband aufgenommen wurde. Die Fragen sind stark gekürzt, Gesprächspartner waren Barbara Bernauer, Wolfram Schütte und F. W. Vöbel)

Frage: Herr Straub, Sie haben sowohl in "Machorka Muff" als auch in "Nicht versöhnt" mit Laien gearbeitet. Warum?

Straub: Ich bin der Meinung, dass man mit Laien schneller zum Ziel kommt als mit Schauspielern. Ich müsste zu viel radieren; die meisten Schauspieler können nicht einmal mehr eine Tür aufmachen. Hinzukommt, dass Schauspieler Wörter betonen, eigene Vorstellungen von ihrer Rolle haben und Psychologie betreiben, was ich vermeiden möchte. Es könnte natürlich sein, dass ich eines Tages einen Film drehen möchte, der sich nur mit Schauspielern verwirklichen lässt. Ausserdem wollte ich ja zunächst die Rolle der alten Dame in "Nicht versöhnt" an eine Schauspielerin vergeben. Ich hatte an die Weigel gedacht, die ich für eine grosse Schauspielerin halte. Ich hatte sie mehrmals auf der Bühne gesehen, musste aber dann feststellen, dass sie erstens zu jung war und zweitens mit einem wienerischen Akzent sprach. Und sie sagte mir etwa: "Warum wollen Sie Schauspieler nehmen? Die sind doch auf der Leinwand alle schlecht." Ich habe mich dann anders entschieden und auch diese Rolle, von der ich dachte, dass sie nur von einer Schauspielerin übernommen werden könnte, einer Laiendarstellerin übertragen. Sie sehen also, dass es kein eisernes Prinzip ist, nur mit Laien zu arbeiten.

Frage: Warum sollte die alte Dame von einer Schauspielerin dargestellt werden?

Straub: Ich wollte sie Laiendarstellern gegenüberstellen und glaubte, ihre "Verrücktheit" liesse sich nur mit einer Schauspielerin darstellen. Ich habe dann aber erkannt, dass dies eigentlich ein Klischee war. Es war schon besser, ihr sechs Monate vorher den Text zu geben, ohne ihr zu sagen, in welchem Zusammenhang dieser Text dann zu sprechen war. Sie sollte auch nichts über die anderen Personen wissen, durfte den Roman vorher nicht lesen. Erst am letzten Drehtag hat sie dann entdeckt, dass sie eine etwas verrückte Person darzustellen hatte. In diesem Zusammenhang möchte ich Bresson zitieren, der gesagt hat: "Wenn die Berufsschauspieler nur einen einzigen Satz zu sagen haben, kommt bei ihnen doch etwas anderes heraus als der Text. Wozu Berufsschauspieler, wo ich doch Gesichter und Körper benötige, Wesen, die nicht in Erscheinung treten, sondern durchscheinend, transparent wirken sollen für das Licht der Idee _..." Bei mir war es einfacher. Ich hatte gewisse Vorstellungen von jeder Person und ich hatte einfach gewisse Gesichter vor mir, die ich unter den bekannten Schauspielern nicht fand. Mit Schauspielern wäre "Nicht versöhnt" ein steriler Film geworden. Es kommt mir nicht darauf an, dass man jedes Wort versteht. Wichtiger als der Sinn des Wortes ist die Atmosphäre, "Stimmung" - ich mag diese Ausdrücke nicht, kann es aber nicht anders sagen. Lassen Sie es mich an einem Beispiel erläutern: ich hatte im Drehbuch den Lärm eines Zuges vorgesehen. Den Dialog wollte ich nachher damit mischen. Beim Drehen entdeckte ich, dass ich schon genügend Nachhall bekommen hatte. Die Verständlichkeit hatte damit genug gelitten. Das ist jedoch keine Provokation, keine Zerstörungslust! Ich möchte nur, dass die Einstellung lebt. Und die Einstellung lebt dadurch, dass man nur ein paar Worte versteht. Vielleicht lässt sich so das Ungeheure erahnen: Stacheldraht - Peitsche _... Razzia _... Hilfspolizei.

Frage: Wie haben Sie mit den Laien gearbeitet?

Straub: Die Darsteller agierten in einem engen Rahmen. Ich korrigierte und radierte. Dieser Rahmen ist die Einstellung, im technischen wie im moralischen Sinne. Das ist eins, das kann man nicht trennen. Innerhalb dieses Rahmens hatten die Darsteller völlige Freiheit. Ich habe ihnen nichts gesagt, dann aber verlangt, immer schneller zu sprechen. Vor allem wollte ich keine Pausen und Betonungen, keinen "Ausdruck" - also all das nicht, was viele so gern gehabt hätten. Mir liegt daran, mit Leuten zu arbeiten, die sofort die Kamera vergessen. Es geht mir dabei einerseits um einen gewissen Automatismus, andererseits um Freiheit, menschliche Freiheit. Ich möchte auch hier wieder Bresson zitieren, obwohl das Zitat nicht ganz passt: "Wenn man im Leben spricht, dann denkt man nicht an den Sinn jedes Wortes. Man reiht Wörter aneinander, wie man Perlen aneinanderreiht, um eine Kette zu machen." Mein Film ist nicht nur eine grosse Maschine gegen die Psychologie, sondern auch gegen die "Schauspielkunst". Nehmen Sie zum Beispiel eine Einstellung mit dem Alten, jene am Bahnhof: der Alte spricht den Text zwar unbewusst, er empfindet innerlich aber doch das, was er sagt. Man merkt das, wenn er schamvoll seine Augen hinter dem Hut versteckt und von seiner Frau spricht. Erst dann blickt er auf und sieht Robert wieder an.

Frage: Wenn die Darsteller zwar ihren Text, nicht aber die Zusammenhänge kennen sollen, bedeutet das, dass sie nicht Personen, sondern Verhaltensweisen darstellen sollen?

Straub: Es bedeutet, dass sie sich selbst entdecken in dem Rahmen, den ich vorher definiert habe.

Frage: Meinen Sie, Chargesheimer entdeckt sich in diesem Rahmen als Person, oder meinen Sie _...

Straub: Ja, ja.

Frage: _... Chargesheimer als Fähmel entdeckt Fähmel?

Straub: Nein, er entdeckt sich selbst. Der Film entsteht dadurch, dass Einstellungen genau wie Wörter aneinandergereiht werden, ohne dass jede Einstellung eine Spannung oder eine Kurve hat. Das ist es auch, glaube ich, was bei "Nicht versöhnt" provoziert. Man hat nicht einen Schauspieler, der einen alten Mann darstellt: man hat einen alten Mann; man hat nicht eine Schauspielerin, die eine alte Frau darstellt: man hat eine alte Frau.

Frage: Provoziert Ihr Film nicht vor allem dadurch, dass er entscheidend vom traditionellen Film abweicht?

Straub: Ich habe keinen modernen oder Experimentalfilm, sondern einen traditionellen Film machen wollen. In "Nicht versöhnt" steckt viel vom amerikanischen Film, vor allem vom Western. "Nicht versöhnt" ist - so möchte ich sagen - ein Western, geschrieben im Imperfektum; "Machorka Muff" ein Western, geschrieben im Präsens. Man hat mir vorgeworfen, "Nicht versöhnt" sei unfilmisch, optisch nicht gestaltet usw. Gerade das wollte ich. Ich wollte eine nackte Sache machen, keine Pornographie.

Frage: Pornographie?

Straub: Ich verstehe darunter zunächst Satire und dann alles das, was die Leute anspricht, was den Film aber zur Karikatur des Films macht. Dass man zum Beispiel keine Einstellung drehen kann, ohne einen Vordergrund kunstvoll einzubauen. Ich denke dann immer an eine Glasscheibe, hinter der sich alles abspielt. Diese Glasscheibe will ich zersplittern, sprengen. Nehmen Sie "Machorka Muff". Man hat mir entgegengehalten, das sei keine Satire; ich hätte keinen Militaristen gezeigt, sondern einen Militär. Ein Militarist ist jedoch ein Klischee. Auf einem Klischee lässt sich kein Film aufbauen. Und ein Militär ist eine Wirklichkeit. Für mich war Erich von Machorka Muff zunächst ein sentimentaler Bürger, ähnlich dem General Massu, der die Folter selbst ausprobierte, um sein Gewissen zu beruhigen. Ich konnte nun keinen wirklichen Militär nehmen; das wäre nach drei Minuten langweilig geworden. Andererseits durfte ich auch keinen Schauspieler nehmen, weil ein Schauspieler versucht hätte, entweder einen Militaristen oder einen solchen Militär darzustellen. Die Wirklichkeit wäre von vorneherein vergewaltigt worden, denn ich hätte bestenfalls einen Militär, dargestellt von einem Schauspieler, erhalten. Das wäre jedoch eine Karikatur gewesen.

Frage: Wie würden Sie selbst Ihre beiden Filme charakterisieren?

Straub: Ich würde sagen, "Machorka Muff" war die Geschichte einer Vergewaltigung und "Nicht versöhnt" ist die Geschichte einer Frustration. Vergewaltigung eines Landes, das die Chance hatte, vom Militär befreit zu sein. Die Menschen wollten auch keine Armeen mehr; diesem Land ist in den vergangenen Jahren Militär aufgezwungen worden, dieses Land ist vergewaltigt worden. Und das ist die Geschichte von "Machorka Muff". Sie wird so dargestellt, dass die Hauptperson des Films in eine Stadt kommt, sie von oben betrachtet, nachts, von ihr und dann vom ganzen Land Besitz nimmt - wie im Western übrigens, wobei hier nur der Rächer im Saal sitzt. Wenn mir gesagt wird, der erste Film sei klar, der zweite jedoch unklar, dann ist das nur zu verständlich. "Machorka Muff" war eine Art Lehrstück, während "Nicht versöhnt" eine Art Mysterium ist. Geschichte einer Frustration der Gewalt. Deutschland hat seine Revolution verfehlt und sich vom Faschismus nicht selbst befreit; es ist für mich ein Land, das sich in Kreisen bewegt und sich von der Vergangenheit nicht selbst hat befreien können. Deshalb ist die Hauptperson meines Films die alte Dame, die sich einfach nicht von der Vergangenheit befreien kann. Erstens ist sie das Land, zweitens ist sie aber nicht nur das Land, sondern auch das Bewusstsein dieses Landes. Sie hat entdeckt, dass der Nazismus nicht vom Himmel gefallen ist, dass er schon früher existierte, zum Beispiel in den Werten Ernst, Ehre, Treue, Ordnung, "geschlagen und doch ungeschlagen". Sie sagt zum Beispiel: "Und er mein kleiner David schlief; er wachte erst auf, als er sah, dass es das Leben kosten kann, ein Päckchen Geld, in Zeitungspapier gewickelt, von einer Hand in die andere zu geben."

Frage: Sie sagen: diese Frau ist Deutschland, ist das Bewusstsein dieses Landes. Ist

Straub: "Nicht versöhnt" deshalb als allegorischer Film zu verstehen? Nein, überhaupt nicht. Ich meine, dass ist alles erst durch Zufall in den Film gekommen, eine Art Symbolismus, den ich nicht beabsichtigt hatte. Ich habe ganz bescheiden die Wirklichkeit respektiert, habe zum Beispiel einen Portier aufgenommen. Man muss, wenn man einen Film dreht, sehr bescheiden sein mit der Wirklichkeit. Das ist leider seit Murnau und Fritz Lang in Deutschland in Vergessenheit geraten. Wenn man die Wirklichkeit von vorneherein vergewaltigt, erhält man nichts weiter als dumpfen Symbolismus oder krasse Effekte, übrigens habe ich mir beim Drehen gar nichts gedacht. Ich bin Filmmacher, kein Theoretiker. Mit Theorien können Sie keinen Film machen. Wie gesagt, ich habe ganz einfach einen Portier aufgenommen. Dass er dann zu einem - sagen wir - Archetyp des Portiers geworden ist, war Zufall. Glücklicherweise kommt der Zufall aber nicht bis zum Symbolismus. Denn dann würde der Film wieder umkippen, schlecht werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: natürlich ist es kein Zufall, wenn in der schon zitierten Bahnhofsszene der Alte drei Mal das Wort Angst sagt, wenn man einen anfahrenden Zug hört und wenn ich den Schornstein quadriert habe. Man sieht nur das Gesicht vom Alten, seinen Mund, der das Wort ,Angst' spricht. Er sagt nicht ,während der Nazizeit', sondern ,während Du weg warst'. Für mich entsteht so die Angst jener Zeit, an die der Alte erinnert. Ich glaube auch, dass der Zuschauer die alte Dame als das, was sie für mich ist, erkennt; wie auch die andere Figur, die Dame in der Limonadenbude, die ein anderer Aspekt des Landes ist, nämlich die Bundesrepublik. Nehmen Sie die Spiegelszene, jene im Zimmer der alten Dame, als sie sich die Handschuhe überzieht. Sie erinnert mich jetzt, nachdem ich den Film fertiggestellt und ein paar Mal gesehen habe, stark an Cocteaus ORPHEE. Gerade weil der Film Cocteaus auch auf Archetypen aufgebaut ist. Aber wenn die alte Dame sich nicht durch den Spiegel, sondern durch die Tür entfernt, und man sie das Haus in der nächsten Einstellung verlassen sieht, dann denkt man nicht mehr an Cocteau, sondern sieht, dass sie gewissermassen aus einem Sarg kommt und den Tod bringen wird. Und durch diesen Tod bringt sie eine gewisse Befreiung, zunächst für sich und dann für die Zukunft: im Gegensatz zu "Machorka Muff", der mit Verzweiflung und einer Provokation endet - "Unserer Familie hat noch keiner widerstanden"; in "Nicht versöhnt" hingegen sagt der alte Fähmel am Schluss - "Ich hoffe, das grosse Staunen wird nicht von seinem Gesicht verschwinden".

Frage: Erscheint diese Interpretation angesichts des "realistischen Materials" nicht zu kompliziert? Müsste man nicht wenigstens den Film mehrmals sehen?

Straub: Man muss nicht; aber es ist immer gut, einen Film mehrmals zu sehen. Gerade weil ein Film mehr als irgendetwas Anderes einem Musikstück gleicht. Und ein Musikstück muss man immer mehrmals hören. Nein, die alte Dame geht nicht in die Welt des Todes ein, sie ist Tod geworden und kommt in der nächsten Einstellung in das Leben, bringt zugleich das Leben. In der folgenden Einstellung greift sie im Gewächshaus zur Pistole. Ich habe den Eindruck, dass sie aus einem Sarg herauskommt. Das hat mit Cocteau nichts mehr zu tun. Man könnte an die Malerei des 12. oder 13. Jahrhunderts denken oder auch auf einer "billigeren Ebene" bleiben, sagen wir "suspense" _...

Frage: Dem widerspricht doch wohl die Gestaltung dieser Szenen _...

Straub: Natürlich, aber Sie können es als "gegen Hitchcock konzipiert" ansehen. Es gab eine Zeit, in der ich Hitchcock sehr mochte. Dann habe ich plötzlich angefangen, ihn zu hassen.

Frage: Vielleicht sollten wir in diesem Zusammenhang fragen, warum "Nicht versöhnt" keine Überblendungen enthält.

Straub: Ich hatte im Drehbuch fast jedes Mal eine Überblendung vorgesehen, um von der Gegenwart zur Vergangenheit zu kommen. Am Schneidetisch habe ich die Überblendungen dann einfach weggelassen. Ich habe bewusst darauf verzichtet, durch Überblendungen Gegenwart und Vergangenheit zu verbinden. Ich wollte, und das ist sehr wichtig, Vergangenheit und Gegenwart in einer Ebene darstellen. Dem entspricht auch, dass wir absichtlich bei der Wahl der Drehorte oder Kostüme auf alles Malerische und Zeittypische verzichtet haben. Ich wollte nicht, dass man sofort den Eindruck hat, dies ist das Jahr 1934 oder 1907 oder 1914.

Frage: Um noch einmal zu der alten Dame zu kommen: erscheint Ihnen, der Sie als Pazifist bekannt sind, dieser befreiende Schuss vom Balkon nicht problematisch? Das gilt auch für den Untertitel Ihres Films: "Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht".

Straub: Der Satz ist von Brecht, aus der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe". Brecht meint die kapitalistische Gewalt, übrigens bin ich kein Pazifist. Ich wollte nur an einem gewissen Krieg nicht teilnehmen. Als Algerier hätte ich nicht gezögert, an ihm teilzunehmen. Und ich akzeptiere die Gewalt, der sich zum Beispiel Widerstandskämpfer bedienen müssen. Die Tat der alten Dame ist keine politische Tat. Sie enthält zwar Gewalt; es heisst an einer Stelle des Films auch deutlich: "Nicht Pulver mit Pappe, sondern Pulver mit Blei muss man nehmen. Knallbonbons töten nicht, Junge. Ihr hättet mich fragen sollen. Jetzt ist er Polizeipräsident geworden." Die Tat der alten Dame ist ein Akt der Selbstbefreiung, eine individuelle, keine politische Tat. Sie hat die Absicht, jemand aus der Vergangenheit zu erschiessen "den Dicken da unten auf dem Schimmel" ,Vacano, wie er im Film heisst. Sie ist in ihrer Vergangenheit gefangen, eingesperrt, lebt nur noch mit ihren Erinnerungen. Das Gespräch auf dem Balkon zwischen der Alten und ihrem Mann ist bezeichnend. Hier finden sie auch eine wichtige Änderung gegenüber dem Roman. Und wenn es heisst "Sieh da, unser alter Freund Nettlinger, wenn schon, dann wurde ich lieber den erschiessen. Aber vielleicht überlegst Du es Dir, der Mörder Deines Enkels steht auf dem Balkon nebenan", dann ist mit diesem Mörder jener Mann gemeint, der zuvor im Hotelzimmer beim Sekt zu sehen war. Ein Politiker, der wieder anfängt, mit dem Feuer zu spielen und der dafür verantwortlich sein wird, dass Leute wie Machorka Muff das Pflaster wieder beherrschen. Es kann aber genau so gut jemand sein, der den Kreuzzug "nach drüben" predigen oder der mit dem Oder-Neisse-Problem spielen wird. Mein Film soll vor allem beweisen, dass Politik und Moral nicht getrennt werden können, sondern eins sind. Und vergessen Sie bitte nicht, dass im Film ja der Enkel lebt. Es ist also eine Tat, die nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft angeht.

Was übrigens sehr wichtig bei dieser Balkonszene ist, ist die Tatsache, dass sie in einer einzigen Einstellung gedreht worden ist. Darauf beruht sie. Genau wie jene Einstellung von dem Alten am Bahnhof, die ich für die schönste des ganzen Films halte, eine lange, fixe Einstellung in Gross, die nicht einmal eine Kamerabewegung hat wie jene auf dem Balkon

Frage: Warum ist dies für Sie die schönste Einstellung des Films?

Straub: Ton und Bild wurden immer zusammen aufgenommen, und ich habe mich konstant geweigert, auch bei anderen Einstellungen, den Ton anders als original zu verwenden oder auszutauschen, auch wenn das möglich war. So entstand hier der Eindruck, dass der Alte plötzlich stecken bleiben konnte. Das ist keine Frage des Dilettantismus - wie einige behauptet haben. Ich habe diese Einstellung fünfundzwanzigmal gedreht und die letzte dann genommen. Ich wollte, dass der Alte die Kamera und den Text vollkommen vergass. Wenn er nun "stecken zu bleiben" droht, hat man den Eindruck, er konnte vor der Kamera sterben. Das ist ein wichtiger Punkt des ganzen Films. Jeder kann natürlich behaupten, dies ist realistisch, jenes ist es nicht. Text und Einstellung sind nun einmal Hindernisse für Freiheit und Unmittelbarkeit. Für mich war der Text, ich möchte das betonen, ein Draht, auf dem Schlafwandler zu gehen hatten, deshalb auch der Eindruck, die Darsteller könnten sich jede Sekunde den Hals brechen.

Frage: Aber versperren Sie durch diese Sprechweise dem Zuschauer nicht den Zugang zu den Themen Ihres Films7

Straub: Zunächst gibt es kein Thema. Man sucht etwas, und ein Thema existiert erst, wenn der Film abgedreht ist, man entdeckt es erst, wenn der Film fertig ist. Aber nehmen wir das Thema als Methode. Mich hat es gereizt, das Thema Nazismus einmal so zu traktieren, ohne dass das Wort Nazismus fällt. Ich bin dokumentarisch vorgegangen. Im Jahre 1933 wurden in Köln sechs junge Kommunisten im Gefängnis Klingelpütz hingerichtet. Dieses Gefängnis sieht man im Anfang des Films im Hintergrund. Die zweite Einstellung zeigt die Statue "Die Trauernde", die allen Toten des Krieges gewidmet ist. Darüber läuft der Vorspann, der provokatorisch lang ist. Ich wollte alle Mitwirkenden aufzählen, jeder war wichtig, gleichzeitig ist es auch eine Art Trauerdenkmal.

Frage: Wie sehen Sie selbst das Verhältnis von "Nicht versöhnt" zur Romanvorlage?

Straub: Wenn Sie Heinrich Bölls Roman "Billard um halb zehn" lesen, werden Sie feststellen, dass ich die Konstruktion sehr vereinfacht habe. Bei Böll erzählt der Alte unchronologisch aus seiner Jugend, ich habe daraus eine chronologische Linie gebaut, mit Ausnahme der Abtei. Ich glaube, dass der Film trotzdem komplizierter als der Roman ist, weil der Roman aus Wiederholungen besteht und Details aus verschiedenen Gesichtspunkten behandelt, ich habe bewusst Lücken gelassen, Vorgänge nur einmal erzählt, wie die Sache mit dem Schuss. Auf der anderen Seite ist die Chronologie viel linearer als im Roman. Mir ging es um eine moralische d. h. auch politische Reflexion. Ich habe mit Böll über keine Person des Films gesprochen. Er sagte mir, wenn Realismus, dann so, wie Sie es machen Aber was man angreifen kann, ist Ihr Begriff von Realismus.

Frage: Und Ihre Projekte?

Straub: Der Film, den ich zunächst drehen möchte, hegt zum Teil zwischen "Machorka Muff" und "Nicht versöhnt", geht noch weiter als "Nicht versöhnt". Man wird sagen dass er nichts "Filmisches" mehr enthält. ~ Zurück zu Heft 55 Dieser Film soll "Chronik der Anna Magdalena Bach" heissen, ein Film zwischen Dokumentar- und Spielfilm, zugleich ein Liebesfilm.
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Jean Marie Straub: Daten

Geboren unter Capricorn am Sonntag nach der Epiphanias in der Geburtsstadt Paul Verlaines ("Et si j' avais cent fils, ils auraient cent chevaux / Pour vite déserter le Sergent et l' Armée") und getauft auf den Namen eines der allerersten Militärdienstverweigerer (Jean-Marie Vianney, Pfarrer von Ars) in dem Jahr, als Hitler an die Macht kam.

Bis 1940 nur französisch gehört, gelernt und gesprochen - zu Hause und draussen. Und auf einmal darf ich draussen nur noch deutsch hören und sprechen und muss es in der Schule (wo wie überall jedes französische Wort verboten ist) "direkt" lernen _...

Nach der Befreiung. Schüler bis zum 1. Abitur am Jesuiten-"Collège Saint-Clément" (wo ich lernte, dass Ungehorsam eine nicht nur poetische Tugend ist) und dann ein Jahr am staatlichen Lycée, 2. Abitur.

Manifestation gegen die kümmerliche Programmierung der Filmtheater von Metz, erste Kontakte mit der französischen Polizei. Von 1950/51 bis 1954/55 Leitung eines Filmclubs in Metz und zugleich Student an der Universität zu Strassburg (51/52) und zu Nancy (52/53 und 53/54).

November 1954 Ankunft in Paris mit dem Projekt einer abendfüllenden Filmbiographie: "Chronik der Anna-Magdalena Bach", algerische Revolution, Begegnung mit meiner Frau _...

Gucke ein wenig Gance (LA TOUR DE NESLE), Renoir (FRENCH-CANCAN ELENA ET LES HOMMES), Rivette (LE COUP DE BERGER), Bresson (UN CONDAMNE A MORT S' EST ECHAPPE), Astruc (UNE VIE) beim Drehen zu.

Seit 1958 in Deutschland. Zunächst zwei Jahre auf Reisen - auf den Spuren J. S. Bachs.

1963: "Machorka Muff"

1965: "Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht".

1965-66: Zurück zur "Chronik der Anna-Magdalena Bach". In welcher Weise soll dieser Film M.-M und NV fortsetzen? Über das Drehbuch berichtete ein deutscher Dramaturg schon Anfang 1959 einem deutschen Produzenten "_... weil an das Aufnahmevermögen der Zuschauer durch Parallelführung von Bild, anspruchsvoller Musik und erklärendem Kommentar hohe Anforderungen gestellt werden, zudem Bild, Musik und Wort zwar virtuos aufeinander abgestimmt sind, im einzelnen jedoch einer selbständigen Führung folgen, weil selbst in der szenischen Heraufbeschwörung von Vorfällen aus Bachs Leben die emotional ansprechenden Momente in der Aufreihung der "Tatsachen" untergehen (dabei fehlt es nicht an Ereignissen, die potentiell emotional wirken können - jedoch werden diese Szenen "neutralisiert"), weil nicht das visuelle Element den wesentlichen Gestaltungsfaktor abgibt, sondern das akustische und zwar nicht vorrangig die Musik, sondern gleichrangig Musik und Wort (dabei handelt es sich nicht um eine gefühlsgeladene, expressive Sprache, sondern um eine erklärende, mitteilende, informierende, die nicht das Gefühl, sondern den Verstand anspricht), weil das Bild nur in wenigen Fallen "erzählt" oder unmittelbar und primär mitteilt -..."

Ausserdem wird dieser Film - wie M.-M. und N.V. - ein Film über Deutschland sein. ~ Zurück zu

Sonstige mögliche und unmögliche Projekte "Moses und Aaron" von Schönberg (im Freien und in Farben), "Die Massnahme" von Brecht (ebenfalls im Freien), "Marat" und "Die Ermittlung" von Peter Weiss, ein Film nach einem Mythos (erzählt von Levi-Strauss in Le Cru et le Cuit) "Die Geschichte von Asaré", ein Film über eine Putzfrau in München und die Komödie der deutschen Filmleute - nach eigenen Stoffen.

Was bedeutet es, Filme in Deutschland zu machen (das heisst gegen die Dummheit, die Denkfaulheit, die Verkommenheit, die, wie B.B. sagt, hier demonstriert werden)? Hyperion würde antworten: verbluten; ich füge hinzu: zunächst nicht erreichen können und dürfen die Vielen, denen man Filme schenken möchte. Diese doppelte Antwort gilt auch für Peter Nestler und einige andere. Es wird sich aber ändern. Das reizt mich - und auch, als Franzose hier Filme zu machen, die kein Deutscher hätte machen können (etwa wie kein Deutscher GERMANIA ANNO ZERO und "Die Angst" hätte machen können, kein Amerikaner THE SOUTHERNER oder THE YOUNG ONE und kein Italiener "La Chartreuse de Parme" hätte schreiben können).       J-M.S.
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Gespräch mit Wolfgang Staudte

(Gesprächspartner Ulrich Gregor und Heinz Ungureit. Vorabdruck aus dem demnächst erscheinenden Sammelband "Wie sie filmen" herausgegeben von Ulrich Gregor. Mit freundlicher Genehmigung des Sigbert Mohn Verlags, Gütersloh)

Frage: Wie beginnen Sie einen Film: haben Sie zunächst eine Idee, eine These oder eine Bildvorstellung?

Staudte: Die Fragestellung passt auf mich nicht genau. Eigentlich ist es ein Zustand oder eine Situation, die mich erregt, die mich provoziert, und da mir kein anderes Mittel, mich zu äussern, zur Verfügung steht, als der Film, suche ich eine Form zu finden, in der ich mein "Anliegen" mitteilen kann. Und das ist möglicherweise eine Geschichte. Also am Anfang steht eigentlich die Verärgerung.

Frage: Die Verärgerung über eine Situation?

Staudte: Über eine Situation.

Frage: Und der Film, das könnte man daraus vielleicht schon schliessen, ist für Sie eigentlich etwas Sekundäres, beinahe Zufälliges?

Staudte: Er ist insofern etwas Zufälliges, als ich nun einmal keine anderen Fähigkeiten habe. Wenn ich zum Beispiel ein glänzender Schriftsteller wäre oder ein glänzender Publizist, dann brauchte ich diesen umständlichen Weg, mich mitzuteilen, diesen sehr kostspieligen und langwierigen Weg des Films gar nicht. Ich wurde leidenschaftlich gerne schreiben, wenn ich schreiben könnte.

Frage: Polemisch schreiben?

Staudte: Ja. Ich würde teilnehmen am gesellschaftlichen Leben, an politischen Situationen. Die meisten Filme, die von mir selbst kommen, tragen ja auch alle mehr oder minder diesen Stempel der Teilnahme, die zum Teil unbequem ist für mich, aber auch für andere. Und es ist ausserordentlich schwierig, wenn man überhaupt etwas verändern will in der Welt, das mit dem Geld von Leuten zu tun, die die Welt vollkommen in Ordnung finden. Mir hat mal jemand vorgehalten: Herr Staudte, warum provozieren Sie eigentlich fortwährend mit Ihren Filmen? Das fängt an mit "Die Mörder sind unter uns" und das geht weiter über den "Untertan", "Rosen für den Staatsanwalt", "Kirmes", immer wieder verärgern Sie _... Darauf anwortete ich Ich provoziere nicht, ich werde provoziert! Und da ich provoziert werde, schreibe ich diese Filme. Ich werde einfach dadurch provoziert, zum Beispiel bei "Kirmes", dass in unserer Gesellschaft ehemalige Nazis grosse Funktionen haben. Dass ich mich über die morbiden gesellschaftlichen Zustände aufrege, ist doch nur ein Beweis meiner Teilnahme!

Frage: Da entsteht schon eine ganz konkrete Frage in diesem Zusammenhang. Es wird gesagt, dass Sie das Drehbuch zu Ihrem ersten Nachkriegsfilm "Die Mörder sind unter uns" schon vor 1945 fertiggestellt hatten?

Staudte: Das stimmt nicht ganz. Ich hatte vor 1945 nicht das Drehbuch, sondern nur ein Exposé fertig. Dieses Exposé habe ich auch meinem damaligen Freund, dem Kameramann Friedel Behn-Grund gezeigt. Wir waren uns darüber klar, wenn das jemand findet, dann erleben wir das Kriegsende nicht mehr. Aber dennoch hatten wir uns geschworen, wenn alles vorbei war, diesen Film zu machen. Damals hiess der Film noch nicht "Die Mörder sind unter uns", sondern "Der Mann, den ich töten werde". Und zwar ist es ein ganz persönliches Erlebnis gewesen, das mich veranlasst hat, diese Geschichte zu schreiben. Ein Apotheker, der SS-Obersturmführer war, hat mich einmal mit einer Pistole bedroht, und zwar aus politischen Gründen. Er hat dann nicht abgedrückt. Ich sagte mir aber: Was mache ich mit dem Burschen in einem halben Jahr, wenn das hier vorbei ist? Wo geht er hin, was geschieht mit ihm? Jetzt könnte er tatsächlich einen Mord begehen, der sogar legitimiert ist, aber nur noch ein halbes Jahr. Ich sah damals den Krieg aus nächster Nähe, aber aus einem eigenartigen Blickwinkel, als Zivilist - ich durfte mich nicht sehen lassen, aber ich hatte mir noch soviel zivilen Verstand bewahrt, dass ich das Ungeheuerliche dieses Krieges sah, die völlige Torheit, die makabre, mörderische Dummheit des Krieges.

Frage: In der Person des Brückner zeichnet der Film das Porträt eines Typs, der sich nach dem Zusammenbruch sofort fängt und auf fragwürdigen Grundlagen wieder aufbaut, ohne die geringsten moralischen Skrupel. Das haben Sie in dieser Form schon von 1945 konzipiert?

Staudte: Ja, das existierte genau so in meinem ersten Entwurf. Die späteren Veränderungen und Zusätze bezogen sich darauf, wie es nun wirklich nach dem Kriege aussah. Ich bin dann mit dem Exposé zu allen möglichen Leuten, zu den Amerikanern, den Engländern und den Franzosen gegangen, die es aber sämtlich ablehnten. Nur der russische Kulturoffizier war an meinem Projekt sehr interessiert. Er hat in einem einzigen Punkt einen starken Einfluss auf den Film genommen. In meiner Originalgeschichte erschiesst nämlich Mertens den Brückner. Und da sagte der russische Kulturoffizier: alles andere ist richtig; nur geht es nicht an, dass der Zuschauer am Schluss ermuntert wird, seinen privaten Rachekrieg zu führen. Wir werden ihn daran hindern, und vor allem werden wir Sie daran hindern, so eine Möglichkeit auch nur aufzuzeigen. Damals war ich voller Zorn _... Aber ich habe eingesehen, dass die Änderung richtig war. Daher dann die Version, dass das Mädchen am Schluss auftaucht und Mertens an dieser Tat hindert, und daher dann die Szene mit dem Gitter.

Frage: Interessant in diesem Zusammenhang wäre zu wissen, mit welchen Begründungen die anderen Militärs den Film abgelehnt haben?

Staudte: Ach, mit sehr äusserlichen Begründungen. Der damalige amerikanische Kulturoffizier war der heutige deutsche Schauspieler Peter van Eyck, in silbergrauer Uniform; er war überhaupt der Meinung, die Deutschen würden und sollten in den nächsten sechs Jahren keine Filme machen. Die Engländer haben sich für nicht zuständig erklärt, obwohl ich im englischen Sektor wohnte.

Frage: Diese Verhandlungen fanden statt, bevor die DEFA gegründet wurde?

Staudte: Ja, auch der Film selbst fing ja schon an, bevor die DEFA gegründet wurde. Als der Film begonnen wurde, da gab es ein "Film-Aktiv" mit Klering und Fischer und Lindemann _... Aber sehr genau erinnere ich mich an Einzelheiten aus dieser Zeit nicht mehr.

Frage: Das ist ja auch nun schon bald achtzehn, zwanzig Jahre her.

Staudte: Und immer noch sind die Mörder unter uns!

Frage: Und deshalb ist Ihr erstes Thema imgrunde auch Ihr Hauptthema geblieben, jedenfalls in den Filmen, die ihre persönlichen sind. Schreiben Sie das Drehbuch meistens allein, oder haben Sie Mitarbeiter?

Staudte: Sehen Sie, es gibt ja viele, viele "Anliegen" - ich hasse das Wort, leider fällt mir kein besseres ein -, bei denen ich am Ende meiner Überlegungen dahin komme, einsehen zu müssen, dass es mir nicht gelingt, für dieses Thema eine funktionierende dramatische Formel zu finden; ich muss es dann also aufgeben. Ich bin nicht in der Lage, in der der Schriftsteller ist, ganz gleich, in welcher Funktion; der kann es auf alle Fälle schreiben. Ich würde z. B. gerne einen Film machen über die Intoleranz, gegen die Intoleranz. Gegen den spiessbürgerlichen Absolutismus. Da finde ich nun den Roman von Heinrich Mann und sage mir: etwas Besseres kann ich nicht finden, diese Vorlage muss ich nehmen. Dagegen gibt es ein anderes Thema, das ich jetzt noch nicht nennen kann, da finde ich einfach nicht die filmische Formel. Ich muss es aufgeben. Als ich mich von der Fragestellung "Die Mörder sind unter uns" erregt fühlte, war das damals sehr einfach, da brauchte man nur hineinzugreifen in die Geschichte. Das lag wirklich auf der Strasse. Aber dennoch habe ich dann die Prototypen geschaffen, habe ich die Figur eines Mädchens erfunden um anzudeuten, dass die Liebe oder das Verstehen vielleicht Auswege aus dem Dilemma, aus der menschlichen Verwundung sein könnten.

Frage: Sie haben sowohl Filme gemacht, bei denen Sie das Drehbuch allein geschrieben haben, wie auch mit anderen Autoren zusammen; Sie haben schliesslich auch fremde Drehbücher verfilmt. Ist das jeweils das Ergebnis eines Zufalls gewesen?

Staudte: Es ist so: in zwanzig Jahren, die nun zurückliegen, verläuft natürlich der künstlerische Lebensweg nicht ganz wunschgemäss. Da tauchen dann schon Dinge auf, Filme, die von der Industrie an mich herangetragen wurden in einer bestimmten Situation, in der ich mir sagte: jetzt habe ich schon so vieles abgelehnt, irgendwann muss ich ja einmal meinen Beruf ausüben. Ich selber habe meine Geschichte nicht, oder, was viel wichtiger ist, es ist mir nicht gelungen, meine Geschichte anzubringen! Ich habe mindestens zehn ergebnislose Projekte _... Hier liegt überhaupt das allergrösste Problem. Zum Beispiel der Film "Rosen für den Staatsanwalt". Die Geschichte ist von mir. Ursprünglich hiess sie "Der Geburtstag der Toten" und handelte von sechs Leuten, die von einem Standgericht umgebracht werden sollten. Viel später entdeckt einer dieser sechs, dass der Mann, der damals das Todesurteil unterzeichnete, in Düsseldorf oder sonstwo wieder Oberstaatsanwalt ist. Diese Leute treffen nun immer an ihrem Todestag zusammen, an dem Tag, an dem sie eigentlich hätten erschossen werden sollen, und feiern da einen "Geburtstag". Und mitten in diese Geburtstagsfeier, die inzwischen den ganzen Krieg hat vergessen lassen, die eine Art fröhlichen Umtrunks geworden ist, fällt plötzlich die Mitteilung, dass dieser Mann lebt _... Dieses Exposé hatte aber überhaupt keine Chance. Trotzdem hat sich der Produzent Kurt Ulrich rührend darum bemüht, er hat mich beauftragt, daraus ein Drehbuch zu machen. Und dieses Drehbuch hat dann Georg Hurdalek geschrieben. Wir sind beide nach Italien gefahren, und in vielen Diskussionen haben wir dann eine andere Form gefunden Wir haben diese sechs Personen aufgegeben, es hat aber einfach handwerkliche Gründe gehabt _... Dieser Film ist entstanden aus dem Bedürfnis, dieses Thema an ein möglichst grosses und breites Publikum heranzutragen. Die Fragestellung war: Wie machen wir dieses Thema so attraktiv wie möglich? Wir haben uns darum bemüht, und dennoch ist Kurt Ulrich mit diesem Buch bei jedem Verleiher gewesen, jedem, und alle haben gesagt: Nein, wir wollen damit nichts zu tun haben. Und nur dadurch, dass in Göttingen ein anderer Film ausgefallen ist, obwohl die Ateliers schon gemietet waren und die NF, die inzwischen pleite ist, dringend einen Film brauchte, hat man schliesslich gesagt: in Gottes Namen! Kurt Ulrich war damals sehr beschäftigt mit seinem Film "Jons und Erdme". Das war sein grosses Projekt, und so entstand mein Film im Schatten dieser anderen Produktion. Kurt Ulrich berichtete übrigens, dass während der Dreharbeiten ein Herr von der FSK gekommen sei, dem er das Drehbuch gezeigt habe, worauf dieser Herr Einspruch erhob. Das ist ja unmöglich, dieser Film kommt doch nie an die Öffentlichkeit, der verstösst gegen einen Artikel des Grundgesetzes, die Verächtlichmachung der Justiz.

Frage: Interessant, dass in dieser Phase der beginnenden Dreharbeiten schon ein Mann der Filmselbstkontrolle hinzukommt und erklärt, so sei der Film doch imgrunde unmöglich!

Staudte: Es gibt aber viele solche Fälle. Zum Beispiel hängt heute die Finanzierung durch eine Bank von einem Vor-Urteil der FSK ab. Ich habe das bei meinem letzten Film zum ersten Mal erlebt und bin darüber sehr erschrocken: erst muss man ein Drehbuch einreichen und eine Begutachtung der FSK haben, damit man einen Kredit von der bayerischen Staatsbank bekommt!

Frage: Das wäre ja eine Form der Vorzensur!

Staudte: Ja, das ist es! Die Inanspruchnahme eines Kredits verlangt ein Zertifikat der FSK, dass gegen das Buch keine Bedenken bestehen _... Imgrunde ist das eine Form von Wirtschaftsdiktatur. Es kann dann einer kommen und sagen, wenn Sie den Kredit haben wollen, dann muss diese Szene aber heraus! Ich kann Ihnen aber etwas anderes erzählen. Es fällt mir jetzt gerade wieder ein, dass zum Beispiel in "Rosen für den Staatsanwalt" eine Szene hineingekommen ist, die in einer Satire nichts zu suchen hat und demzufolge auch die schwächste ist, eine Szene nämlich, die zeigt, dass es in der Bundesrepublik auch integre Richter gibt, denen die Nazirichter ebenfalls Sorgen machen. Diese Tatsache wird niemals bestritten, ich bin nur der Meinung, sie gehört nicht in eine Satire. Und um diese Szene hat es dann ja auch einen Riesenkrach gegeben, als der Film nämlich auf den Festspielen von Karlsbad gezeigt werden sollte, hat man diese Szene herausgenommen _... Manches, was ich heute erlebe, fasse ich einfach nicht. Ich lese z. B., dass der Vertriebenenminister Krüger sich an Mordtaten beteiligt haben soll. Darauf lese ich in der Zeitung ein Dementi. Und da wird in aller Freiheit und Offenheit erklärt, ich habe mich an solchen Dingen nicht beteiligt, ich habe nie die Möglichkeit dazu gehabt. Zwar bin ich 1933 in die Partei eingetreten, dann war ich auch SA-Mann und Ortsgruppenleiter _... Und jetzt frage ich Sie, als ich "Kirmes" gemacht habe, da haben in unserer Presse viele gesagt, das ist eine Übertreibung, das ist wieder von einer solchen verbissenen Boshaftigkeit, das ist doch nicht so, muss er denn immer polemisieren, muss er denn mit so brutalen und groben Mitteln arbeiten? Ich selbst weiss ja, dass es diese Leute gab, die in die Partei eingetreten sind, und ich weiss, wie viele Mitglieder die Partei hatte. Aber wieso ist ein solcher Mann Minister? Das ist die einzige Fragestellung. Warum muss man diese Angriffsflächen nicht nur der östlichen, sondern auch der westlichen Welt bieten? Aber jetzt kann ich auch nicht mehr, jetzt gebe ich es auf, ich kann ja nicht fortwährend auf derselben Geschichte herumreiten, obwohl ich eigentlich dazu wieder _... imgrunde ist das ja schon in "Rosen für den Staatsanwalt" und auch in "Kirmes" drin, einem Film, den ich persönlich sehr mag. Dieser Film berührt übrigens ein ganz interessantes, grundsätzliches Thema, das die Überschrift trägt: Das eigene Nest beschmutzen. Die Bundesregierung oder der deutsche Film hat mit "Kirmes" im Ausland zweifellos einen grossen Prestigeerfolg gehabt. Ich war sowohl in Dänemark wie in Schweden bei der Uraufführung. Ich habe die Kritiken da, die sagen, das ist nun wirklich eine Art Reinigung. Wenn so etwas in Deutschland möglich ist, kann man diesem Land wieder vertrauen. Aber hier hat mir dieser Film ja enorme Schwierigkeiten eingetragen.

Frage: Wir sprachen gerade von dem Roman "Der Untertan". Sie haben ja ausser diesem noch mehrere andere Filme nach literarischen Vorlagen gedreht. Haben Sie nun prinzipiell versucht, dem Geist der literarischen Vorlage so treu wie möglich zu bleiben _...?

Staudte: Ja, ja

Frage: Aber bei "Rose Bernd" beispielsweise haben Sie doch eine Modernisierung vorgenommen?

Staudte: "Rose Bernd" ist auch nicht mein Film, er ist sogar atypisch für mich. Ich habe das Drehbuch nicht geschrieben, und auch das Projekt kam nicht von mir. Ich habe diesen Film sogar zunächst abgelehnt, ich wollte ihn überhaupt nicht machen. Für mich war es ein Experiment, einmal zu versuchen, wie weit ich mich eigentlich von dieser Geschichte entfernen konnte, und, was mich am allermeisten interessierte, worüber ich zunächst allerdings sehr entsetzt war, dass ich diesen Film als Farbfilm machen sollte. Ich habe es ein bisschen als formale Spielerei aufgefasst - als ein Test, wie man eine solche Geschichte im Farbfilm darstellen kann. Ich distanziere mich von dem Film gar nicht, aber ich habe das Buch nicht geschrieben, sondern das hat Walter Ulbrich verfasst. Ich habe zum Beispiel, das hat man mir nach einigen Widerständen zugestanden, den Gutshof im Studio aufbauen lassen, obwohl es doch viele Gutshöfe in Bayern gibt, und zwar mit der Begründung bei einem wirklichen Gutshof, mit einem Misthaufen, einem Ahorn oder einer Buche, da ist mir zu viel Natur drum rum. Wenn Sie zum Beispiel die Aussenaufnahmen des Films ansehen, da ist keine Wolke, ich habe nur blauen Himmel Jeder Kameramann sagt sonst, warten wir einen Moment, bis diese schöne Wolke ins Bild hereinzieht. Wir warteten, bis die Wolke herausgezogen war. Ich wollte nur die grüne Wiese haben, den blauen Himmel, die schwarze Figur und die weisse Kirche. Ich wollte die Natur ausschalten.

Frage: Sind die Einfälle, die den besonderen optischen Reiz Ihrer Filme ausmachen, bereits im Drehbuch fixiert?

Staudte: Nein, sie ergeben sich oft aus der Situation und können deswegen nicht immer im Drehbuch stehen; das sind Freiheiten, die man sich vorbehält. Meine Arbeitsweise sieht so aus: wenn ich meinen Plan, mein Ziel vor Augen habe, und das Buch als Bädeker, als Reiseführer durch diese Geschichte, so versuche ich doch möglichst frei zu bleiben _... Allerdings sollte der Regisseur ins Atelier kommen mit dem sicheren Gefühl für den Stil, den Duktus des Films, der ja eine Einheit für den ganzen Film sein und in einer echten Beziehung zum Thema stehen muss. Da sollte man meiner Ansicht nach keine Experimente machen.

Frage: Man hat einmal gesagt, Ihre persönlichen Filme seien imgrunde ein Dialog mit den Objekten. Ist es Ihnen selbst bewusst, dass diese Objekte in ihren Filmen eine bestimmte Rolle spielen? Also auch bestimmte Metaphern oder Symbole _...

Staudte: Ja, ich versuche mit diesen Motiven, eine spezifische Aussage im Bild zu konzentrieren. Und von daher kamen ja auch meine dauernden Schwierigkeiten, die ich mit Brecht hatte. Das war eine Eifersuchtstragödie zwischen Wort und Bild. Brecht, mit vollkommenem Recht von sich aus, hat gesagt: meine Stücke brauchen das Bild nicht. Dem habe ich immer entgegengehalten: Sie selber bemühen sich doch ausserordentlich, und es gelingt Ihnen vorzüglich, auf der Bühne den Bildwert eines Vorgangs herauszuinszenieren. Bei "Mutter Courage" etwa, der Wagen auf der leeren Bühne, das ist doch eine ausserordentliche, ganz bewusste Bildwirkung. Bei der Verfilmung von "Mutter Courage" habe ich natürlich versucht, meine Bildvorstellungen zu realisieren. Aber Brecht war einfach immer der Meinung, dass diese Bilder seinen Text, das Wort störten. Wir haben zwar zusammen das Drehbuch geschrieben und waren ein Herz und eine Seele _... Wir haben ein paar ganz unwesentliche Änderungen vorgenommen. Aber Brecht ist letzten Endes immer davon ausgegangen: ich weiss gar nicht, warum das überhaupt gemacht werden soll, denn es gibt von "Mutter Courage" nur eine einzige Inszenierung, und die ist bei mir in meinem Theater zu sehen!

Frage: Er sah also nicht einmal ein, dass man aus seinem Stück einen Film machen wollte.

Staudte: So hat man dann ja auch viel später eine dokumentarische Verfilmung des Bühnenstückes angefertigt, unter der Regie von Palitzsch und Wekwerth.

Frage: Brechts Absichten gingen also schon damals in die Richtung dieses späteren Films, er forderte auch bei einer Verfilmung seines Stückes theatermässige Abstrahierung?

Staudte: Vollkommen, genau. Er hatte ganz kuriose Ideen. Er sagte zum Beispiel: ich habe da mit einem Direktor des Kopierwerks gesprochen, der wird ein Filmmaterial herstellen, das veraltet ist und das den Stil mittelalterlicher Radierungen wiedergeben soll _... Ich habe Brecht schliesslich gefragt: was wollen Sie jetzt eigentlich, wollen Sie einen esoterischen Film machen? Dann müssen wir aber auch das Wort verzerren, dann müssen wir die Dialoge von einer alten Edison-Walze abspielen. Man kann nicht auf der einen Seite mit modernen tontechnischen Apparaten arbeiten und gleichzeitig das Bild so flimmern lassen, als ob der Film im Dreissigjährigen Krieg gemacht worden wäre! Das geht nicht. Wenn das Wort aber nicht verzerrt gebracht werden soll, dann muss der Film auch mit allen modernen Mitteln hergestellt werden. Denn ich glaube, dass die Idee, das Werk, seine Gedanken und seinen politischen Auftrag zu verbreiten, wichtiger ist, als in kleinem Raum und für Kunstkenner irgendetwas zu basteln.

Frage: Wenn man Ihre Filmographie durchsieht, so stellt man fest, dass Sie bestimmte Schauspieler von Film zu Film beibehalten, dass Sie aber den Kameramann häufig wechseln. Kann man daraus schliessen, dass Sie eine engere Beziehung zu den Schauspielern als zum Kameramann haben?

Staudte: Nein, gar nicht, ganz im Gegenteil. Dass ich Kameramänner wechsle, ist mehr oder weniger ein Zufall, weil zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn ich einen Film anfange, die Frage nach dem Kameramann auftaucht, der gerade frei ist. Einer, den ich mir vielleicht wünsche, der kann nicht; das ist eine für die Industrie typische Situation, dasselbe passiert ja auch mit Schauspielern oder mit anderen Mitarbeitern. Aber der Kameramann hat nicht eine nebensächliche Funktion bei mir, sondern er hat eine äusserst wichtige Funktion, diejenige nämlich, den Bildwunsch zu realisieren. In Kritiken lese ich manchmal etwa folgende Formulierung: dem Kameramann Sowieso gelangen herrliche Aufnahmen, glänzende Einstellungen. Das ist ein Irrtum der Kritik. Es ist ganz ausgeschlossen, dass ein Kameramann herrliche Einstellungen zustandebringt ohne den Regisseur. Ich selbst bin gar nicht imstande, einen Film als Regisseur zu inszenieren, wenn ich nicht über die Kamera als mein Mittel verfüge. Sie ist mein persönliches Instrument. Ich mache auch jede Einstellung selbst. Der Kameramann korrigiert sie natürlich; ich stelle sie nur soweit ein, dass er flüchtig sehen kann, was ich meine. Vielleicht schlägt er mir gelegentlich auch eine andere Optik vor; aber ich wüsste nichts im Atelier anzufangen, wenn ich nicht selbst über die Kamera verfügen könnte. Meine Inszenierungsweise will ich Ihnen auch erläutern. Sie ist völlig anders als bei einer Reihe meiner Kollegen, vorwiegend der Kollegen, die vom Theater kommen: die inszenieren eine Szene und stellen danach erst die Kamera auf. Ich mache es dagegen genau umgekehrt: die Kamera steht schon, der gesamte Weg der Kamera ist festgelegt, bevor die Schauspieler überhaupt ins Atelier kommen. Und da ich selber Schauspieler war, spreche ich Einzelfragen mit meinem Kameramann oder meinem Assistenten ab. Ich sage: Herr Sowieso kommt hier durch die Tür, die Kamera also bitte dahin; da oben brauchen wir eine Decke, für diesen Satz, der scheint mir der Kernpunkt der Szene zu sein, brauche ich also das stärkste Bild. Ich habe noch nie mit Schauspielern, auch nicht mit den kompliziertesten, in dieser Hinsicht Ärger gehabt. Sie waren einfach mit meiner Konzeption einverstanden. Und ich hatte meinen Bildschwerpunkt an der bestimmten Stelle, manchmal mit ein bisschen Gewalt oder auch mit Zwang; manchmal auch, wenn ich mich geirrt hatte, wenn einer sagte, ich kann unmöglich auf den Tisch steigen in diesem Augenblick, habe ich es dann noch korrigiert und ihn nur auf den Stuhl steigen lassen. Aber es kam mir bei diesem Satz - ich sage noch einmal ein Beispiel - auf etwas bestimmtes an: nehmen wir einmal an, die Decke hat Balken, so wollte ich erreichen, dass der Kopf auf eine bestimmte Weise zwischen den Balken steht, damit für mich der Rahmen für dieses Wort oder für diesen Satz oder für dieses Gefühl geschaffen wird.

Frage: Kommt es auch vor, dass Sie eine Szene in mehreren Versionen drehen, vielleicht von verschiedenen Winkeln aus?

Staudte: Nein, nein, also das gibt es nicht, von verschiedenen Winkeln. Wenn ich nicht weiss, wie ich die Szene drehen soll, dann kann ich sie gar nicht drehen.

Frage: Sie entscheiden sich von vornherein für einen bestimmten Kamerastandpunkt?

Staudte: Ja. Ich verändere manchmal die Optik, das heisst, ich drehe dieselbe Szene noch einmal mit einer anderen Optik, weil man die Unterschiede der Optik manchmal am Schneidetisch besser beurteilen kann als im Atelier. Während ich eine Szene drehe, kann es auch passieren, dass ich plötzlich merke: mir ist ein interessanter Schwerpunkt, ein interessantes Detail verlorengegangen. Das ist aber eigentlich normales Handwerk.

Frage: Welche Rolle spielt bei Ihrer Arbeit die Montage? übernehmen Sie die Montage Ihrer Filme selbst?

Staudte: Nein. Die Montage ist bei meiner Art zu arbeiten im allgemeinen - obwohl es da auch Ausnahmen gibt - ein Vorgang ohne Schwierigkeiten, da ich den Film schon geschnitten drehe. Ich arbeite nicht nach dem Verfahren, das früher üblich war: diese Szene hätte ich lieber ein bisschen länger drehen sollen, jene ist doch nicht ganz so gut ausgefallen - und so weiter. Bei mir fängt die Szene im allgemeinen an einem bestimmten Punkt an; ich lasse sie natürlich etwas anlaufen, damit die Schauspieler den Ton, den Faden wiederfinden, und dann sage ich: Schluss, Ende, und bilde mir ein zu wissen, hier wechselt das Bild, hier muss es wechseln. Und deswegen verbrauche ich relativ wenig Material. Natürlich gibt es immer noch Ausnahmen, zum Beispiel kann man eigentlich nur im Schnitt herausbekommen, wenn eine Szene mal ganz überflüssig ist. Ohne einen guten Cutter kann ich keinen Film machen. Er muss die Inszenierung begreifen. Zum Beispiel passierte es gerade vor kurzem, dass ich an einem Film etwas ändern wollte, und mir der Cutter sagte: Nein, das wäre gegen Ihre eigene Inszenierung geschnitten, Herr Staudte, das würde ich nicht machen. Man braucht immer gute Mitarbeiter _... Es gibt wohl noch Unzulänglichkeiten. Ich habe sogar, wenn ich das noch sagen darf, einen diabolischen Spass daran, gewisse Unzulänglichkeiten schon bei der Aufnahme drin zu lassen; obwohl ich eigentlich weiss, dass es nicht ganz hinkommt, drehe ich die Szene nicht noch einmal. Weil ich der Meinung bin, dass ein Film, wenn er gut ist, so etwas mit durchzieht, - verstehen Sie, was ich meine? Zum Beispiel sind die Frankfurter Würstchen jetzt in Zellophan verpackt, und keiner hat sie mehr angefasst. Nur schmecken sie eben nicht mehr so gut; sie sind so hygienisch hergestellt, dass der Geschmack verlorenging. Ich will damit sagen: ich suche nicht das Absolute; es kann schon einmal ein Fehler vorkommen, es kann nicht alles gleich stark sein. Ich habe manchmal die Möglichkeit zu ändern, aber tue es nicht.

Frage: Kommt es eigentlich vor, dass Sie einen Film fertig montiert haben und dass danach Änderungen oder Eliminierung einzelner Szenen verlangt werden?

Staudte: Bei mir sehr selten.

Frage: Es gibt doch aber, wie berichtet wird, ein Beispiel aus "Rotation". Es soll sich da um eine Szene der Olympiade handeln.

Staudte: Ja, genau, hier hat es zum Beispiel auch eine Einflussnahme der Russen gegeben. Ich wollte damals einige Szenen aus dem Leni Riefenstahl-Film über die Olympiade in meinen Film übernehmen als Demonstration dafür, dass der kleine Mann damals 57 Nationen ins Stadion einziehen sah, während oben in der Führerloge Hitler mit seinen Ganoven sass. Und da haben die Russen gesagt: das geht nicht. Damals waren sie einfach dagegen, dass ein Deutscher so argumentiert. Sie meinten - es war vielleicht ein wenig spitzfindig, aber doch nicht unbegründet -, die Nazis könnten die Tatsache, dass das Ausland an der Olympiade in Berlin teilgenommen habe, nicht zu ihrer Entlastung heranziehen. Die Russen waren ja bei der Olympiade gar nicht beteiligt _... Diese Szene ist aus meiner persönlichen Erfahrung entstanden. Ich bin ganz sicher, und der Dialog sagt es beinahe wörtlich, dass der einfache Mensch auf der Strasse, hier in Berlin, der Meinung war, zu dieser Olympiade würde keiner kommen. Und deshalb waren diese Spiele mit ihrer grossen internationalen Beteiligung eine ausserordentlich gefährliche und wirkungsvolle Demonstration für das Grundgefühl des einfachen Menschen, des unpolitischen wie des politischen: er musste mit ansehen, dass wirklich diesem Staat die Ehre angetan wurde _... In meinem Film sollte dieses Schauspiel den Grund für den Eintritt des Helden in die Partei abgeben.

Frage: Eine bestimmte Szene in dem Film erweckt den Eindruck, als ob der Held von diesem Moment an einfach "abschaltet" und nicht mehr wahrnimmt, was um ihn herum vor sich geht: das ist die Szene, als unten auf der Strasse Juden abtransportiert werden und er im Zimmer die Gardine vorzieht.

Staudte: Ja, das war eine typische Situation, aber untermauert werden sollte sie mit diesem ungeheuren Schauspiel. Und von dieser Sache wollte ich auf die wehenden Fahnen im Stadion gehen - das ist zum Beispiel eine ganz klare Konzeption, an die ich mich heute noch erinnere - und von dort wieder zurückfahren auf die Jacke mit den Parteiabzeichen, die über einem Stuhl hängt, um zu zeigen, dass er schon gebrochen ist. Und die Russen haben gesagt: das kommt nicht in Frage, es besteht die Gefahr, dass argumentiert wird: die Welt ist schuld daran. Ich sagte, so sei es nicht gemeint gewesen, habe dann aber nachgegeben. Nein, der Krach, weswegen ich von der DEFA weggegangen bin, ist um eine andere Szene dieses Films entstanden. Das war die Szene, in der der Hitlerjunge aus der Gefangenschaft zu seinem Vater zurückkehrt, die Uniform in den Ofen steckt, einen Anzug anzieht und sagt: Vater, das ist mein erster Zivilanzug. Worauf der Vater entgegnete: Und das war Deine letzte Uniform! Diese Szene hat man rausnehmen wollen; ich habe mich aber entschieden geweigert, das zuzulassen. Und daraufhin wurde der Film tatsächlich ein Dreivierteljahr lang nicht aufgeführt.

Frage: Wegen der pazifistischen Tendenz dieser Szene?

Staudte: Wegen der pazifistischen Tendenz. Ich finde das nach wie vor dumm. Aber zu notieren ist eben, dass die DEFA den Film nicht herausgebracht hat, bevor nicht das placet vorlag. Schliesslich haben wir uns auf irgendeine Konzession geeinigt. Den Film gar nicht rausbringen, das hatte auch wieder keinen Sinn.

Frage: Wie steht es eigentlich mit der letzten Szene aus "Rotation", in der sich der Anfang noch einmal wiederholt: diese Gabelung, an der die jungen Leute schliesslich einen anderen Weg einschlagen als ihre Eltern zu Beginn, ist das auch eine ursprüngliche Konzeption von Ihnen?

Staudte: Sicher, ja. Aber da ist mir dann sowas mit links ausgelegt worden, dabei war das doch reiner Zufall!

Frage: War es wirklich Zufall? Ursprünglich sind sie den rechten Weg gegangen, aber die jungen Leute am Ende des Films gehen links!

Staudte: Sie gehen einen anderen Weg, aber letztlich lag es am Gelände. Eigentlich war es nicht so gemeint, aber ich habe nichts dagegen, dass es so ausgelegt wird!

Frage: Unbewusst mag es vielleicht doch so gewesen sein?

Staudte: Wissen Sie, es ist so wahnsinnig schwer, hier überhaupt eine politische Position, einen Standpunkt einzunehmen, weil es ja gar kein links mehr gibt; alles, was man hier auch ist, ist immer noch rechts von der Mitte. Wenn ich hier demonstriere für "links", meine ich ja links im Sinne der Demokratie, nicht links im Sinne einer politischen Auffassung. Die Opposition ist ein Gewicht auf der Waagschale der Demokratie, und man kann dieses Gewicht nicht abnehmen. Sonst ist das Gleichgewicht der Demokratie gestört, und dann haben wir die Diktatur.

Frage: Man hat Ihnen gelegentlich vorgeworfen, gerade auch bei dem Film "Kirmes", dass Sie im Grunde ganz negativ feststellten: das Rad dreht sich, alles geht weiter in seinem gewohnten Gang; Sie hätten keine Gegenposition, nicht das "Positive", wie man gern sagt. Das Positive bei Ihnen ist doch, dass Sie den Leuten mit diesem Rad bewusst machen wollen: So ist die Situation, betrachtet sie und fasst einen Entschluss; so ist sie, so brauchte sie aber nicht zu sein. Das steht doch eigentlich immer wieder dahinter: so muss es nicht sein!

Staudte: Nein, so muss es nicht sein, und so soll es nicht sein, und ich halte es für eine staatsbürgerliche Pflicht, darauf hinzuweisen, dass es auch anders möglich wäre _...

Es gibt einen ganz gerechten Vorwurf gegen mich: ich sei polemisch, ich sei mit Mitteln wenig wählerisch. Das ist vollkommen richtig. Ich möchte nicht immer alleine dastehen; es sollen einmal andere Leute kommen, die diese Themen aufgreifen. Aber natürlich will ich einen Film machen, der von möglichst vielen Menschen angesehen wird. Und ich bin sogar bereit, eine künstlerische Delikatesse zu opfern, sogar unter Umständen eine mir bekannte Objektivität zu übersehen, um ein bisschen gewalttätig, plakativ, meine Absicht mitzuteilen - aus gesellschaftlicher Verantwortung.

Frage: Man könnte Parallelen zwischen Ihren und bestimmten anderen Filmen aus der Filmgeschichte ziehen: z. B. in der Art, wie Sie bestimmte Objekte oder Embleme als Symbole verwenden im "Untertan", in der Gerichtsszene etwa.

Staudte: Ja, aber um das zu machen, braucht man doch kaum einen anderen Film gesehen zu haben. Wenn Sie Justitia vor sich haben, und gleichzeitig wird aus Despotie ein Fehlurteil gefällt, dann müsste man ja ziemlich vertrottelt sein, wenn man nicht auf die Idee käme, die Justitia als Symbol zu verwenden. Nein, ich bin der schlechteste Filmtheoretiker, ich bin alles andere als ein Cinéast zum Beispiel.

Frage: Diesem Wort gibt man ja nur in Deutschland eine so merkwürdige Deutung.

Staudte: Aber filmgeschichtlich bin ich recht unversiert.

Frage: Man hat diese Vermutung geäussert, um zu begründen, dass verschiedene Stile in Ihren Filmen zu finden sind.

Staudte: Ich habe auch gar keinen Stil. Ich habe vielleicht eine Handschrift, aber ich habe unter gar keinen Umständen einen Stil, sondern ich bin fortwährend auf der Suche nach einem Stil für ein Thema, für das Thema.

Frage: Ja, ein Thema, eine Idee, aber keinen einheitlichen Stil _...

Staudte: Nein, so meine ich es nicht, sondern ich meine, dass ein Regisseur wohl über die Stilmittel verfügen muss, dass er aber unter gar keinen Umständen sich mit einem Stilwillen vom Thema entfernen darf. Ich bin durchaus bereit zuzugestehen, dass ich mich hier und da geirrt habe, aber ich bin nicht bereit zuzugeben, dass ich zum Beispiel einen Stil forciert habe, der meiner Auffassung nach dem Thema nicht adäquat ist. Nehmen wir zum Beispiel "Die Mörder sind unter uns". Das ist ein Film gewesen, der in einer bestimmten politischen Depression entstand und der auf mich heute, weil das ganze Problem zu dieser Zeit für mich nicht lösbar war, pathetisch wirkt. In diesem Film gibt es noch viel Unbewältigtes, real war es ja auch nicht zu bewältigen. "Rotation" dagegen entstand aus einer ganz anderen Perspektive und besitzt überhaupt keine stilistische Ähnlichkeit mit "Die Mörder sind unter uns"; vielleicht ist es meine Handschrift, die die beiden Filme verbindet, aber an und für sich wollte ich mit "Rotation" eher ein Dokument schaffen. In "Rotation" finden sich zum Beispiel sehr wenige attraktive Einstellungen, meines Wissens - es sind eher einfache Einstellungen. Ich glaubte, dass dies die richtige Form sei, dass dieses proletarisch-kleinbürgerliche Milieu, das der Film beschreibt, einfach keine formalen Extravaganzen gestattet.

Frage: Es gibt allerhand Vermutungen darüber, wie Sie zum Film gekommen sind. Es heisst, Sie seien früher auch einmal Kunstmaler gewesen.

Staudte: Nein, ich bin nicht Kunstmaler gewesen. Ich war Schauspieler an der Berliner Volksbühne, ich habe noch bei Piscator gespielt, und nach 1933 habe ich mich geweigert, dem "Kultursturm" beizutreten, mit dem Resultat, dass ich Spielverbot bekam. Das dauerte ungefähr zwei Jahre. Ich habe damals als Schauspieler auch schon Werbeschallplatten für den Rundfunk besprochen. Und dann passierte es, dass diese Firma sich auf Werbefilme umstellte. Ich erhielt Gelegenheit, kurze Werbefilme zu schreiben und später zu inszenieren. Einen dieser Werbefilme sah der Chef von der TOBIS. Damals war eine Aktion zur Nachwuchsförderung im Gange, man vergab Aufträge für Dreihundert-Meter-Filme. Ich erhielt einen solchen Auftrag, schrieb ein Drehbuch nach einer Vorlage von Awertschenko "Ins Grab kann man nichts mitnehmen" und schaffte diesen Film sehr schnell. Dieser Film wurde dann als eine Art Musterbeispiel gezeigt. Zur gleichen Zeit hatte die TOBIS Charlie Rivels engagiert, aber man hatte kein brauchbares Buch. Ich bewarb mich darum, ein Exposé zu schreiben, habe es geschrieben, dann auch das Drehbuch - der Film hiess "Akrobat schö-ö-ö-n" -; schliesslich habe ich den Film auch inszeniert. Das war 1943. Und dann habe ich noch einen anderen Film fertiggedreht, "Ich hab von Dir geträumt". Nun herrschte wieder eine neue Situation: jetzt ging es darum, möglichst unpolitische Filme zu machen. An sich hatte man den Nachwuchs ja herangezogen, weil man von ihm politische Bekenntnisse erwartete. Aber das Kriegsende hat mich von solchen Verpflichtungen befreit. Ich besass jedoch kein echtes politisches Bewusstsein zu jener Zeit. Im Grunde war ich jener Typus Deutscher, wie ich ihn in meinem Film "Rotation" im Maschinenmeister Behnke gezeigt habe. Vielleicht ist aus dieser Erkenntnis heraus später überhaupt der Film entstanden. Meine Gegner werfen mir vor, während des 3. Reiches in Filmen mitgespielt zu haben, die mit Recht verurteilt werden. Dazu möchte ich nur feststellen, dass das bei einem Schauspieler meiner Kategorie folgendermassen vor sich ging: ein Aufnahmeleiter rief an und erklärte lapidar: "Du hast morgen bei mir zu tun, 7 Uhr Babelsberg. Etwa drei Tage." So war es im Fall von Veit Harlans "Jud Süss", und so war es auch im Fall von Rabenalts "Reitet für Deutschland". Aber selbst wenn ich damals die wahre politische Tragweite dieser Filme ermessen hätte, weiss ich nicht, wie ich mich verhalten hätte. Denn Ablehnung einer Rolle bedeutete damals für mich Einberufung zum Militär. Und das wollte ich unter gar keinen Umständen.

Frage: Gibt es nun einen Ihrer Filme, von dem Sie meinen, dass Sie in ihm Ihre polemische Idee am besten ausgedrückt hätten, den Sie für Ihr bestes Werk halten?

Staudte: Welches der beste Film ist, kann ich nicht sagen, nein. Ich halte allerdings "Kirmes" für einen Film, der hier, ich muss das immer noch sagen, in Deutschland ein bisschen schlecht behandelt, der unterschätzt worden ist. Vielleicht wollen die Deutschen ihn wirklich nicht sehen.

Frage: Der Film hat bei seiner Uraufführung auf den Berliner Filmfestspielen eine wenig verständnisvolle Aufnahme gefunden.

Staudte: Aber auf der Berlinale gab es eine Riesendiskussion!

Frage: Ja, es gab eine Diskussion, aber die Resonanz in der Presse war nicht sehr gut.

Staudte: Natürlich, Protest wollte ich ja haben!

Frage: Schätzen Sie überhaupt den Protest in der Presse hoch ein?

Staudte: Ich würde sagen, ja. Ich empfinde jede richtige, echte Auseinandersetzung als wichtig und fruchtbar. Aber ich habe zum Beispiel nie einen Bundesfilmpreis bekommen - "Rosen für den Staatsanwalt" hat wohl einen bekommen für eine Einzelleistung, Martin Held - _... Jedoch wäre es nun völlig falsch, deswegen beleidigt zu sein. Ich finde es durchaus legitim, mir den Bundesfilmpreis nicht zu geben, denn wer fortwährend Ärger hervorruft, der darf auch nicht darüber verärgert oder entsetzt sein, wie es manche Linksintellektuelle tun, die die Bundesregierung und die Gesellschaft fortwährend angreifen, dass zurückgeschossen, zurückgeschlagen wird; man darf dann nicht erwarten, dass man die richtige, offizielle Würdigung findet. Ich finde es schon durchaus achtbar, dass man einen Film wie "Rosen für den Staatsanwalt" für den Bundesfilmpreis akzeptiert und dass man mich dabei übersieht. Das finde ich fair, in Ordnung.

Frage: Welche Filme, die Sie in der Bundesrepublik gedreht haben, haben Sie nun wirklich nach Ihren Vorstellungen realisiert? Würden Sie das von "Rosen für den Staatsanwalt" sagen?

Staudte: Ja, und für "Kirmes" auch. Ich habe jetzt einen Film gemacht, der sehr interessant ist: "Herrenpartie". Die Konstruktion dieses Films ist nicht nur von mir, sondern auch von Werner Jörg Lüddecke. Er hat die Geschichte als Drama geschrieben, und ich habe sie stark in die Satire gedrängt, weil sie mir eigentlich nur in der Satire möglich schien. Dieser Film ist in jeder Hinsicht sehr interessant. Eine deutsch-jugoslawische Coproduktion über die Vergangenheit. Die Prämisse des Films ist sehr konstruiert, und deshalb trägt sie von Haus aus die Elemente der Satire in sich. Es fängt an mit einem deutschen Gesangverein, der an die dalmatinische Küste fährt, ein deutscher Gesangverein aus Neustadt. Dieser Verein besteht aus acht Herren. Diese acht Leute befinden sich auf der Heimreise. An einer Umleitung nehmen sie einen Weg, den sie nicht kennen, der führt immer bergauf, und schliesslich geht ihnen das Benzin aus. Am nächsten Morgen entdecken sie in der Nähe ein Dorf; sie wandern darauf zu, es kommen ihnen aber nur Frauen entgegen, schwarzgekleidete Frauen. Es gibt in diesem Dorf keine Männer mehr, weil sie alle von den Deutschen erschossen worden sind; das Dorf ist im Aussterben. Das ist nun keine Erfindung, denn es sind in diesem Dorf tatsächlich wegen eines Überfalls auf einen deutschen Marinesoldaten fünfzig Geiseln erschossen worden. Die Frauen dieses Dorfes leben in einer Art betonierter Vergangenheit. Als die Sangesbrüder in das Dorf kommen und als sich herausstellt, dass sie Deutsche sind, schliessen sich die Türen. Und in langen Diskussionen mit den Jugoslawen hat die ursprüngliche Arbeit eine Aufwertung erfahren, mit der ich nie gerechnet hatte und die sich der deutsche Autor, der das Buch geschrieben hat, auch niemals zugetraut hätte. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass nicht nur die Täter eine Vergangenheit zu bewältigen haben, sondern auch die Opfer. Und dass es für die Opfer unter Umständen viel schwerer ist, eine Vergangenheit zu bewältigen, als für die Täter; dass aber der eingefrorene Hass, die betonierte Vergangenheit ebenso reaktionär sind wie die reaktionären Elemente im deutschen Bürgertum. Und so distanziert sich dieser Film zum ersten Mal auf doppelte Weise von der Vergangenheit. Dass wir uns davon distanzieren, ist relativ einfach und schnell vollzogen. Aber dass auch die Jugoslawen, die ungeheure Opfer in diesem letzten Kriege bringen mussten, ebenfalls bereit sind, sich davon zu distanzieren, nämlich von der Hauptfigur dieses Films, die in ihrem Hass unversöhnlich bleibt, das ist etwas Besonders. Das ausserordentlich Heikle, Schwierige und Delikate an diesem Film war, ihn als eine Satire vor dem Hintergrund einer Geiselerschiessung zu inszenieren. Die Geschichte hat mich aber doch brennend interessiert.

Frage: In dem Moment, als klar wird, welche Vergangenheit dieses Dorf durchgemacht hat, müsste doch die Satire aufhören!

Staudte: Die Satire hört nicht auf. Sie setzt sich beim deutschen Gesangverein automatisch fort. In der Situation, in die sie geraten sind, fühlen sich diese Leute in Feindesland; der Gesangverein wird plötzlich zu einem Stosstrupp. Obwohl keiner von ihnen in Jugoslawien war, hat doch jeder eine militante Vergangenheit. Und in der Gefahr fangen sie an, sich diese Vergangenheit vorzuwerfen. Die Decke, die sich über die Vergangenheit der einzelnen Leute gezogen hat, ist bei vielen doch sehr dünn und reisst in dieser Situation auf.

Frage: Gibt es in Deutschland überhaupt noch Produzenten, mit denen sich arbeiten lässt? Produzenten sind ja nur Mittelsmänner. Eigentlich kommt es auf den Verleih an.

Staudte: Das Haupthindernis besteht dann, dass die Leute, die mit Film Geld machen wollen, das Geld wiederbekommen wollen, und dass die, die Kunst machen wollen, die legitimen Gegner derjenigen sind, die Geld machen wollen.


Filmographie Wolfgang Staudte

AKROBAT SCH-Ö-ÖN, 1943 - Produktion: Tobis; Drehbuch: Wolfgang Staudte; Kamera: G. Bruckbauer; Musik: F. Schröder, P. Kuhn; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Charly Rivels, Klara Tabody, Karl Schönböck
ICH HAB VON DIR GETRÄUMT, 1944 - Produktion: Tobis; Drehbuch: Herbert Witt, nach einer Idee von J. Vaszary; Kamera: F. Behn-Grund; Musik: W. Eisbrenner, E. E. Buder; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Fita Benkhoff, Else von Mollendorf, Karl Schönböck
FRAU ÜBER BORD (KABINE 27) 1945 - Produktion Tobis; Drehbuch: Curt J. Braun, nach einer Idee von Fritz Klotsch und Dinah Nelken; Kamera: F. Behn-Grund; Musik: W. Bochmann; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Heinrich George, Axel von Ambesser, Anneliese Uhlig, Carl Heinz Schroth (Dieser Film lief später unter dem Titel DAS MÄDCHEN JUANITA, die Musik soll jedoch W. Eisbrenner geschrieben haben.)
DER MANN, DEM MAN SEINEN NAMEN STAHL, 1945 - Produktion: Tobis; Drehbuch: Josef Maria Frank, Wolfgang Staudte; Kamera: E. Hoesch; Musik: H. Trantow; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Axel von Ambesser, Ruth Lommel, Gretl Schörg, Paul Henckels - (nicht aufgeführt)
DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, 1946 - Produktion DEFA; Drehbuch: W Staudte, J. Sibelius, E. Keindorff; Kamera: F. Behn-Grund, E. Klagemann; Musik: E. Roters; Szenenbild O. Hunte, B. Monden; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Ernst Wilhelm Borchert, Hildegard Knef, Arno Paulsen
DIE SELTSAMEN ABENTEUER DES HERRN FRIDOLIN B., 1947 - Produktion: DEFA; Drehbuch: Wolfgang Staudte, nach DER MANN, DEM MAN SEINEN NAMEN STAHL; Kamera: F. Behn-Grund, K. Plintzner; Musik: H. Trantow Szenenbild O. Erdmann, K. Herlth; Darsteller: Axel von Ambesser, Hubert von Meyerinck, Ilse Petri, Paul Henckels
WIRD EUROPA WIEDER LACHEN?, 1948 Dieser Film ist verschollen, filmographische Angaben konnten nicht ermittelt werden
ROTATION, 1948/49 - Produktion: DEFA; Drehbuch Wolfgang Staudte, Erwin Klein, Fritz Staudte; Kamera: B. Mondi; Szenenbild: W. Schneider, W. Eplinius; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Paul Esser, Irene Korb Karl Heinz Deickert, Werner Peters
SCHICKSAL AUS ZWEITER HAND (Zukunft aus zweiter Hand), 1949 - Produktion: Real Film; Drehbuch: Wolfgang Staudte; Kamera: W. Winterstein; Musik: W. Zeller; Szenenbild: H. Kirchhoff, A. Becker; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Marianne Hoppe, Ernst Wilhelm Borchert, Gerda Maurus, Erich Ponto
DER UNTERTAN, 1951 - Produktion: DEFA; Drehbuch: Wolfgang Staudte und Fritz Staudte, nach dem Roman von Heinrich Mann; Kamera: R. Baberske; Musik: H. H. Sieber, Szenenbild E. Zander, K. Schneider; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Werner Peters, Renate Fischer, Sabine Thalbach, Eduard von Winterstein, Paul Esser
A TALE OF FIVE CITIES (Fünf Mädchen und ein Mann), 1951/52 - Produktion: Grand National; Regie: R. Marcillini, G. v. Cziffra, Wolfgang Staudte, E. E. Reinert, Montgomery Tully; Darsteller: Bonar Colleano, Barbara Kelly, Anne Vernon, Gina Lollobrigida
GIFT IM ZOO, 1951 - Produktion: Camera begonnen von W. Staudte, beendet von G. Tilgner
DIE GESCHICHTE VOM KLEINEN MUCK, 1953 - Produktion: DEFA; Drehbuch: Peter Podehl und Wolfgang Staudte, nach dem Märchen von Hauff; Kamera: R. Baberske, E. Kunstmann; Musik: E. Rothers; Szenenbild: E. Zander; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Thomas Schmidt, Johannes Maus, Trude Hesterberg, Friedrich Richter
LEUCHTFEUER, 1954 - Produktion: DEFA/Pandora; Drehbuch: Wolfgang Staudte, Werner Jörg Lüddecke; Kamera: R. Baberske; Musik: H. Windt; Szenenbild: H. Zander; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Gertrud Sellhorst, Leonard Ritter, Horst Naumann, Friedrich Gnass, Hans Klering
MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER, 1955 - Produktion: DEFA; Drehbuch: E. Burn, Bert Brecht Wolfgang Staudte, nach dem Bühnenstück Brechts; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Helene Weigel, Simone Signoret, Bernard Blier - (nicht beendet)
CISKE DE RAT (Ciske - ein Kind braucht Liebe) 1955 - Produktion: Filmproductie Maatschappiy; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Dick van der Velde, Heli Finkenzeller, Bert Drews
ROSE BERND, 1956/57 - Produktion: Bavaria; Drehbuch: Walter Ulbrich, nach dem Bühnenstück von Gerhard Hauptmann; Kamera: K. von Rautenfeld; Musik: H Windt; Szenenbild: H. Barthel; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Maria Schell, Raf Vallone, Käthe Gold, Hannes Messemer
MADELEINE UND DER LEGIONÄR, 1958 - Produktion: Melodie; Drehbuch: Emil Burn, Johannes Mario Simmel, Werner Jörg Luddecke; Kamera: V. Vich; Musik: S. Franz Szenenbild A. Andrejew, H. Nentwig; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Hildegard Knef, Hannes Messemer, Bernhard Wicki, Helmut Schmid
KANONENSERENADE, 1958 - Produktion: Bamberger/Atlantis; Buch: Ennio de Concini, Duccio Tessari, Wolfgang Staudte; Kamera: G. Pogany; Musik: A. Lavagnino; Szenenbild: F. Lolli; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Vittorio de Sica, Fulco Lulli, Heinz Reincke [Lolli = Lulli ?]
DER MAULKORB, 1958 - Produktion: Kurt Ulrich; Drehbuch: Eckart Hachfeld, Manfred Barthel, nach dem Roman von Heinrich Spoerl; Kamera: G. Bruckbauer; Musik: H. M. Majewski; Szenenbild: R. Zehetbauer, J. Otto, Regie Wolfgang Staudte; Darsteller: O. E. Hasse, Herta Feiler, Hansjörg Felmy
ROSEN FÜR DEN STAATSANWALT, 1959 - Produktion: Kurt Ulrich; Drehbuch: Georg Hurdalek, nach einer Idee von W. Staudte; Kamera: E. Claunigk; Musik: B. Eichhorn; Szenenbild: W. Haag; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Martin Held, Walter Giller, Ingrid van Bergen
KIRMES, 1960 - Produktion: Freie Filmproduktion; Drehbuch: Wolfgang Staudte, C. Hubalek Kamera G. Krause; Szenenbild: E. Schmidt, O. Ivens; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Götz George, Juliette Mayniel, Menj Behrens, Hans Mahnke
DER LETZTE ZEUGE, 1961 - Produktion: Kurt Ulrich; Drehbuch: R. A. Stemmle, Thomas Keck, nach einem Bericht von Maximilian Vernberg; Kamera: E. Kyrath; Musik: W. Eisbrenner; Szenenbild: H. H. Kuhnert; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Martin Held, Hanns Lothar, Ellen Schwiers, Jürgen Goslar
DIE GLÜCKLICHEN JAHRE DER THORWALDS, 1962 - Produktion: Allgemeine Filmproduktion; Drehbuch: Maria Matray, Answald Krüger, Ch. Schürhoff; Kamera: S. Hold; Musik: S. Franz; Szenenbild: M. Matthies, E. Schmidt; Regie: John Olden und Wolfgang Staudte; Darsteller: Elisabeth Bergner, Hansjörg Felmy, Robert Graf
REBELLION, 1962 - Fernsehfilm, Produktion: Freie Filmproduktion; Kamera: A. Benitz; Szenenbild: M. Matthies, E. Schmidt; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Josef Meinrad, Hans Putz, Ida Krottendorf, Mario Adorf
DIE DREIGROSCHENOPER, 1963 - Produktion: Kurt Ulrich; Drehbuch: Wolfgang Staudte, Günter Weisenborn, nach dem Stück Brechts; Kamera: R. Fellous; Szenenbild: H. Heckroth, Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Curd Jürgens, Hildegard Knef, Gert Fröbe, Sammy Davis jr, Lino Ventura
HERRENPARTIE, 1964 - Produktion: Neue Emelka/Avala; Drehbuch: Werner Jörg Lüddecke, A. Diclic, Wolfgang Staudte; Kamera: N. Jovicic; Musik: Z. Hristic; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Mira Stupica, Olivera Markovic, Hans Nielsen, Rudolf Platte, Götz George
DAS LAMM, 1964 - Produktion: Fono-Film; Drehbuch: F. Leberecht, nach einer Erzählung von W. Kramp; Kamera: G. Neumann; Musik: P. Thomas; Regie: Wolfgang Staudte; Darsteller: Ronald Dehne, Elke Aberle, Dieter Kirchlechner
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Bezeichnender Wandel in Kinofabeln (1932) von Ernst Bloch

Zu sehen ist hier viel, zu erzählen weniger. Sonderbare Fälle sind selten, also kehren sie gern wieder. Nämlich in den Köpfen derer, die unterhalten wollen und nicht das Salz dafür haben. Immer wieder ist zu erblicken, wie sich einer als seine Tante verkleidet ins Bett legt. Wann freilich und wie oft, das bleibt sich bei so einem Stoff ohnehin gleich.

Aber einige Züge gibt es, die sind nur zuweilen fällig. Früher brachte sie die Zeitung im stillen Sommer, sie füllten damals das leere Papier, noch nicht den Film. Erinnert man sich der sogenannten heissen Hundstage, so waren auch damals Begebenheiten, die immer wieder von Zeit zu Zeit auftauchten. Die zwar den Ort wechselten, wo sie geschahen, nicht aber sich selbst, obwohl ihre Helden meist bewegliche waren. Etwa als Heuschrecken, die überfielen, oder auch nur als der geistesgegenwärtige Reisende, der mit dem Schrecken davonkam. Eben hat er sich zur Ruhe begeben und raucht noch eine Zigarette, Asche fällt auf den Bettvorleger, der Reisende blickt herunter - um eine sorgende Hand zu sehen, die unter dem Bett vorgreift und den Funken auslöscht. Bekannt, wie nun der Reisende halblaut zu sich spricht, von einer Decke spricht, die er sich noch holen will, das Zimmer verlässt und derart so wenig ausstirbt wie seine Geschichte. Hier ist das Muster einer beliebig wiederholbaren Wanderfabel, sie ist so alt wie die Seeschlange und wechselt mit ihr ab. Sie war allerdings an eine Zeit gebunden, aber an eine äusserliche, eben an den Hochsommer, worin nichts geschah. Sonst war nichts dahinter, die Fabel lebte als überall verwendbar, als geschichtslos auf.

Kehren jetzt aber gruselige Stoffe wieder, dann haben sie unterdes etwas erfahren. Sie sind erst recht zu etwas zuständig, zu unbestimmten Wünschen des Publikums, zur Flucht ins Grauen, zu bestimmten Absichten der Hersteller. Zwei Filme waren in letzter Zeit zu sehen, welche Wanderfabeln und vor allem ihre Veränderung, seit sie zuletzt waren, demonstrierten DER ANDERE, als stummer Film schon dagewesen, wandelt das alte Motiv der Bewusstseinsspaltung ab, des Mannes mit zwei Seelen, die nichts voneinander wissen. Glock zehn sinkt die hellere des Staatsanwalts in Schlaf, tritt die eines Ganoven hervor, wie die andere Figur eines Wetterhäuschens, und treibt die Dinge, die der Staatsanwalt verfolgt. Als Bassermann denselben Fall stumm spielte, war er ein klinischer, der das Publikum so viel anging wie eine Wachsfigur mit drehbarem Januskopf oder wie die Schrecken der menschlichen Seele überhaupt. Heute trifft derselbe Stoff ausgewechselte Beschauer, er trifft einen labilen Mittelstand, der alle Widersprüche seiner Klasse am eigenen Leib tragt, er trifft den zweideutigen Zustand dieser Mitte, ihre Klasse verlassen zu müssen, ohne sie verlassen zu wollen. Die Mehrzahl der Beschauer wurde über Nacht proletarisiert, ohne über Tag die Allüren des besseren Herrn oder der Madame abzulegen, die Mehrzahl merkt auch die Montage, welche heute nicht nacheinander, sondern ineinander mit ihren Bruchstücken geschieht. Der Film selbst begnügt sich mit der trivial-humanen Nutzanwendung, dass der Held, nachdem er Unterwelt gewesen war, nicht allein Staatsanwalt bleiben kann, sondern noch ein viel besserer werde, aber das Publikum riecht seine eigenen Lunten. Die Armut, welche zur Reprise solcher Stoffe zwingt, kommt hier nicht nur aus der pauvreté (des Einfalls oder der Hundstage), sie kommt ebenso aus einer Klasse, die wie Holz gespalten wird, ohne es zu wissen.

DER ANDERE aber, das wurde, in zweiter Filmreprise, auch der Amerikaner Frankenstein, ein smarter Herr und Homunculusmacher, der vor zehn Jahren noch Rabbi Löw hiess. An seiner Werkstatt ist Kurpfuscherisches von heutzutage, das mit elektrischem Zauberstab oder Patentlösung arbeitet, nicht spurlos vorübergegangen, der neue Golem wird unter Blitz und Donner, mit Hochspannung auch seitens des Publikums geboren. Der alte Film-Golem war schon mehrmals da einmal als der, den Rabbi Löw selbst erst unter Beihilfe der "Astarte" bildete, sodann als die nach dreihundert Jahren aus einer Grube ausgegrabene Figur noch einmal, welche ein Althändler ersteht, und tief in der Nacht, mittels der Gebrauchsanweisung eines alten Zauberschmökers, belebt. Beide Male aber war auch hier etwas weit hinten in der Türkei, Ablenkung oder Berauschung, gute alte Kuriosität, noch mehr von Rudolf Baumbach als von Meyrink und wie hinter Butzenscheiben photographiert. Jetzt fehlen die Butzenscheiben zwar ebenfalls nicht und der Ort des modernisierten Golem, eben "Frankenstein" genannt, ist Hollywoodsches Tirol, die Zeit jedoch ist jene Gegenwart geworden, welche ihre Golems selbst erzeugt. Der Tonfilm musste erfunden werden, um in "Frankenstein" den Weiberschrei des Opfers festzuhalten, das Opfer wird freilich gar keines, denn der Golem ist noch nicht der riesengross aufsteigende faschistische Mörder, er ist die Technik mit falschem Bewusstsein, die Angst eines Amerika, ohne Prosperity, vor sich selber Seltsam immerhin, wie gering die Zauberstoffe sind, die der Film ausbeutet. Dämmerzustand, Homunculus, Golem, manchmal noch etwas Fliegender Teppich, zuletzt Vampir, fast immer dasselbe. Seltsamer, dass gerade diese Wanderfabeln in unserer Zeit immer rascher rotieren und immer grössere Stücke Gegenwart bezeichnen, als wäre sie nicht nur Romantik, sondern Prognose. Prognose von neuer Angst, neuer Ungeborgenheit (kein Wunder auch bei diesem Wetter), Zeichen eines zu Ende laufenden Zeitalters, das seine Mitternachtsglocke hört.

Weil er nicht immer viel zu erzählen hat, lässt der Film viel sehen. Floskeln von früher leben sichtbar auf und füllen die Pause, bis sie ist und nicht ist. Der Rechtsanwalt reichte seinem Gegenüber eine Zigarre: dies ist im Film nicht leer oder braucht es nicht zu sein, denn jede Geste ist im Zeitalter der Bedrohung geladen geworden, verbirgt oder bedeutet dann Unterirdisches im Glanzlicht. Das alles unterstützt von dem Kunststück des Photographen, der sich auf scheinbares Nebenbei versteht, wie es im durchschnittlichen Roman vielleicht nur Gesprächsflickwerk bilden würde, im Film aber in entlegene Hauptstrassen von heute weisen kann. Der Film macht aus der formelhaften Sprache der Schriftsteller die ungebundenste Tugend des Photographen, und die Gesten von unterwegs überschneiden oft das ausgesprochene Ziel, so verblüffend wie lehrreich. Auch neue photographische Technik verändert derart die Wanderfabeln oft sehr, macht hier mit wirklichem Ernst und fast unerlaubtem neuen Animismus - aus Dingen, ja oft nur aus Beleuchtungen auf Dinge dramatis personae, kaum noch bekannt, woher und wohin Es gibt also auch Wanderfabeln, die sich dergestalt aus blossen Gesten und Dingen gebildet haben, nämlich aus solchen tausendfach wiederkehrender, doch erst im Film bemerkter Art. Dadurch, dass diese Gesten in den Film wandern, darin bei guter Regie von selber weiterwandern, werden sie erst zu Fabeln, zu unscheinbaren, gewiss doch. Aber in einem Film, dessen Regie Chaplin geführt hatte, lebt ein Mann, der sucht ein Mädchen, das er liebt, das er von sich gehen liess oder verloren hat (dies alles ist vergesslich), durchs ganze Land vergeblich die Jahre lang. Im letzten Bild erzählt der Mann einem Freund die Geschichte, er erzählt sie, in die Polster seines Wagens zurückgelehnt, blicklos, ganz den Erinnerungen hingegeben. Und haben Sie nie wieder etwas von ihr gehört? fragt der Freund, in diesem Augenblick beschreibt der Erzählende eine todtraurige kreisende Bewegung mit der Hand, es zucken die Schultern, das müde Gesicht und in diesem Augenblick, von dem riesigen Wagen verdeckt, fährt das Mädchen auf einem Bauernfuhrwerk vorüber. Das Doppel-Ich, die Golems passen ausgezeichnet in unsere Zeit und ihre Welt, worin sie fast schon sesshaft sind. Aber auch die sanfte Wanderfabel des Versäumens, wie sie hier und da und immer wieder bei Chaplin wiederkehrt, hat einen Blick in die Natur getan. Als in die Natur der Zeit, worin das Alte vergeht, aber das Neue noch nicht so einleuchtend wird, worin das Beste zwar keine Fabel, doch gleichfalls auf Wanderschaft ist, oft vorbeifahrend, nicht erkannt.       Suhrkamp Verlag
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Zum Beispiel: DER EWIGE JUDE

Eine Darstellung des propagandistischen Antisemitismus

Der Film DER EWIGE JUDE wurde 1940 von Dr. Fritz Hippler gedreht. Hippler war im Dritten Reich Reichsfilmintendant, Ministerialdirigent und Leiter der Abteilung Film im Goebbels'schen Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Der Film ist ein antisemtischer Propagandafilm, der das zu seiner Zeit in Deutschland offiziell gültige Bild des Juden in verbindlicher Weise entwirft. So sahen sich beispielsweise Veit Harlan und Werner Krauss vor Beginn der Dreharbeiten zu dem Film JUD SÜSS (1940), in dem Werner Krauss mehrere Juden darstellte, den Film DER EWIGE JUDE einige Male an, um sich die nötige Anregung zu verschaffen.

Bereits vor 1940 war Hippler im Film tätig gewesen, so als Co-Regisseur bei dem nationalsozialistischen Propagandafilm WORT UND TAT (1938) und als Regisseur bei den Kriegspropagandafilmen WESTWALL und FELDZUG IN POLEN (beide 1939). Der Antisemitismus dieses Films greift zum Teil auf die Tradition des europäischen Antisemitismus zurück, den er jedoch in seine rassistisch motivierte Judenfeindschaft umbiegt. Bereits der Titel "Ewiger Jude" geht auf eine Bezeichnung aus dem 13./14. Jahrhundert zurück, der "Ewige Jude" ist Hauptfigur einer Legende, die besonders in Pestzeiten auflebte, als man den Juden die Schuld an der Seuche zuzuschreiben pflegte, sie handelt vom jüdischen Schuster Ahasver, der Jesus auf dem Weg nach Golgatha die Rast verwehrt hat und der nun, verdammt, bis zum jüngsten Gericht nach Erlösung suchend umherirrt. In übertragener Bedeutung ist der "Ewige Jude" Symbol für das jüdische Volk, das seit der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. in der Diaspora lebt - als Strafe für das Verbrechen an Christus.

Geschickt greift nun der Autor diese schon vom Christentum definierte Bedeutung für den Titel des Films auf, für sich genommen bleibt dieser Titel jedoch noch relativ neutral angesichts der "Enthüllungen", die der Film selbst über den Juden bringen wird und die rückwirkend dem Begriff vom "Ewigen Juden" eine sehr differenzierte, emotionale Bedeutung verleihen. Der Autor stellt den Film als einen Dokumentarbericht hin, eine eingehende Auskunft über die Authentizität seines Materials gibt er nicht. Im Vorspann heisst es lediglich:

"Dieser Film zeigt Originalaufnahmen aus den polnischen Ghettos."

Und so lässt er sich natürlich auch alle Freiheit, Szenen zu stellen, Bilder tendenziös zu manipulieren, durch Schnitte unwahre Akzente zu setzen, kurz, er lässt der Propaganda Raum, die sich teils auf Wahres stützt, teils Falsches unterschiebt, so dass der Film unter dem Deckmantel der Dokumentation dieses ureigene Kriterium der Propaganda verbergen kann. Andererseits spricht man seine propagandistische Absicht deutlich aus.

"Die zivilisierten Juden, welche wir aus Deutschland kennen, geben uns nur ein unvollkommenes Bild ihrer rassischen Eigenart _... (Dieser) Film zeigt uns die Juden, wie sie in Wirklichkeit aussehen, bevor sie sich hinter der Maske des zivilisierten Europäers verstecken."

Denn die Absicht des Autors geht dahin, bestehende Normen zu revidieren - so bei denen, die noch "ihren anständigen Juden" haben -, durch die Demaskierung des "maskierten" Juden soziale Vorurteile aufzurichten und sie dort, wo sie latent vorhanden sind, zu festigen, ihren Inhalt zu präzisieren.

Die Intention des Films lässt sich an seiner formalen Gestaltung ablesen, an seiner Zweiteilung, die man entdecken kann, wenn man von zwei weniger integrierten Anhängseln absieht, die eine jüdische Familienfeier und Tierschächtungen schildern. Sie besteht dann, Charakter, Eigenschaften und Verhaltensweisen des Ghettojuden zu beschreiben und dieses Bild auf die Juden zu übertragen, die sich seit langem der Tradition Europas angepasst und in allen Bereichen mitgeformt haben. Diese westeuropäischen Juden, als deren Repräsentanten Persönlichkeiten von Chaplin bis Marx und dem "Relativitätsjuden" Einstein zitiert werden, identifiziert man mit den Ghettojuden, die man ihrerseits mit den Einwohnern Israels in eins setzt, um so die Berechtigung für eine verbale Diskriminierung, für Tätlichkeiten und schliesslich für die Ausrottung zu schaffen.

Damit man aber eine schablonisierte Charakterbestimmung vom Juden geben kann, präsentiert man Material, das gleich auf die Stereotype, die geschildert werden soll, konzipiert ist, das auf eine tendenziöse Feststellung hin ausgesucht ist. So geht man beispielsweise nie auf die sozialen oder traditionsbedingten Voraussetzungen für die Eigenart besonders der vielfach nach orthodoxen Regeln lebenden Ghettojuden ein, sondern hält sich nur an die tendenziöse Verknüpfung der vorgeführten Fakten. Der Zuschauer erhält nur scheinbar dokumentarisch-sachliche Informationen, in Wahrheit wird er ständig mit Schlagworten aus einem ideologischen Überbau vom Vorurteilen traktiert, die ihm das Gesehene ins "rechte" Licht rücken.

Diese Stereotypisierungen lassen sich komplexartig aufgreifen, obgleich der Film sie in vielfach verflochtener Weise vorführt.

Händlertum

Der Kommentar spricht vom Aufstieg des jüdischen Händlers. Die von ihm vorgebrachten verallgemeinernden Behauptungen sollen suggerieren, dass alle Juden Händler sind:

"Für den Juden gibt es nur einen Wert: das ist Geld. Wie und womit er das Geld verdient, ist ihm völlig gleichgültig. Die ersten Handelsobjekte sind gewöhnlich wertloses Gerümpel und Abfälle aller Art. Damit fangen die kleinen Juden an. Bald haben sie es soweit gebracht, dass sie von einem Bauchladen aus verkaufen können. Bald haben sie dann ein ganzes Warenlager zusammengewuchert. Nicht viel später besitzen sie einen richtigen Stand. Und die besonders Gerissenen unter ihnen sind bald Eigentümer eines kleinen Ladengeschäftes (im Bild Laden von Leon Borgenicht) und dann eines grösseren Ladengeschäftes (im Bild Namen wie Markus Goldfinger, Schleichkorn, Zylberklang). Und die Allergerissensten, das heisst Skrupellosesten, residieren zuletzt in Warenhäusern und Grossbanken _..." Diese polemisch vorgetragenen Halbwahrheiten kommentieren eine Sequenz, die Läden und Waren aus dem Ghetto in einer scheinbaren zeitlichen Aufeinanderfolge darstellt, obgleich diese Dinge tatsächlich gleichzeitig und räumlich nebeneinander vorhanden sind. Eine Argumentation mit einem typischen Einzelfall scheut man sehr zu recht, wurde sie doch nichts anderes als die Aufdeckung einer so apodiktisch hingestellten Generalisierung zur Folge haben. Und so stützt sich hier die Propaganda allein auf den Glauben an ihre eigenen Aussagen. Eine Szene, die Schachern im Gottesdienst zeigt, soll im Verein mit dem Satz "sagt doch das Gesetz: wer die Tora (Pentateuch) ehrt, dessen Geschäfte gelingen", den Beweis fuhren, dass die jüdische Religion das Händlertum billige und fordere.

Es ist der mit dem Kainsmal des "Untermenschen" behaftete Jude - eine Stereotype, auf die im folgenden noch eingegangen wird -, der Handel treibt, und so geht das Klischee vom handelnden Juden selbstverständlich Hand in Hand mit stereotypen Eigenschaften wie Geldsucht, Habgier, Bereicherung durch Betrug und Wucher. (In dem Film DIE ROTHSCHILDS (1940) von Erich Waschneck wird ein Geldtransport zu den englischen Truppen in Spanien gezeigt. "In ruhiger Schnittfolge hebt die Sequenz an, aber je mehr jüdische Stationen das Geld durchläuft, bei denen jeweils ein Teilbetrag hängenbleibt, desto rascher wird die Schnittfolge und desto "widerwärtiger" die jüdischen Gestalten zum Schluss sieht man nur noch unzählige greisenhaft gekrümmte Hände gierig nach dem Geld greifen " (Hans Peter Kochenrath in: Der Film im Dritten Reich S. 184)) Mit welcher Einfalt hin und wieder Behauptungen belegt werden, wie eine Handlung mit affektiver Bedeutung aufgeladen wird, die bloss voll alltäglicher Simplizität steckt und nichts weniger als typisch ist, zeigt die Einstellung von einem Juden, der Geld zahlt: sie soll emotionell Beweis für die Geldsucht der Ghettojuden sein.

Doch die Argumentation geht weiter, man führt die Kapitalanhäufung der Juden vor: "Das Durchschnittsvermögen des einzelnen Deutschen betrug 810 Mark, das Durchschnittsvermögen des einzelnen Juden betrug 10 000 Mark. Nicht durch ehrliche Arbeit, sondern durch Wucher, Gaunerei und Betrug."

Man macht die Anmerkung, der Jude horte sein Geld egoistisch und lasse es nicht der Zivilisierung seiner Umwelt zugute kommen; blosses Handelsobjekt seien ihm die vom "schöpferischen" Menschen, dem Arier, produzierten (materiellen) Werte. Übertragen auf den westeuropäischen Juden bedeutet das: sein ingenuines Händlertum befähigt den Juden, ein finanzpolitisches System von weltweitem Ausmass aufzurichten, und mit dieser Implikation und anderen, die weiteren Stereotypisierungen der Ghettojuden entsprechen, führt der zweite Teil des Films eine Reihe jüdischer Persönlichkeiten vor.

Parasitentum

Eine weitere, zu den Zwecken der Propaganda überaus geschickt gewählte Stereotypisierung ist die vom Juden als dem Parasiten und Schmarotzer, eine Metapher, die überaus gut geeignet ist, Affekte wachzurufen. Analog dem Verhalten von Parasiten nämlich soll sich der Aufbau der jüdischen Macht vollziehen: sie siedeln sich auf dem Kulturgrund der Gastvölker an, um von ihnen zu profitieren.

"Immer dort, wo sich an einem Volkskörper eine Wunde zeigt, setzen sie sich fest und ziehen aus dem verfallenen Organismus ihre Nahrung. Mit den Krankheiten der Völker machen sie ihre Geschäfte, und darum sind sie bestrebt, alle Krankheitszustände zu vertiefen und zu verewigen. So ist es in Polen, so war es in Deutschland. So haben es die Juden in ihrer ganzen Geschichte gemacht. Sie tragen die jahrtausendealten Züge des ewigen Schmarotzertums im Gesicht. Die Züge des ewigen Juden, der sich durch den Lauf der Zeiten in weltweiten Wanderungen stets gleichgeblieben ist."

Zwar bleibt der Vergleich mit den Parasiten zunächst etwas abstrakt und blass, aber sobald die Schmarotzer den Namen Ratten erhalten, die sich ebenso wie die Juden verhalten sollen, beleben sich Gefühle wie Ekel und Assoziationen an Schmutz und Krankheit.

Die Metapher vom Parasiten ist ein Kernpunkt der Propaganda gegen die Juden, denn von ihr aus lässt sich an weitaus mehr als an eine verbale Diskriminierung anknüpfen - eine solche ist der Vergleich mit den Parasiten an sich schon - an die physische Vernichtung.

Diese Folgerung entwickelt eine Schrift aus dem Amt Rosenberg, die für Schulen herausgegeben worden war: "Genauso wie in der Natur _... das schaffende und das parasitäre Prinzip vertreten sind, genauso gilt dies auch für das Völkerleben. Diese Prinzipien, das schaffende und das parasitäre sind eben von vornherein in allen Teilen der Schöpfung gültig gewesen, und als ein Teil der Schöpfung müssen die Rassen und Völker betrachtet werden _... (Der menschliche Körper) stellt einen hochentwickelten Zellenstaat dar, der parasitär z. B. durch Bakterien unterwandert wird, die selbst nicht in der Lage sind, einen Staat zu bilden. (_...) Ein so befallener Körper muss die eingedrungenen Parasiten überwinden oder er wird von ihnen überwunden. Hat er sie überwunden, so muss er ein Interesse daran haben, auch seine Umgebung von ihnen zu säubern, um eine Infektion für die Zukunft zu verhindern. Bei derartigen Auseinandersetzungen und Vorgängen können humanitäre Grundsätze überhaupt nicht herangezogen werden, ebensowenig wie bei einer Desinfektion eines Körpers oder verseuchten Raumes _..." (Walter Hofer, Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Seite 279)

Konspiration

Weiter ist dieser Vergleich mit den Parasiten so überaus geschickt, weil man in ihm alle anderen Stereotype - abgesehen von der, die den Juden zum Händler stempeln will - unterbringen kann: den Untermenschen, den Verschwörer, der die Weltherrschaft in allen nur möglichen Bereichen an sich reissen will und der zu diesem Zweck in die Maske dessen schlüpft, der ihn in seinem Land beherbergt "Und sie haben nicht umsonst Blutsverwandte an allen europäischen Höfen und entsprechend geheime Kenntnisse von allen Vorgängen an diesen Höfen und Ländern. Sie sind eine internationale Macht, obwohl nur 1 % der Erdbevölkerung, terrorisieren sie doch mit Hilfe ihres Kapitals Weltbörse, Weltmeinung und Weltpolitik."

Dies bezieht sich auf die Stereotype "Konspiration". Die Verschwörung der Juden, etabliert in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Finanzwesen, Kunst, Film und Presse, ist international: als Minorität beherrschen sie die Welt, und gerade die Religion stimuliert dies Verhalten der Juden - die Gesetzgebung der Tora, dies ist wiederum ein Anstoss aus dem Bereich des orthodoxen Ghettojudentums. Nach einer Sequenz in einer Synagoge resümiert der Kommentar, nachdem er einige Talmudstellen zitiert hat, die einen vom jüdischen Gott aufgetragenen und aus der Auffassung als auserwähltes Volk hergeleiteten Anspruch auf Herrschaft über fremde Völker belegen sollen.

"Das ist keine Religion und kein Gottesdienst mehr, das ist eine Verschwörung gegen alles Nichtjüdische. Die Verschwörung einer krankhaft hinterlistigen, vergifteten Rasse gegen die Gesundheit der arischen Völker und gegen ihr moralisches Gesetz."

Hauptakteure der politischen Konspiration sind dann auch die politischen Gegner, die entweder per se Juden sind (Bolschewisten und Regierende der Weimarer Republik (Vgl. die Darstellungen in BISMARCK (1937) von Wolfgang Liebeneiner ROBERT KOCH (1939) von Hans Steinhoff CARL PETERS (1941) von Herbert Selpin und VENUS VOR GERICHT (1941) von Hans H. Zerlett.) oder die zumindest jüdischen Einflüsterungen offen sind, wie die Regierungen in Frankreich, Amerika und England, die zur Zeit auch die Kriegsgegner sind. (Vgl. die Darstellung in DIE ROTHSCHILDS (1940) von Erich Waschneck)

Mimikry

Sollen diese Absichten der Juden, Nutzniesser bei anderen Völkern zu sein und die Weltherrschaft aus dem Untergrund an sich zu reissen, von Erfolg gekrönt sein, so müssen sie zweckmässigerweise eine Angleichung an ihre Gastvölker vortäuschen. Diese Blosslegung der "wahren" Identität - letztlich der mit den Ghettojuden - soll Ressentiments schüren.

"Es ist ein wesentliches Merkmal des Juden, dass er immer bestrebt ist, seine Identität zu verbergen, wenn er sich unter Nichtjuden bewegt. Eine ganze Gruppe von polnischen Juden, eben noch Kaftanträger und nun in westeuropäischer Kleidung, bereit, sich in die westliche Zivilisation einzuschleichen. In allen Äusserlichkeiten versuchen sie, es dem Gastvolk gleichzutun. Und instinktlose Völker lassen sich von dieser Mimikry täuschen und betrachten sie tatsächlich als ihresgleichen. Darin liegt die ungeheure Gefahr. Denn auch diese assimilierten Juden bleiben immer Fremdkörper im Organismus des Gastvolkes. So sehr sie ihm äusserlich ähnlich sehen mögen."

Zur Bekräftigung dieser Mimikry-Manie der Juden lässt der Autor unter anderem die Namen der Rothschildsöhne auf einer Karte, die deren Niederlassung in verschiedenen Ländern veranschaulicht in eine jeweils andere Schrifttype umschlagen. Eine Folge der verdeckten Identität der Juden ist ihre Sonderstellung gegenüber anderen Staatsbürgern, denn laut Kommentar brauchen sich die Juden nicht am Krieg zu beteiligen: sie wollen nur an Rechten, nicht aber an Pflichten und Nachteilen partizipieren, die eine Gesellschaft wohl oder übel auf sich zu nehmen hat. Selbst wenn das auf die Ghettojuden in Polen zutreffen sollte - auf sie nimmt der Kommentar bei dieser Äusserung Bezug -, der Hinweis darauf, dass das in anderen Ländern, so in Deutschland, nicht der Fall war, fehlt. (In dem o. a. Film DIE ROTHSCHILDS lautet ein Zwischentitel "Während die Völker auf den Schlachtfeldern verbluten, spekuliert der Jude an der Börse" (Kochenrath, S. 187))

Untermensch

Jede Beschreibung des Äusseren und des Verhaltens des Ghettojuden - und im Verlauf der Argumentation, des Juden überhaupt -, die spezifische Charakteristika fixieren will, liefert den Beweis für die Zugehörigkeit des Juden zu einer Klasse zu der des "Untermenschen", er ist biologisch und psychisch eingeordnet und vordeterminiert als Angehöriger einer Gruppe, der die Prädikate "schmutzig" und "kulturlos" gegeben werden. Dieser Gruppe fehlt a priori die Gleichstellung mit dem homo sapiens, und weil sie nicht vorhanden ist, glaubt man sie auch dem Juden als Staatsbürger absprechen zu müssen. Mit der Anmerkung des Kommentars, in der Vergangenheit seien die Juden mit doppelten Rechten versehen gewesen - sie seien Juden und dazu seit der französischen Revolution Vollbürger - scheint nun die Grundlage vollends gegeben, von der aus man die Nürnberger Gesetze rechtfertigen kann.

Darstellung der Stereotype: Verbale Argumentation

Eine Koryphäe auf dem Gebiet der Musik muss dem Autor als Autorität dienen, ein schon akzeptiertes Prestige soll seine Aussage absichern:

"Richard Wagner hat einmal gesagt, der Jude ist der plastische Dämon des Verfalls der Menschheit. Und diese Bilder bestätigen die Richtigkeit seines Ausspruchs."

Statistiken kann man im allgemeinen nur schwer nachprüfen, und nahezu umgekehrt proportional dazu steht das Vertrauen, das man in sie setzt, so stehen auch hier recht fragwürdige Zahlenangaben.

"1932 betrug der Anteil der Juden am internationalen Mädchenhandel 98 %" Einwände, die dem unvoreingenommenen Zuschauer kommen, oder wie es der Kommentar formuliert, dem "Uneingeweihten", werden häufig aufgegriffen, korrigiert und in die gewünschte Richtung gelenkt.

"Aber das ist nicht Hilflosigkeit, die zu bedauern wäre, das ist etwas ganz anderes. Diese Juden wollen nicht arbeiten, sondern schachern. Hier sind sie in ihrem Element."

Zum tendenziösen Kommentar gesellt sich dabei eine ebenso tendenziöse Gegenüberstellung der Einstellungen. Juden tragen einzelne Bausteine, stehen hilflos vor der Kamera; beim Stichwort "schachern" werden dann gestikulierende, handelnde Juden gezeigt. Eine Sequenz schliesst sich an, die es auffallend vermeidet, Handelsformen zu zeigen, die allgemein üblich sind.

Dieser Eingriff, diese indirekte Wendung an den Zuschauer, ist überaus geschickt, die Reaktion besonders dessen, der zum Antisemitismus erzogen werden soll, wird einkalkuliert, und im Aufgreifen dieser Reaktion wird die Revision der Normen angesetzt, die seiner antisemitischen Haltung noch entgegenstehen. Auffällig ist - wie schon in der zitierten Schrift aus dem Amt Rosenberg, wie dabei dem Zuschauer eine antihumane Einstellung eingeimpft wird, die mit einer Beruhigung seines Gewissens über die neue Haltung Hand in Hand geht. Eine ursprüngliche Meinung des Zuschauers eine aufkommende Frage wird einfach durch diese antihumane Schablone überdeckt, die als ein neues Postulat hingestellt wird. Diese Taktik setzt sich fort.

"Der uneingeweihte Betrachter wird diese handelnden Kinder zunächst als Zeichen einer grossen Armut betrachten wollen."

Hier wird nun schon während das Bild erscheint kommentiert, einem Einwand von vornherein begegnet. Denn inzwischen kann der Kommentator die Übereinstimmung des - gefügigen - Zuschauers mit seinen Forderungen als gesichert annehmen, ist doch das Verfahren, die Reaktion abzufangen, bis zu diesem Punkt viermal angewendet worden - zu jeder Sequenz. Der Zuschauer sieht sich nun veranlasst, anstatt im Nachhinein zu interpretieren, seine Gedanken sofort beim Erscheinen des Bildes "gleichzuschalten". Halb gefordert, halb selbstverständlich, weil inzwischen eingeübt, hat sich sein Abstand von einer antisemitischen Sehweise verringert. Hier lässt sich ein Lernprozess erkennen, dem sich der Zuschauer den ganzen Film hindurch zu unterziehen hat. Die Methodik des Autors beschränkt sich also bei näherem Hinsehen nicht darauf, nur Schlagworte zu präsentieren, sondern erzwingt durch eine psychologische Taktik eine Vertiefung und Integration der dargebotenen Sentenzen. Man kann sagen, dass jeder, der sich diesen Film so ansieht, wie er gemeint ist, das heisst, wenn er die Identifizierungsmöglichkeiten, die er anbietet, vollzieht, für die Dauer des Films Antisemit ist.

Der Film zeigt unter anderen Spielfilmausschnitten einige Szenen aus dem nicht antisemitisch angelegten amerikanischen THE HOUSE OF ROTHSCHILD (1934) von Alfred Werker, sie werden zur Unterstützung der Stereotype Bereicherung, Betrug durch Steuerhinterziehung und Aufbau einer konspirativen Macht auf finanziellem Gebiet uminterpretiert. Der amerikanische Originaltext zu einer Szene, in der Rothschild der Steuerhinterziehung beschuldigt wird, heisst:

Tax Collector Rothschild, you are doing more business than any Jew in Jew-Street. You are going to pay 20 000 Gulden. Rothschild 20 000 Gulden?! _... The big _... (unverständlicher Name) in the city doesn't pay so much.

Tax Collector: That 's another matter. He ist outside the Ghetto. He is not a Jew.

Der deutsche Untertitel verkürzt:

Steuerbeamter: Rothschild, du machst grössere Geschäfte als andere. 20 000 Gulden Steuern.

Der Dialogteil, den der Untertitel fortfallen lässt, motiviert Rothschilds Versuch der Steuerhinterziehung damit, dass Juden im Frankfurter Ghetto Sondersteuern zu entrichten hatten.

Im folgenden wird die Sterbeszene des Meier Amschel Rothschild gezeigt, in der der Werker-Film Familiensolidarität darstellt, sie wird zur Konspirationsplanung umgepolt, indem einfach der Akzent verlagert wird. Meier Amschel sagt:

"Unsere fünf Bankhäuser werden Europa beherrschen _... wenn diese Macht kommt, denkt an das Ghetto."

Wie man diesen, aus dem Zusammenhang gerissenen Satz auch auszulegen geneigt ist, die Möglichkeit, die der Antisemit sieht - die Androhung einer Rache -, ist nur eine von mehreren. (In dem Film DIE ROTHSCHILDS verbindet Nathan (Rothschild) die Zentren jüdischer und britischer Macht derart mit einem Bleistiftstrich, dass ein grosser, über Europa und dem Mittelmeerraum lagernder Judenstern entsteht. Als er auch Jerusalem in seine Zeichnung einbezieht, fragt ihn der englische Schatzbeamte. Haben Sie auch dort eine Filiale? Nathans Antwort "Wir sind alle Filialen von dort!" Zur Bekräftigung endet der Film mit einem schillernden, die ganze Leinwand füllenden Judenstern (Kochenrath, S. 185))

Die Ausschnitte aus DER MÖRDER DIMITRI KARAMASOFF (1931) von Fedor Ozep sind so gewählt, dass der Zuschauer im Unklaren über die Zusammenhänge bleiben muss. Auch sie werden im Sinne der Tendenz uminterpretiert "Der Jude Kortner" scheint seinen Vater umgebracht zu haben und die tanzende Gruschenka an sich zu reissen, um ihr Gewalt anzutun, (In JUD SÜSS vergewaltigt Süss Oppenheimer die blonde Arierin Dorothea Sturm (Kristina Söderbaum). Dies gilt im Film als Anlass zum Volksaufstand gegen die Juden, der schliesslich auch zu Oppenheimers Hinrichtung führt.) denn Kortner wird mit Dimitri identifiziert - hier zeigt sich, an welches Niveau sich der Film wendet, es scheint immer Leute gegeben zu haben, die nicht der Leistung eines Schauspielers, sondern seinen Rollen Tribut gezollt haben und die deshalb bereit sind, ihm die Charakterzüge, die er darstellt, auch privat zuzuschreiben.

"Demaskiert" werden einige Prominente dadurch, dass man ihre vollen jüdischen Namen anführt; damit hat man dann wieder ihre scheinbare Assimilation blossgelegt: Rosa Luxemburg = Emma Goldmann, Lassalle-Wolfson, Kortner-Kohn.

Argumentation mit optischen Mitteln

Eindeutig gestellt sind Szenen, die zur Verlesung der Statistiken über die Beteiligung der Juden am internationalen Verbrechertum vorgeführt werden. Die Kamera fährt an einigen Juden vorbei, die man in einer Reihe aufgestellt hat und denen man offensichtlich die Anweisung gegeben hat, ihr Gesicht von der Profil-- zur en-face-Aufnahme zu drehen, so dass Bilder wie aus einem Verbrecheralbum entstehen. Ähnlich verläuft ein Schwenk, den die Kamera bei einem Spielfilmausschnitt vollführt, in dem Juden der Berliner Gesellschaft gezeigt werden. Ursprünglich mag diese Sequenz etwa durch den Blick eines neu Eintretenden auf die Anwesenden motiviert gewesen sein, hier wird sie zur Identifizierung der assimilierten Juden mit den Ghettojuden.

Ein anderes wichtiges Mittel der optischen Argumentation sind Überblendungen und Verwandlungsszenen, die mit Hilfe einer Formalanalogie eine Charakteranalogie von Ghettojude, Israelit und assimilierten Juden erreichen wollen.

Zur Identifizierung der Ghettojuden mit den Einwohnern Jerusalems zeigt man zunächst eine Ghettostrasse in der Totale mit Torbogen, es folgt eine Kippblende - "das Blatt wird gewendet" -, und die nächste Einstellung zeigt, ebenfalls in der Totale und mit Torbogen, eine Strasse in Jerusalem, die mit der Ghettostrasse in Anlage, Perspektive und Ausleuchtung vollkommen übereinstimmt. Nach einigen Szenen jerusalemitischen Handels wird die Parallele dann fortgeführt durch die Wiederaufnahme der Händlersequenz im Ghetto, während der Kommentar sein Pauschalurteil abgibt.

"Es gibt keinen Unterschied zwischen diesen Juden in Polen und diesen in Palästina. Obwohl Erdteile sie trennen."

Für die Identifizierung der Ghettojuden ihrerseits mit den assimilierten Juden bemüht man sich weitaus trickreicher. Man stellt zunächst Juden als Ghettoangehörige vor - "Peies (Schläfenlocken) und Bart, Kappe und Kaftan kennzeichnen den Ostjuden für jedermann" -, um sie sich gleich darauf durch eine Überblendung in bartlose, europäisch gekleidete Menschen verwandeln zu lassen, "bereit, sich in die westliche Zivilisation einzuschleichen." (Veit Harlan benutzt in JUD SÜSS die gleiche Methode: Süss Oppenheimer (Ferdinand Marian) verwandelt sich vom Kaftanjuden in den elegant gekleideten zukünftigen Finanzienrat des Herzogs Karl Alexander.) Im Zweiten Teil des Films, der die Serie von Persönlichkeiten passieren lässt, steht dieses Motiv vom verkleideten Kaftanjuden im Mittelpunkt, denn diese Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kunst sind nur deswegen Inhaber ihrer Positionen, weil dieselben Eigenschaften, die der Ghettojude hat, auch sie befähigen, weil auch sie partizipieren an der Wesensart des "Ewigen Juden", des menschgewordenen Ungeziefers, des ewigen Parasiten und Schmarotzers. Und auch die Grundlage seines Konspirationsnetzes ist nichts anderes als das Syndrom der Eigenschaften, die der Ghettojude repräsentiert, die Arbeitsscheu, das Machtstreben und die Geldgier.

Metaphorisch argumentiert der Autor für die Sentenz, dass der Jude zum Zwecke seiner Konspiration und um seines politischen Einflusses willen "hinter den Regierungen stecke" eine Synagogenkuppel ist ständig in Doppelbelichtung zu sehen, während nacheinander die Regierungsgebäude verschiedener Nationen überblendet werden, die Houses of Parliament, die Assemblée Nationale, das Washingtoner Kapitol und schliesslich das Reichstagsgebäude. (Veit Harlan argumentiert in JUD SÜSS mit der gleichen Überblendungstechnik das Wappen des württembergischen Herrscherhauses wird überblendet zu einem jüdischen Emblem mit Davidstern.)

Emotionale Argumentation

Der erste Teil des Films, die Aufnahmen aus dem Ghetto, legt das Schwergewicht auf Bilder von Schmutz, Verwahrlosung und abstossenden jüdischen Physiognomien. Selbstverständlich ist der ganze Film dahingehend ausgerichtet, eine negativ geformte, emotionell geladene Einstellung zu den Juden hervorzurufen, doch scheint es angebracht, einige Methoden, die dies erreichen, anzuführen.

Auf einem Kartenbild wird die Ausbreitung der Juden über Europa gezeigt, sie konzentrieren sich schliesslich im polnisch-russischen Becken. Eine Zeichnung weisser Punkte - die Streuung der Juden markierend - springt über zu einem durchgehenden weissen Fleck, und dieses Gebilde läuft wie ein Eiterherd aus, als der Kommentar bemerkt, die Juden verstreuten sich über die ganze Welt, und ihre Wanderwege werden schliesslich stilisiert zu einem weltumspannenden Spinnennetz. Parallel angelegt ist die Karte über die Ausbreitung der Ratte, ein weisser Fleck in Asien läuft in derselben Weise nach Europa hin aus. (Die Information, die der Film hier gibt, ist falsch: laut Brockhaus ist die Ratte altweltlich also europäisch, und vom Menschen über die Erde verbreitet worden.) Diese Darstellung dient selbstverständlich dazu, in der Parallelisierung Juden - Ratten das Eindringlingsmotiv bieten zu können. (Ganz ähnlich und emotional gleichwertig zeigt Veit Harlan in JUD SÜSS das Eindringen der Juden in Stuttgart.) Die Analogie setzt sich fort, die Ratten werden mit menschlichen Eigenschaften versehen:

"Sie sind hinterlistig, feige und grausam und treten meist in grossen Scharen auf. Sie stellen unter den Tieren das Element der heimtückischen unterirdischen Zerstörung dar. Nicht anders als die Juden unter den Menschen."

Die beiden Formalpunkte der Analogie sind die dichtgedrängte Menge der Juden, wie sie im Ghetto gezeigt worden ist, und in der man auch die Ratten in einer gestellten Szene zeigt, und die Fortbewegung beider an Hauswänden entlang. (So stellt man Ratten und Juden in einem Schnitt gegenüber!) Aus dieser formalen Analogie leitet man optisch die Charakteranalogie zwischen beiden her: das Parasitentum, und man ist ohnehin schon bereit, nach den vorher erfolgten Stereotypisierungen des Ghettojuden "Ungeziefer" zu assoziieren.

Arische Stereotype

Zweierlei will man durch die Darstellung des arischen Menschen und seiner Eigenart erreichen einerseits soll die Stereotypisierung der Juden umso einprägsamer dastehen, andererseits will man die Eigengruppe idealisieren. Zu diesem Zweck greift man zu Mystifizierungen und apotheotischen Darstellungen des Ariers, er ist der Verfertiger "werteschaffender" Arbeit, die nicht Massenproduktion der Industrie noch geistige Produktion ist, sondern die handwerkliche Betätigung eines Einzelnen. (Diese Tendenz gehört zum Repertoire nationalsozialistischer Filme. Vgl. zum Beispiel TRIUMPH DES WILLENS (1935) von Leni Riefenstahl, WORT UND TAT (1938) von Gustav Ucicky, Fritz Hippler, Eugen York und Heinz John, SIEG IM WESTEN (1940) oder Spielfilme, die die Heimatfront beschreiben wie WUNSCHKONZERT (1940) von Eduard von Borsody.) Die aufgeführten kulturschöpferischen Tätigkeiten sind Drechseln, Tischlern, Töpferarbeit, Glasschleifen, Punzen (Kupferschmieden) und Schmieden. Die Kamera nimmt dabei die formende Hand sehr in den Vordergrund. Eine andere werteschaffende Leistung der Arier ist die Landgewinnung gezeigt wird, nah, ein Spaten im Ödland, zur Erhöhung der Wirksamkeit ohne Kommentar, ebenso wie eine Sequenz, in der die Arbeit heroisiert wird. Eine dunkle Silhouette von Arbeitern steht vor dem Horizont, dann folgt apotheotisch aus der Untersicht das konzentrierte Gesicht eines Arbeiters gegen einen Wolkenhimmel die nächste Einstellung zeigt nackte Oberkörper, die sich im gleichen Rhythmus der Arbeit bewegen, begleitet von heroisierender Musik. Die Sequenz schliesst mit einer Silhouette im Gegenlicht, einer Kette, die geordnet ist zur Arbeit für ein gemeinsames Ziel - der Schnitt konfrontiert die schon zitierte Einstellung vom Juden der Geld zählt.

Des weiteren werden die tierlieben[den] Deutschen den grausam schächtenden Juden in einer ausführlichen Sequenz gegenübergestellt.

In der Kunst müssen griechische Plastiken, religiöse Darstellungen italienischer und deutscher Künstler, sowie Bilder im Nazarenerstil, begleitet von Bachscher Orgelmusik, die arische Kunst repräsentieren, während "jüdisch-expressionistische" Darstellungen von originaler Negermusik begleitet werden. (Vgl. VENUS VOR GERICHT)

Zum äusseren Erscheinungsbild des Juden muss es auch eine Entsprechung bei den Ariern geben, und so bietet die Schlussapotheose die aus anderen Nazifilmen bekannten Jugendlichen mit den ebenmässigen Gesichtszügen und dem offenen auf die Zukunft und den Führer gerichteten Blick. Und da der Arier im Gegensatz zum konspirativen Juden offen seine Zugehörigkeit zur Kampfgemeinschaft kundtut, marschieren am Schluss Formationen, begleitet von der Melodie des Liedes "Wir sind die Fahnenträger der neuen (der judenlosen) Zeit".

So steht nun die gebrandmarkte und diffamierte Minorität der Juden einer idealisierten Gruppe gegenüber, die mit der gleichen Konsequenz, wie die Juden verteufelt werden, heroisiert wird. Fremdartiges, das auf verschiedenen Normen, auf anderen Gebrauchen, andersartiger Tradition in der Religion, (Vgl. die Synagogenszenen in JUD SÜSS) in der Kleidung, auf anderer physiognomischer Ausprägung beruht, dient als Projektionsebene für Eigenschaften, die bei der arischen Gruppe zwar vorhanden, der heroischen Idealisierung aber abträglich sind. Nicht zuletzt hat man auch einen Sündenbock für alles, was in den eigenen Reihen schiefgeht oder anzuprangern ist.

Will man sich jedoch mit einer solchen Auffassung - der Heroisierung der eigenen Gruppe und der Diffamierung einer fremden - solidarisch fühlen, muss man sich uneingeschränkt sowohl einer pluralistischen als auch einer toleranten Einstellung begeben. Denn relativierendes Eindringen in die Verhältnisse, reflektierendes Denken sind hier fehl am Platz. Bei mehreren Szenen läge es durchaus nahe, die besonderen Bedingtheiten der Situation aufzuzeigen, wenn man zum Beispiel auf die Grunde der Internierung der Juden im Ghetto eingehen wollte, wenn man als Erklärung für ihren mangelnden Eifer bei manueller Arbeit ihre Opposition gegen die Anordnungen des deutschen Militärs gelten lassen wollte, lösten sich sogleich die starren Schemata, wurden viel differenziertere, ambivalente Verhältnisse sichtbar, wurde aber auch die Wirkung der Propaganda aufgehoben, die ihre Überzeugungskraft aus mangelnder Begründetheit schöpft. Diese Mechanik des diametralen Denkens ist eine conditio sine qua non einer wirksamen Propaganda       Jutta Burghardt
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FBW und Grundgesetz

Die Filmbewertungsstelle Wiesbaden (FBW) ist immer wieder rechtlich und verfassungsrechtlich infrage gestellt worden. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel hat sich nun in seinem Urteil vom 16. 12. 1964 (OS II 48/63) als Berufungsgericht mit all den Argumenten, die bisher gegen die FBW vorgebracht wurden, auseinandergesetzt und entschieden, dass der FBW verfassungsrechtliche Bedenken nicht entgegenstehen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache hat er jedoch Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen.

Wir veröffentlichen ungekürzt die Entscheidungsgründe dieses wichtigen (und nicht rechtskräftigen) Urteils:

Wie der Senat bereits in den Urteilen vom 28. 2. 1962 - OS II 159/61 - und 22. 1. 1964 - OS II 123/63 - ausgeführt hat, ist die Filmbewertungsstelle Wiesbaden (FBW) eine durch Verwaltungsvereinbarung der Länder Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Berlin geschaffene Stelle (siehe Verwaltungsvereinbarung über die Filmbewertungsstelle Wiesbaden, Hess. StAnz. 1957, 1071, der das Saarland am 10. 3. 1959 beigetreten ist) zur Schaffung einheitlicher Unterlagen für die steuerliche Behandlung von Filmen und die Förderung des guten Films. Die FBW hat die Aufgabe, für die vertragsschliessenden Länder die in der Bundesrepublik und im Lande Berlin zugelassenen 1. Lehr-, Dokumentar- und Kulturfilme, 2. Jugend- und Märchenfilme und 3. Spielfilme dahin zu begutachten, ob diesen das Prädikat "wertvoll" oder "besonders wertvoll" zuerkannt werden kann. Gleichzeitig hat sie sich darüber zu äussern, in welche der vorstehend angeführten Stilkategorien der Film einzureihen ist. Entsprechend der Verwaltungsvereinbarung erhalten prädikatisierte Filme Steuerermässigungen nach Massgabe der Landesgesetzgebung. Damit entfaltet die Bewertung unmittelbar steuerrechtliche Wirkungen. Es bestehen daher keine Bedenken, dem Bewertungsbescheid, gleich ob er einen dem Produzenten günstigen oder ungünstigen Inhalt hat, die Eigenschaft eines (feststellenden) Verwaltungsaktes zuzusprechen (vgl. Ule in KStZ 1957, 258). Die Passivlegitimation des Landes Hessen für die Klage ist gegeben. Denn die FBW ist keine von der Ländergemeinschaft getragene zwischenstaatliche Institution, sondern eine nachgeordnete, zum Geschäftsbereich des Hess. Ministers für Erziehung und Volksbildung gehörige hessische Landesbehörde (vgl. Art. 1 der Verw.V. und Abschn. I Nr. 1 (1) der Geschäfts- und Verfahrensordnung, St. Anz. 1957, 1072). Die FBW war für die Erteilung der angegriffenen Bescheide auch sachlich zuständig.

Nach § 10 Abs.3 des Hess. Gesetzes über die Vergnügungssteuer vom 11.7. 1961 (GVBl. 1961 S. 106) ermässigt sich der Steuersatz in bestimmter Höhe bei der Vorführung solcher Filme, die von einer von der Landesregierung hierfür bestimmten Stelle als "wertvoll" oder "besonders wertvoll" anerkannt sind. Die von dieser Stelle erteilte oder verweigerte Prädikatisierung wirkt sich deshalb unmittelbar auf die steuerliche Behandlung der Filmveranstaltungen aus. Als die nach § 10 Abs. 3 des Vergnügungssteuergesetzes zuständige Stelle ist nach dem Beschluss der Hessischen Landesregierung vom 27. 3. 1956 die FBW bestimmt worden. Die Vergnügungssteuergesetze der übrigen Länder, die der Verwaltungsvereinbarung über die FBW vom 15. 7. 1957 beigetreten sind, enthalten dem § 10 Abs. 3 Hess Vergnügungssteuergesetzes übereinstimmende Bestimmungen. Entsprechend der jeweiligen landesrechtlichen Ermächtigung haben die Länder, die die Verwaltungsvereinbarung über die FBW abgeschlossen haben, die FBW als die für das jeweilige Land zur Prädikatisierung von Filmen zuständige Stelle bestimmt. Die Entscheidungen der FBW werden dadurch nicht nur von den für die steuerliche Behandlung von Filmveranstaltungen zuständigen kommunalen Stellen der vertragschliessenden Länder anerkannt, sondern sind auch - vorbehaltlich der gerichtlichen Nachprüfung - kraft landesrechtlicher Bestimmung für die Hersteller, Verleihfirmen, Importeure usw. in den jeweiligen Bundesländern verbindlich.

Durch die Ländervereinbarung über die Errichtung der FBW und der daraus folgenden überregionalen Wirksamkeit und Verbindlichkeit der Entscheidungen der FBW wird das in Art 20 Abs. 1 GG niedergelegte Bundesstaatsprinzip nicht verletzt. Denn die Vergnügungssteuer gehört zu den vom Grundgesetz in Art. 105 als Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes entzogenen Steuerarten. Es ist daher nicht möglich, durch Bundesgesetz die Vergnügungssteuer zu regeln. Auch der Bundesrat ist nicht - wie seinerzeit der Reichsrat - befugt, hierüber Bestimmungen zu erlassen, weil der Bundestag ihn hierzu nicht ermächtigen kann. Die Vereinheitlichung des Vergnügungssteuerrechts konnte daher nur durch die Verabschiedung inhaltlich gleichlautender Gesetze der einzelnen Länder erfolgen. Die auf den Vergnügungssteuergesetzen der Länder beruhende, kulturpolitisch wichtige Anerkennung wertvoller Filme kann den erstrebten Erfolg aber nur dann erreichen, wenn alle Länder gleichmässig einen Anspruch auf Steuerermässigung gewahren und die Bewertung wertvoller Filme einheitlich durch eine gemeinsam anerkannte Stelle erfolgt. Die Filmbewertung wird damit zu keiner Frage der Überregionalitat, die nach der Natur der Sache dem Bund vorzubehalten wäre, weil sie dezentralisiert entschieden werden kann. Die anzustrebende Gemeinsamkeit der Bewertungsentscheidungen erheischt aber die gemeinsame Wahrnehmung der den Ländern gestellten Verwaltungsaufgabe. Die gemeinsame Wahrnehmung kann verfassungsrechtlich unbedenklich in der Form geschehen, dass sich mehrere Länder intern an der Verwaltungseinrichtung eines Landes beteiligen, die nach aussen allein als solche in Erscheinung tritt. Wenn eine solche Einrichtung ihrer Natur nach nur Kompetenzen des betreffenden Landes in dessen Hoheitsbereich wahrzunehmen vermag (vgl. Kölble, NJW 1962, 1081), so kann deren Tätigkeit nicht nur in tatsächlicher, sondern auch rechtlicher Beziehung in den Dienst der anderen beteiligten Länder dadurch gestellt werden, dass die nach dem Recht des Sitzlandes entstandene Stelle mit der Wahrnehmung von Aufgaben durch die beteiligten Länder beauftragt wird (vgl. Maunz, NJW 1962, 1641). Durch die Wahrnehmung bestimmter Funktionen dieser Stelle, stellvertretend für die vertragschliessenden Länder (Mandat!), wird kein für das Bundesgebiet verbindliches Recht gesetzt, was verfassungsrechtlich unzulässig wäre (vgl. Pfeiffer, NJW 1962, 535), sondern für die vertretenen Länder nur einheitliche Entscheidungen getroffen, die bestimmte Rechtsfolgen "nach Massgabe der Landesgesetzgebung" auslösen (vgl. Art. 4 der Vereinbarung).

Die nur mandatsmässige Ausübung von Funktionen der vertretenen Länder (vgl. Art. 19 der Vereinbarung über die Kündbarkeit der Vereinbarung) bewirkt, dass die übertragenen Funktionen stets solche der vertretenen Länder bleiben. Damit ist zugleich klargestellt, dass die FBW kein Organ der Gesamtheit der Länder mit Zuständigkeit für das ganze Bundesgebiet ist (was nach Ansicht von Haegert, NJW 1961, 1137 der bundesstaatlichen Ordnung widerspricht), sondern eine von den vertretenen Ländern auf Grund der Ermächtigung der Landesgesetzgebung bestimmte Stelle, die im Rahmen der übertragenen Aufgabe auch nur Funktionen der vertretenen Länder ausübt. Die nach der Vereinbarung den beteiligten Ländern zugestandene Mitwirkung bei der personellen Besetzung der verschiedenen Gremien der FBW ist für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieser Stelle unerheblich. Ebenso wie es den Ländern unbenommen ist, für die vergnügungssteuerrechtliche Behandlung von Filmen eine nur für das jeweilige Land massgebliche Stelle (Einzelperson oder Gutachtergremium) einzusetzen, können sie auch einen Sachverständigen ihres Landes in ein Gremium eines anderen Landes entsenden, dessen Entscheidungen durch entsprechende Verwaltungsvereinbarung länderregionale Rechtsfolgen auslösen, durch gemeinsames Übereinkommen praktisch überregionale Wirkungen entfalten. Das bundesstaatliche Prinzip wird hierbei nicht verletzt, weil es den Ländern nicht verwehrt ist, eigenstaatliche Zuständigkeiten zur Ausübung (Mandat!) zu übertragen.

Dass die angegriffenen Bewertungsbescheide der FBW weder Art. 5 Abs. 3 GG noch Art. 3 GG verletzen, hat das Vordergericht zutreffend entschieden. Der Senat tritt den Ausführungen des Verwaltungsgerichts bei, weshalb sich eine weitergehende Begründung insoweit erübrigt. Das Verwaltungsgericht hat ebenfalls hinreichend begründet, dass die Einräumung eines Beurteilungsspielraums (vgl. Bachof, JZ 1955, 97, Menger, Verwaltungsarchiv 1963, 101) bei der der FBW obliegenden Aufgabe verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, und auch der in Art. 19 Abs. 4 GG garantierte Rechtsschutz gewährleistet ist. Denn die künstlerische Bewertung von Filmen, die die FBW vornimmt, unterliegt nur in sehr beschränktem Umfang der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Sie beruht auf den bei dem einzelnen Gutachter bzw. der Gesamtheit der Gutachter sich abspielenden inneren Bewertungsvorgängen, die nur teilweise rationell begründbar sind und deren Ergebnis daher auch je nach Ansicht und Eigenart der Gutachter bei gleicher Qualität des Films verschieden ausfallen könnte, ohne dass sich die objektive Richtigkeit der einen oder anderen Ansicht feststellen liesse.

Ein künstlerisches Werturteil ist im allgemeinen der logischen Überprüfung kaum zugänglich. Es stützt sich im wesentlichen auf eine bestimmte geistige Grundhaltung des Gutachters und auf emotionelle Momente, die selbst dem Gutachter bei Abgabe seines Werturteils im einzelnen kaum zum Bewusstsein kommen und die er auch grösstenteils mit Mitteln der Logik vielfach gar nicht zu erläutern und zu rechtfertigen imstande wäre. Daher muss im allgemeinen der Versuch einer erschöpfenden und in sich geschlossenen Niederlegung der für die künstlerische Bewertung massgeblichen Umstände dort scheitern, wo nicht nur ein einzelner Gutachter, sondern ein Gremium von Gutachtern tätig wird, wie es bei der FBW der Fall ist.

Deswegen können an die schriftliche Begründung einer Filmbewertung nicht allzu hohe Anforderungen gestellt werden. Ergibt sich aus ihrem Inhalt, dass die Gutachter ernsthafte Gedanken über das künstlerische bzw. kulturelle oder ethische Niveau des Films gemacht haben, so kann ihre Entscheidung in aller Regel nicht beanstandet werden, da es nicht Aufgabe der Verwaltungsgerichte sein kann, seine Bewertung an die Stelle der Bewertung des hierfür zuständigen und sachverständigen Gutachterausschusses zu setzen.

Nur dort, wo die künstlerische Wertung unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen und durch diesen Verfahrensverstoss beeinflusst worden ist, wo der Gutachterausschuss einem für die Beurteilung massgeblich gewesenen Tatsachenirrtum unterlegen ist, oder wo sein Urteil erkennbar auf unsachlichen Beweggründen etwa auf persönlicher Abneigung gegen den Filmhersteller, beruht, ist deshalb eine Aufhebung der durch die FBW getroffenen Entscheidung im Verwaltungsstreitverfahren möglich. Derartige Verstösse sind bei der zu Lasten der Klägerin getroffenen Entscheidung der FBW jedoch nicht festzustellen.

Wenn nach Ansicht der Klägerin die notwendig subjektiv ausfallende Beurteilung von Kunstwerken ohnehin nicht auf ihre objektive Richtigkeit überprüft werden kann, kann in der sich naturgemäss daraus ergebenden beschränkten gerichtlichen Nachprüfbarkeit keine Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG hegen. Wenn somit die Klägerin eine Uberprüfbarkeit schlechthin verneint, dann kann sie vom Gericht auch keine Aufhebung wegen falscher Bewertung verlangen und eine Neubewertung nach der Auffassung des Gerichts begehren. Im Rahmen der gerichtlichen Überprüfbarkeit ist dagegen festzustellen, dass sowohl der Bewertungsausschuss als auch der Hauptausschuss eingehend geprüft haben, ob die vorgelegte Kopie dies Films X ein Prädikat verdiene oder nicht. Die von beiden Gremien schriftlich gegebene Begründung enthält zu Recht auch Ausführungen über das künstlerische Niveau dieses Films. Weder die Prüfung selbst noch die für die Verweigerung des Prädikats gegebene Begründung lassen Verfahrensfehler erkennen. Der vorliegende unstreitige Sachverhalt gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Hauptausschuss bei der Begutachtung einem für die Beurteilung massgeblich gewesenen Tatsachenirrtum unterlegen ist. Dass dieser Ausschuss eine Entscheidung bewusst aus unsachlichen Beweggründen gefällt habe, wird von der Klägerin selbst nicht behauptet. Im Rahmen der nur beschränkt zustehenden Möglichkeit, derartige Bewertungen zu überprüfen kann vom Senat über die Richtigkeit der zur Verweigerung des Prädikats gegebenen künstlerischen Ansicht nicht befunden werden. Auch soweit die in der abgegebenen Beurteilung geäusserte Kritik in einzelnen Punkten Angriffen ausgesetzt werden kann, handelt es sich hierbei um eine künstlerische Wertung, die allein dem bewertenden Ausschuss oblag. Unmassgeblich ist deshalb, wie andere Einzelpersonen oder Gremien diesen Film bewerteten oder bewertet haben würden.

Unmassgeblich ist insoweit das Vorbringen der Klägerin, dass die Entscheidungen der FBW von anderen oft als Fehlbeurteilungen empfunden wurden. Massgebend ist nicht das subjektive Empfinden anderer, zur Begutachtung unzuständiger Personen, sondern die Bewertung der dazu berufenen Stelle, so fern sie im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfbarkeit nicht als objektiv falsch feststellbar ist. Da es zu allen Zeiten in allen Bereichen der Kunst Werke gegeben hat, die als Kunstwerke nicht erkannt oder lange Zeit verkannt wurden, kann es nicht ausgeschlossen werden, dass Filmwerke keine oder nicht genügende Anerkennung finden. Diese Möglichkeit rechtfertigt aber nicht, jedem Film die begehrte Prädikatisierung zu erteilen oder allen zu versagen. Denn eine mindere künstlerische Qualifikation rechtfertigt eine unterschiedliche Bewertung. In der Tätigkeit der FBW kann deshalb keine unzulässige Kunstzensur erblickt werden.

Die durch Art. 5 Abs. 3 GG gewährleistete Freiheit ist nur als eine institutionelle Garantie gegen unmittelbar normative Beschränkungen zu verstehen, die Förderungsmassnahmen des Staates zu Gunsten von Kunst und Wissenschaft nicht ausschliesst. Die Gewährung eines wirtschaftlichen Anreizes durch Steuervergünstigungen ist aber keine unzulässige Kunstzensur, sondern ein wirksames und nach Auffassung der Ländergesetzgebung unentbehrliches Mittel zur Förderung des Kulturfilmes und zur Hebung des allgemeinen Niveaus der sonstigen Filme.

Der Senat hält auch die übrigen Bedenken, die die Klägerin gegen die Tätigkeit der FBW geltend macht, nicht für erheblich. Die Meinungsfreiheit der Klägerin bei der Herstellung von Filmen wird nicht dadurch verletzt, dass der zur Prüfung vorgelegte Film kein Prädikat erhalten hat. Die Verweigerung eines begehrten Prädikats enthält auch keine indirekte Zensur, wenn, wie hier, weder der Inhalt der im Film geäusserten Meinung noch der Gegenstand der Berichterstattung, sondern ausschliesslich die dargebotene künstlerische Gestaltungsform einer Wertung unterzogen worden. Dadurch wird die Klägerin nicht genötigt, ihre künstlerische Auffassung über den Gegenstand des vorgelegten Films zu andern und auch nicht gezwungen, in Zukunft sich anderen als den in Aussicht genommenen Filmstoffen zuzuwenden oder die künstlerische Gestaltung nach einer ihrer künstlerischen Auffassung zuwiderlaufenden Meinung auszurichten. Insoweit kann auch in der Tätigkeit der FBW kein Verstoss gegen die grundgesetzliche Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit gemäss Art. 12 GG erblickt werden. Die in Art. 142 WV gebotene Kunstförderung ist nach dem Grundgesetz jedenfalls nicht verboten. Andernfalls dürfte kein Künstler durch Verleihung staatlicher Kunstpreise etc. eine staatliche Förderung erhalten.

Die von der Prädikatisierung ausgehende indirekte Förderung der Hersteller in der Form der den Steuerschuldnern zu gewährenden Steuerermässigung wirkt sich jedenfalls nicht zu Lasten der anderen Hersteller aus. Aber selbst dann, wenn die Errichtung und Tätigkeit der FBW verfassungswidrig wäre, wäre auch ein die Klägerin begünstigender Bescheid verfassungswidrig.

Würde ihr der begehrte verfassungswidrige Akt vorenthalten, dann wäre sie rechtlich nicht beschwert. Ihr bliebe dann nur die Möglichkeit, die Steuervergünstigung prädikatisierter Filme auf ihre Verfassungsmässigkeit hin gerichtlich überprüfen zu lassen, wenn sie als Steuerschuldnerin herangezogen wurde. Die beschränkte verwaltungsgerichtliche Überprüfbarkeit künstlerischer Werturteile, die in einem ordnungsgemäss durchgeführten Verfahren zustande gekommen sind und Steuerermässigungen nach Massgabe der Landesgesetzgebung auslösen, rechtfertigt aber nicht, die Bewertungspraxis der FBW als verfassungswidrig zu bezeichnen. Die von den einzelnen Ländern in der vergnügungssteuerrechthchen Behandlung von Filmveranstaltungen erreichte gesetzliche Übereinstimmung gebietet nach Art. 3 GG geradezu eine nach Massgabe der Vereinbarung für alle Länder zuständige Stelle mit einheitlicher Bewertungspraxis. Dass die FBW nur fertige Filme beurteilt, ist nicht zu beanstanden, weil gerade dadurch ein Einwirken auf die künstlerische Konzeption der Hersteller und damit die Gefahr einer indirekten Zensur vermieden wird.
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Rückumschlag

Ich glaube, dass es dem Film noch nicht gelungen ist, uns Meisterwerke zugeben,dieman mitdenenderMa- lerei,der Dichtung oder der Literatur vergleichen könnte. Schliesslich kann man vom Film auch kaum verlangen, dass er in den sechzig Jahren seiner Existenz bereits zu einem Stadium der Reife gelangt sei, das sich mit dem der fünftausend Jahre alten Literatur vergleichen könnte.       Luis Bunuel


Der Fall Kolberg

Der 30. Januar 1945 - Kolberg; Produktion UFA 1945; Buch: Veit Harlan und Alfred Braun; Kamera: Bruno Mondi; Musik: Norbert Schultze; Regie: Veit Harlan; Darsteller: Heinrich George Kristina Söderbaum, Horst Caspar, Gustav Diessl, Paul Wegener, Kurt Meisel, Irene von Meyendorff, Otto Wernicke; dokumentarische Bearbeitung: Lothar Kompatzki, Raimond Ruhl, Erwin Leiser

Schlagzeilen über einen deutschen Film, Pressepolemiken, Fernsehsendungen, Protesttelegramme und Anfragen bei Bonner Ministerien, Besorgnisse bei Polizeipräsidenten - ist der in Agonie hegende deutsche Film wieder lebendig geworden? Nun, der Film "Kolberg" um den es hier geht, ist über zwanzig Jahre alt, aber er hat heute in der Öffentlichkeit mehr Furore gemacht als, trotz aller propagandistischer Tricks, 1945 bei seinen Premieren in den "Festungen" des zerfallenden Dritten Reiches. Der Rezensent sah "Kolberg" zum erstenmal im Februar 1945 bei einer Sonderveranstaltung der Gauleitung in der schlesischen Stadt Neisse, wo ein verstörtes oder auch verbittertes Publikum zu ahnen begann, dass die Wirklichkeit des Krieges wenig mit dem zu tun habe, was seine Lieblinge Heinrich George oder Kristina Söderbaum auf der Leinwand demonstrierten. Und der Anblick jedes einzelnen Volkssturm-Mannes auf der Strasse dementierte schliesslich die Film-Parole, wenn das Volk aufstehe, breche der Sturm los.

Wie kam der letzte "Film der Nation" wieder in unsere Kinos? (Mit dem höchsten Prädikat "Film der Nation' wurden im Dritten Reich folgende Filme aus gezeichnet "Ohm Krüger" (1941), "Flüchtlinge (1941), "Der grosse König" (1942) "Die Entlassung" (1942) und "Kolberg". Den mit dem Prädikat verbundenen "Filmring" erhielten für "Ohm Krüger" Emil Jannings, für "Flüchtlinge" Paula Wessely und Gustav Ucicky, für "Der grosse König" Veit Harlan, für "Die Entlassung" Wolfgang Liebeneiner, für "Kolberg" Heinrich George. Von den fünf Filmen ist "Die Entlassung" unter dem Titel "Schicksalswende" schon seit Jahren im Verleih.)

Die Rechtslage ist verhältnismässig einfach, wenn auch wenig bekannt. "Kolberg" stand, zusammen mit etwa 40 - 50 Filmen, auf einer Verbotsliste der Alliierten. Ob diese Verbotsliste heute noch formell in Kraft ist oder nicht, ist eine offene juristische Frage. Im Bundesinnenministerium hält man sie für nicht mehr relevant. Die Rechte an diesen Filmen verwaltet treuhänderisch, im Zuge der Liquidation des ehemaligen reichseigenen Filmvermögens, die bundeseigene "Transit"-Film in Frankfurt. Von ihr hat der Duisburger "Atlas"-Filmverleih Kopie und Rechte erworben. Im Bonner Innenministerium erklärt man sich infolgedessen für nicht zuständig. Man hat zwar mit dem "Atlas"-Chef Hanns Eckelkamp auf dessen Wunsch gesprochen und sich den Film auch vorführen lassen, möchte aber "jeden Anschein von Staatszensur" vermeiden, wie es der Filmreferent des Ministeriums, Ministerialrat Günter Fuchs, formulierte, die Freigabe sei Sache der Filmselbstkontrolle. Deren Leiter, Dr. Ernst Krüger, begründet den Freigabe-Entscheid mit dem Hinweis, in der "Bearbeitung" des "Atlas"-Verleihs werde die Propaganda- und Manipulationstechnik des Dritten Reiches für den mündigen Zuschauer deutlich gemacht (Die Überlegung mag erlaubt sein, ob sich angesichts solcher Prinzipien eine neue Phase der Beurteilung politischer Filme, etwa auch der aus dem Ostblock, abzeichnet?)

Die "Bearbeitung" des "Kolberg"-Films geht in ihren Grundzügen auf den im Früh-Jahr tödlich verunglückten jungen Dokumentarfilmregisseur Raimond Rühl zurück, der 1963 bereits eine Sendung des Zweiten Deutschen Fernsehens über dieses Thema gestaltet hatte. Ausser Rühl wird im Vorspann auch Erwin Leiser als Bearbeiter genannt. Die endgültige Form stammt jedoch von Lothar Kompatzki; ausser ihm sind vor allem die "Atlas"-Mitarbeiter Berghoff und Dr. Albrecht daran beteiligt gewesen.

Die dem Film vorausgehende Bearbeitung informiert, zur "Presludes"-Musik von Franz Liszt, den Zuschauer zunächst knapp über die Filmpolitik des Dritten Reiches, dann über die Entstehungsgeschichte des Films "Kolberg". An dieser Stelle korrespondieren bereits vorweggenommene Ausschnitte aus dem Film mit bestimmten, von der Wochenschau festgehaltenen, Propaganda-Aktionen. Es folgt dann die NS-Wochenschau vom 30. Januar 1945, dem Datum der offiziellen Uraufführung. Lediglich bei dieser Wochenschau hat die Selbstkontrolle die Einfügung einiger zusätzlicher Kommentarstellen verlangt. Im "Kolberg"-Film selber wird das Bild an einigen Stellen festgehalten. Während etwa Gneisenau zu den Kolbergern spricht, erscheint in einer Kreisblende der damalige Reichspropagandaminister Goebbels und verkündet, "unsere Soldaten werden in diesen Kampf hineingehen wie in einen Gottesdienst". Wenn Goebbels wieder ausgeblendet wird, läuft der letzte Teil der angehaltenen Szene noch einmal, so dass der Zuschauer im ganzen doch eine kontinuierliche Filmhandlung erlebt, zum mindesten wieder in sie versetzt wird.

Das Ende der französischen Besatzung Kolbergs wird nicht durch eine Wochenschau-Einblendung, sondern durch einen Lauftitel kommentiert; er besagt, der Film verfälsche hier die geschichtlichen Tatsachen. Die Franzosen seien nach dem Frieden von Tilsit als Sieger in Kolberg eingezogen. Am Schluss des Films erinnert ein ähnlicher Schrift-Titel daran, dass der Zweite Weltkrieg 55 Millionen Tote gefordert habe. "Gezählt hat sie niemand", heisst es im letzten Satz.

Die Bearbeitung ist in dieser Form heftig kritisiert worden. Tatsächlich ist sie unvollständig und einseitig. Sie will vor allem nachweisen, wie sehr "Kolberg" ein Instrument der Goebbels'schen Propaganda gewesen ist. Das gelingt ihr zum Teil mit Hilfe der eingeblendeten Wochenschauaufnahmen; fragwürdig wird die Bearbeitung, wenn sie ziemlich unvermittelt zu allgemeinen politischen oder historischen Aussagen übergeht. Der Satz von den 55 Millionen Toten, die niemand gezählt habe, ist schliesslich ein Widerspruch in sich selbst. Auch der einmalige Hinweis auf die Verfälschung der geschichtlichen Tatsachen könnte den Zuschauer zu dem Schluss verführen, im übrigen halte sich der Film an die historischen Wahrheiten. Gerade hier wäre die Kommentierung besonders notwendig gewesen, und gerade hier versagt sie.

Denn so lapidar sollte man nicht behaupten, die Franzosen seien als Sieger in Kolberg eingezogen. In der Vorstellung des frühen 19. Jahrhunderts waren sie das durchaus nicht, weil sie Kolberg nicht erobert hatten. Kolberg blieb damit die einzige preussische Festung, die sich im Krieg 1806/07 erfolgreich gegen Napoleon behauptet hatte. Sie wurde damit zu einer der wichtigsten psychologischen Voraussetzungen für Scharnhorsts und Gneisenaus Reform der preussischen Armee, die nach Jena und Auerstädt ihren Ruhm fast gänzlich verloren hatte. Die tatsächliche Verfälschung der Geschichte liegt also nicht in der Behauptung von der Behauptung Kolbergs. Sie liegt auch nicht in der Umdeutung des historischen Gneisenau zum feurigen Heldenjüngling, wie ihn Horst Caspar spielt, nicht in der Umfunktionierung von Zitaten - das Wort des Marschalls Coubierre "Dann bin ich der König von Graudenz", wird hier Nettelbeck, auf Kolberg bezogen, in den Mund gelegt - oder in dem irreführenden Hinweis auf Schills Tod bei Stralsund - Schill ist erst 1809 bei seinem missglückten Putsch gegen Napoleon dort gefallen -, die Verfälschung der Geschichte liegt ursächlich in der Gleichsetzung des Hitlerschen Krieges mit den preussischen Kriegen gegen Napoleon, mit der das Dritte Reich sich zum letzten Mal das Film-Kostüm der preussischen Geschichte auszuborgen suchte. Vielleicht verlangt man von einer "Bearbeitung" Unmögliches, wenn man eine erschöpfende Analyse des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges von ihr fordert; sie ist in so knapper Zeit nicht zu leisten. Man darf wohl auch unterstellen, dass das Publikum in diesen Fragen informiert ist. Die historische Korrektur ist angesichts unseres verschütteten Geschichtsbewusstseins notwendiger - und sei es nur, weil ein Mann wie Gneisenau endlich von dem Odium befreit werden sollte, eine Art präfaschistischer Gauleiter gewesen zu sein.

Bleibt der Film "Kolberg" selber. In den vergangenen Jahren ist gelegentlich an einer "Kolberg"-Legende gewoben worden, so, als habe hier noch ein filmisches Wunderwerk im Arsenal gelegen. Diese Legende löst sich in Nichts auf, wenn man den Film heute sieht. Trotz der neun Millionen Produktionskosten, trotz der Riesenheere von Komparsen und der berühmten Schauspieler, die Harlan hier versammelte, ist der Film doch nur eine grosse Durchhalte-Schnulze, bei deren Betrachtung sich dem Zuschauer teilweise die Haare sträuben. Wenn sich die Königin Luise (Irene von Meyendorff) und das Bauernmädchen Maria (Kristina Söderbaum) umarmen ("So drücke ich Preussen und Kolberg ans Herz!"), ist der Kitsch perfekt. Auffällig sind die durchaus vernünftigen Argumente, die an einigen Stellen des Films vorgebracht und stets mit schwülstigen Phrasen zurückgewiesen werden. Wenn Nettelbeck im Bürgerrat nach dem Sinn des Widerstandes gefragt wird, antwortet er entwaffnend, ob man denn sachliche Gründe brauche, um ein anständiger Kerl zu bleiben. Auch beruft er sich nicht auf die Freiheit gegenüber der Napoleonischen Unterdrückung, sondern bedauert, dass man nicht selber andere unterdrücken könne ("Vasallen bleiben, wo wir herrschen könnten!"). Wenn aber Nettelbeck nachweist, dass ein bestimmter Befehl falsch gewesen sei, da hält ihm Gneisenau entgegen, darauf komme es ja gar nicht an. Wenn Schill erklärt, ein Bauernhof müsse aus militärischen Gründen "weg", dann steckt der Bauer den Hof im gleichen Atemzug in Brand, obwohl man Vieh, Vorräte, Kleidung und Mobiliar durchaus noch bergen könnte. "Wahnsinn, idiotischer" knirscht der (defaitistische) Bauernsohn Klaus dazu. Jeder halbwegs vernünftige Zuschauer muss sich in diesem Augenblick mit Klaus identifizieren - und er muss es auch und gerade im Februar 1945 getan haben, als er schliesslich sein Fluchtgepäck jeden Tag schnürte. Der Aufruf zum blinden, sinnlosen Opfer beweist nur, dass das Propagandaministerium die Bevölkerung damals entweder für total verdummt hielt oder den Kontakt mit der Wirklichkeit total verloren hatte.

Und wie wirkt das alles heute? Der "Atlas"-Verleih hat umfangreiche psychologische Tests durchgeführt, und vor den Fernsehkameras sind Besucher des Films interviewt worden. Neonazistische Gesinnung wurde so gut wie nie offenbar - aber wird sie offenbar? Auch von den Durchhalte-Parolen zeigte sich niemand angetan - aber wer will heute im Ernst behaupten, das deutsche Volk habe 1945 zu früh die Waffen gestreckt. Ob man Festungen bis zum letzten Blutstropfen verteidigen soll, ist eine Frage, die nicht am Modell des "Kolberg"-Films beantwortet werden kann - und die im übrigen vom internationalen Film jeden Tag in einer anderen historischen oder exotischen Verkleidung entschieden genug beantwortet wird.

Die wirklichen Gründe für die Wiederaufführung des Films, so sagte Dr. van Dam vom Zentralrat der Juden in Deutschland, seien kommerzieller Natur. Im Hause "Atlas" widerspricht man dem nur bedingt, man gibt zu, dass ein Verleih Geld verdienen will und Geld verdienen muss. Der Berliner Publizist Gero Gandert hat dazu empfohlen, sich Peter Weiss und seine "Ermittlung" zum Vorbild zu nehmen, also die Einnahmen den Opfern des Faschismus zur Verfügung zu stellen. Nun, man wird es wohl in andere Filmproduktionen investieren. Und somit hatte alles seine Ordnung.

Wirklich alles?

Wem der Gedanke unbehaglich bleibt, dass heute mit einem Film wieder Geld verdient wird, der schliesslich gedreht worden ist, damit ein paar Millionen Menschen mehr geopfert werden konnten, der muss sich darüber klar sein, dass sich so die wirtschaftlichen Gesetzmässigkeiten in einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft erfüllen, dem die Mehrzahl der Bundesbürger soeben wieder seine Stimme gegeben hat.       Walther Schmieding
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Le Bonheur Die Unmittelbarkeit des Glücks

LE BONHEUR, Frankreich 1965; Produktion: Paro Film; Buch und Regie: Agnes Varda; Kamera: Jean Rabier und Claude Beauzoleic; Musik: W. A. Mozart; Darsteller; Jean-Claude Drouot, Claire Drouot, Sandrine Drouot, Olivier Drouot, Marie-France Boyer

Agnès Vardas zweiter Spielfilm LE BONHEUR setzt der schlüssigen Interpretation grosse Widerstände entgegen - das wird jeder, der diesen meisterhaften Film sah, empfunden haben.

Identifiziert sich Agnès Varda mit dem von ihr dargestellten Glück oder will sie dessen schönen Schein entlarven, um dahinter ein inhumanes, egoistisches Glück des Mannes oder sogar ein total vergesellschaftetes Glück zu zeigen? Bejaht sie oder kritisiert sie? Das sind die Fragen, an denen sich die Interpretationen scheiden. Agnès Varda eine bewusst kritische Haltung nachweisen zu wollen, verlangt vom Interpreten, dass er vom nur Geschilderten auf eine polemische Absicht rückschliesse, dass er des bösen Blicks im Abmalen des Schönen gewahr werde. Dieser Film reizt geradezu zur Überinterpretation, weil er die gesuchte Kritik selbst nicht direkt ausspricht, Agnès Varda keine explizite Stellungnahme nachzuweisen ist. Alles was über diesen Film gesagt werden kann, lässt sich nur aus dem Wie der Darstellung, aus seiner ästhetischen Struktur ableiten.

Am weitesten hat wohl Enno Patalas (vgl. Filmkritik 11/65) die Entschlüsselung der kritischen Absicht getrieben, indem er den Film als eine Schilderung des vergesellschafteten, unter den Zwängen der bewusstseinsformenden Kulturindustrie stehenden Glücks interpretiert. Agnès Varda male nur, so behauptet er, unsere Vorstellungen vom Glück, nicht aber das Glück selbst, sie stelle keine primäre, sondern eine nur mehr sekundäre, d. h. gesellschaftlich prädeterminierte Realität dar. Die Vorstellungen vom Glück seien bestimmt durch die in einer Tauschgesellschaft angepriesenen, Glück verheissenden Waren, z. B. das Blau der côte azur [côte d' azur], die tausendfach für den Mittelstand reproduzierten van Gogh, Renoir, Mozart, Chagall. Dass Chagall auf eine Briefmarke herunterkommen könne, zeige, wozu die gesicherten Kulturgüter heute taugen. "Ausgetrieben ist durch Hör- und Sehgewohnheiten aus dem allgemeinen Bewusstsein längst, was in den Werken einst der Realität Widerstand entgegensetzte." Enno Patalas sieht in Agnès Vardas Film die Darstellung des total vergesellschafteten Glücks "Den Empfindungen, noch den vermeintlich subjektivsten, geheimsten, unaussprechlichsten, geht die Benennung voraus, die sie zum Gemeingut macht".

Wenn das Glück der Individuen so total vorbestimmt wird, dann kann es jedoch kein Glück mehr sein, ein Glück allein unter der Herrschaft des Warenangebotes ist ein nur eingeredetes, ist, wenn es die einzelnen auch nicht wissen, Unglück - das müsste Patalas eigentlich folgern, aber er wagt den Kopfsprung ins vergesellschaftete Glück: "_... auch diese Vergesellschaftung der Gefühle bedeutet Glück: wer hätte noch nicht die kathartische Wirkung eines zufällig gehörten Schlagers bemerkt, der die eigene Schwermut bündig beim Namen nennt?" Hier schlägt die Kritik in eine Apologie der Vergesellschaftung um, in ein Sichbeugen unter "die Gewalt der Wirklichkeit, die unsere Vorstellungen prägt", in eine Kritik an denen, die idealistisch daran festhalten, dass man heute noch anders als mit stillschweigender Anerkennung des freundlichen Terrors der schönen Waren glücklich werden könne.

Erscheint das Glück in Agnès Vardas Film tatsächlich als ein total vergesellschaftetes?

Greifen wir z. B. die Szene, in der das Fernsehen erscheint, heraus. In dem dort gezeigten Film Renoirs lagert ein Paar unter einem Baum, ähnlich wie vorher Therese und François im Wald, sie reden von Liebe, wie vorher François und Therese auch. Sind François und Therese deshalb abhängige Konsumenten jedes fremden, nur nicht des eigenen Glücks? Betrachten wir die Szene genau: die Familie besucht nach einem Ausflug in den Wald auf dem Heimweg Verwandte, bei denen gerade das Fernsehen läuft. Man erwartet, alles werde sich vor den Fernsehapparat setzen und so den Anlass des Besuches vergessen. Aber das geschieht nicht, die einzige, die sich für das Fernsehen interessiert, ist die kleine Gisou, die sich nuckelnd vor ihm aufbaut. Die anderen sind so beschäftigt mit ihrem Begrüssen, Fragen, Antworten, Abschiednehmen, dass das Fernsehen zu dem wird, was es sein sollte: eine, aber nicht die alleinige Quelle des Vergnügens, die man vergisst, wenn gern gesehene Gäste kommen.

Wenn jemand sagt "Dies Kleid ist schön", weil er gerade ein schönes Kleid sieht, wenn an einer Wand steht "j' aime" und man ist tatsächlich gerade verliebt, wenn eine Wand blau ist und mit "azur" betitelt und François wenig später eine ebenso blaue Flache für seinen kleinen Sohn malt - was besagt das eigentlich? Beweist es, dass das Schöne nicht mehr schön ist, wenn man seiner Empfindung für das Schöne Ausdruck gibt, beweist es, dass die Menschen nicht glücklich sind, weil sie es nicht für sich behalten können? Kann man nicht mehr unmittelbar lieben, wenn an den Wänden steht "j' aime", ist François die Phantasie abhanden gekommen, weil er das Blau einer Plakatwand nachahmt und dabei vielleicht sogar "côte azur" assoziiert? Strebt denn der Glückliche nicht nach Ausdruck seines Glücks, teilt der Bewunderer des Schönen denn nicht gern seine Bewunderung anderen mit, und fällt dem Glücklichen nicht immer gerade das in die Augen, das seinem inneren Zustand zu entsprechen scheint? Da stehen an einem banalen Eisladen geheimnisvolle Worte wie "Versuchung" und "Mysterium", die Agnès Varda einschneidet, als sich François in Emilie zu verlieben beginnt, da sieht er ein "j' aime" und irgendwo ein Blau - Agnès Varda verbindet solche Elemente mit den Empfindungen der Personen, ohne damit jedoch schon zu behaupten, dass das Glück der Menschen unter der Herrschaft des Warenangebots stehe. Oftmals tritt sogar in der Zusammenstellung von Menschen und Waren die Differenz zwischen ihnen offen zutage.

Wenn ein Vogel auffliegt und gleich danach eine Briefmarke mit einem Vogel zu sehen ist, so beweist das noch nicht, dass alles verdinglicht ist, denn man muss gesehen haben, wie unbefangen Emilie die Briefmarken betrachtet, wie angemessen unbeeindruckt sie von den auf eine Briefmarke heruntergekommenen Kulturgütern ist. Wenn der überdimensionale Kopf von Nasser auf einem Plakat den Hintergrund von François bildet, so ist das eine witzige Kombination, die jedoch über François' Innenleben nicht das geringste aussagt, denn er sieht das Bild nicht einmal an. Alle Utensilien der Reklameindustrie umgeben die Personen, aber solange man nicht weiss, was das für die Personen bedeutet, sagt es nichts über sie. In Emilies Zimmer hängen Filmgrössen, an einem Schrank in der Werkstatt ist Brigitte Bardot zu sehen, es gibt von nah aufgenommen eine Schachtel Zigaretten, Bier usw. - das Merkwürdige ist nur, dass die Menschen mit diesen Dingen leben wie mit Gegenständen und dass sie gar nicht den Eindruck machen, als wäre in ihrem Leben schon alles so vorbenannt, dass sie zu eigenem nicht mehr fähig sind: als François und Therese den Film VIVA MARIA mit B. B. und Jeanne Moreau besuchen wollen, fragt ihn Therese, welche von beiden ihm als Frau lieber wäre, und er sagt "Du"!

Wenn Agnès Varda uns eine idyllisch schöne, sonnige Parklandschaft als den Ort zeigt, an dem die Familie Chevalier ihre freien Tage verbringt, so sehen wir hier ist diese Familie glücklich. Weshalb aber glauben wir es? Muss man nicht zu Recht misstrauisch sein, da doch die Plakatwände das Natürliche als das Verkäufliche anpreisen. Hat nicht unsere Tauschgesellschaft längst ihre begehrlichen Augen auf das Natürliche gerichtet? Tatsächlich sind uns lächelnde Familiemdylle à la Rousseau, der Gestus des glücklichen Lächelns überhaupt, verleidet durch den lächelnden Gefühlsaufwand, der sich an Plakatwänden in Verbindung mit Nachtcreme, Salatöl, Mon cheri und anderen das Leben ölenden und versüssenden Produkten breitmacht. Und doch: wir glauben Agnès Varda das Glück, das sie darstellt. Wir sehen eine idyllisch schöne Parklandschaft und müssen fürchten, dass uns Camping-Natürlichkeit angepriesen wird. Aber einerseits entzieht sich das künstlerische Niveau Agnès Vardas bewegter Malerei sofort jeglichen Reklameklischees, und andererseits zeigt sie an der Natur etwas, das sich von angepriesener Natur unterscheidet das Nichtperfekte. Die Perfektheit des Camping-Natur-Erlebnisses hat die Natürlichkeit längst vernichtet und ist mit der Anstrengung grossen zivilisatorischen Aufwandes verbunden. In Agnès Vardas Film jedoch erkennen wir am ungezwungenen Verhalten der Familie, dass die Natur für den Menschen da ist. Wenn Agnès Varda mit Sorgfalt das lockere Haar Thereses, das drollig-struppige von Gisou, den schmutzigen Hosenboden von François und den Schmutzfleck am rechten Knie von Therese festhält, so bezeichnet sie genau die entscheidende Differenz zwischen einem perfekten und einem natürlichen Verhalten zur Natur.

Es ist zwar wahr, dass das Glück immer vermittelt, ja auch gesellschaftlich vermittelt, ist, aber es wird vernichtet, wenn es aufhört, auch unmittelbar zu sein. Glücklich sein heisst Unmittelbarkeit erfahren. Das Erlebnis der unmittelbaren Nähe des anderen, der Übereinstimmung, des Einseins macht das subjektive Gefühl des Glücklichseins aus. Glück ist deshalb vor allem immer Liebesglück gewesen. Das Liebesverlangen des Menschen ist die natürliche Gewähr seines Strebens nach Unmittelbarkeit, das auch noch die sublimiertesten Formen der Liebe zu durchdringen trachtet. Auch in LE BONHEUR ist das Glück Liebesglück Zufriedenheit mit der Arbeit, freundschaftliche Beziehungen zu den Verwandten, herzliche Zuneigung zu den Kindern auch sie sind Erscheinungen der Liebe, ihr Kristallisationspunkt hegt jedoch in François Liebe zu Therese und Emilie. Die Liebe zwischen Therese und François hat den Charakter glücklicher Vertrautheit und einfacher Natürlichkeit, sie vereinigt Zärtlichkeit und Sinnlichkeit so unmittelbar, dass Agnès Varda nur ihr Erscheinungsbild festzuhalten braucht, um dies zu beweisen. Das Zusammensein von Emilie und François hingegen gestaltet sie sehr bewusst: sie komponiert einzelne Teile des Körpers und unterlegt der Sequenz ein musikalisches Thema voller Ruhe. Sie hält zugleich die Fremdheit zwischen den Sich-Kennenlernenden aber auch ihre entstehende Vertrautheit fest. Einerseits nämlich ist der schnelle. Rhythmus der Teile des Körpers zeigenden Bilder dazu angetan, die suchende Fremdheit auszudrücken, andererseits aber sind diese Teile so komponiert, dass sie Strukturen darstellen, die, noch unterstützt durch die Musik, ein Moment Ruhe in der Unruhe bilden. Die Vereinigung von Zärtlichkeit und Sinnlichkeit, die zwischen Therese und François schon unmittelbar lebendig ist, wird hier im Entstehen beobachtet. Emilie und François folgen nicht blinder Sexualität, sondern beginnen ihre Körper als Strukturen wahrzunehmen und gerade damit eine neue, reichere Unmittelbarkeit zu gewinnen. In der sublimierten Form des nicht stumpfen, sondern bewegten Geniessens erscheint die Natur des Triebes verwandelt: er ist sehend geworden und zeigt sich der zärtlichen Betrachtung, der Ruhe im Genuss fähig. Dass im Kunstvollen das Natürliche, dass im Vermittelten das Unmittelbare verwandelt erhalten bleiben kann, dass Sublimation die Sexualität nicht unterdrückt, sondern bereichert: genau dies fängt Agnès Varda hier ein.

Aber noch ein anderer Aspekt der natürlichen Unmittelbarkeit wird sichtbar, nämlich seine Beziehung zur konkreten Gesellschaft. So fängt Agnès Varda die Natürlichkeit von Therese sehr genau ein, wenn sie sie mit nackten Brüsten zeigt. In einer Zeit, in der die Brust als Natur tabuiert und zugleich von der Bekleidungs- und Kulturindustrie als sexuelles Anreizmittel verplant ist, in der es sich keine Frau erlauben wird, ihr Kind in der Öffentlichkeit zu stillen oder ohne Bikini zu baden, tritt einem Natur in der Nacktheit Thereses überraschend wahr entgegen. Agnès Vardas einfacher Gestus des Zeigens auf die Blösse unterscheidet sich völlig von dem üblichen, auf sexuellen Anreiz gerichteten Gestus des Entblössens. Agnès Varda geht nicht auf den Identifikationsmechanismus zwischen dem tastenden Auge der Kamera und dem des Zuschauers aus; im blossen Zeigen wird offenbar, dass Therese nicht für die Bedürfnisse des Zuschauers, sondern nur für François da ist. In der einfachen Nacktheit ist ein Affront gegen dessen gesellschaftliche Manipulation enthalten; das Natürliche ist das Nicht-Künstliche, es ist der Inbegriff der Freiheit von den gesellschaftlichen Konsumzwängen.

Agnès Varda setzt das Natürliche jedoch nicht nur als einfache Antithese gegen die gesellschaftliche Konvention, sondern sie macht diese Antithese immanent glaubhaft, indem sie Therese's Körper so zeigt, wie er aussieht, wenn man ihm die konventionell vorgeschriebenen Hüllen nimmt. Hätte Agnès Varda nur die Antithese zur Konvention setzen wollen, so hätte sie einen gleichmässig schönen Körper gezeigt und damit zweifellos die zivilisationskritischen Bewunderer klassischer Schönheit erfreut. Sie zeigt Thereses Oberkörper jedoch so, wie er nach einem schönen Sommer aussieht, nämlich braun-weiss gestreift. Es wäre Agnès Varda ein Leichtes gewesen, diesen Streifen der Zivilisation mit etwas Farbe zu beseitigen, aber indem sie gerade das nicht tut, erreicht sie einen die gesellschaftliche Wirklichkeit enthüllenden Effekt. Denn die Versprechungen der Miederwarenindustrie lassen genau das aus, was Agnès Varda zeigt: dass das vollkommene Bekleidetsein eine unvollkommene Nacktheit nicht nur korrigiert, sondern auch hervorbringt. Diese Dissonanz gibt der Natürlichkeit Thereses an Wahrheit, was sie ihr an Schönheit nimmt.

Das Natürliche gewinnen, kann heute nicht mehr heissen, sich nur antithetisch zur Gesellschaft zu verhalten, sondern es gilt den Prozess der Wiedergewinnung des Natürlichen durch die Gesellschaft hindurch zu vollziehen. An einem anderen Beispiel mag deutlich werden, wie sehr natürliche Unmittelbarkeit und gesellschaftliche Determination ineinandergreifen und es Agnès Varda doch gelingt, Unmittelbarkeit zu gewinnen: gemeint ist ihre Darstellung des Schmerzes von François angesichts der toten Therese.

Tränenströme, pathetische Gesten, dramatische Sterbeszenen - so ist das Klischee, das Unmittelbarkeit des Schmerzes oktroyieren will. Diesem Klischee des Schmerzes sind nur noch die Gesten, nicht aber die Realität des Schmerzes geblieben. Agnès Varda greift, um diese Realität anschaulich zu machen, zum Mittel der Stilisierung. Sie wiederholt mehrmals, wie François die tote Therese zu sich heranzieht, schneidet dazwischen die flüchtige Einstellung der ertrinkenden Therese und beendet die Sequenz mit François' Sichneigen über Therese. Das Wiederholen der Einstellungen ahmt einerseits das sich im Wiederholen des Unfassbaren äussernde Nichtfassenkönnen des Todes nach, andererseits wirkt es verfremdend auf den Zuschauer. Da das Unmittelbare selbst schon Klischee ist, gelangt Agnès Varda zu ihm nur noch durch die Kunst des Künstlichen, und sie distanziert dadurch den Zuschauer von einem sentimentalen Zusammenfliessen seines scheinbaren mit François' wirklichem Schmerz. François behält seinen individuellen Schmerz, und weil dem Zuschauer Raum gelassen wird, ihn nachzufühlen, stellt sich jene Unmittelbarkeit ein, die das Indiz des Natürlichen ist: in der Poetik trägt sie den Namen Katharsis.

Stellt Enno Patalas' Interpretation von LE BONHEUR als der Darstellung des vergesellschafteten Glückes gewissermassen eine extreme Position innerhalb der Kritik dar, so ist eine andere Interpretation weit häufiger, die LE BONHEUR als die Kritik am Besitzanspruch des Mannes versteht. Zwar ist es richtig, in der Liebe von François Egoismus zu entdecken, jedoch liegt er nicht In der durch den Lauf der Geschichte sanktionierten gesellschaftlichen Vorrechtstellung des Mannes. Tritt denn François egoistisch fordernd, patriarchalisch anmassend auf? Nichts von alledem. Er liebt unschuldig, gleichsam vor aller Moral; wendet er sich Therese und den Kindern zu, zeigt er alle Gesten glücklicher Vertrautheit, er liebt zärtlich und ohne Anmassung. Sein hervortretender Egoismus ist für Agnès Varda kein moralisches Problem, etwa so, dass sie ihm vorwerfe, er liebe ohne Verantwortung. Sie wirft ihm überhaupt nichts vor, denn zum einen kümmert er sich um seine Familie wie zuvor, und zum anderen entspringt seine Liebe einer grossen Hingabefähigkeit. Wenn es für François' Art zu lieben eine Bezeichnung gibt, dann die er liebt ästhetisch.

Er liebt ästhetisch, denn er liebt das Schöne, liebt sensibel, bewundernd, geniessend. Der Gegenstand seiner Zuneigung ist die Schönheit der Natur, die er nicht nur in einer blühenden Landschaft beim sonntäglichen Ausflug ins Freie, sondern auch in seiner Familie und an den Frauen erfährt. Therese erscheint ihm wie eine Blume im Garten, Emilie wie ein Tier in der Freiheit - "ja, so ist das, ich liebe nun mal die Natur". Nicht, dass Emilie die wilde, unberechenbare Natur verkörperte, die in François eine wilde, unberechenbare Leidenschaft erweckte, auch sie ist wie Therese von einem festen, schützenden Zaun umgeben, ist domestizierte Natur, die zum Bewundern und nicht zum Beherrschen geschaffen ist. Das Geniessen, das Betrachten der zum Bewundern geschaffenen Schönheit hält François jedoch in einer Passivität, in der seine Objekte tendenziell austauschbar werden. Wenn Therese eine schöne Blume, Emilie ein schönes Tier ist, so sind das Unterschiede, die sehr leicht in sich zusammenfallen und zum Schönen der Natur schlechthin, mithin austauschbar werden können. Als dann auch François Therese und sich mit blühenden Apfelbäumen, umgeben von einem festen Zaun, vergleicht, aber Emilie für ihn ebenfalls ein Apfelbaum, nur ausserhalb des familiären Zaunes ist, offenbart seine Bewunderung des Naturschönen, seine Art, ästhetisch zu lieben, ihre inhumanen Züge. Die Frauen erscheinen auswechselbar, bar aller Individualität.

Emilie, so naturhaft sie François erscheint, ist ein sehr reflektierter Mensch, der es zu ertragen vermag, dass das Glück für einen anderen noch ein anderes Gesicht haben kann als das eigene, sie kann das, obwohl sie François' Vorstellungen vom sich vermehrenden Glück als naiv empfindet und den ironischen Ton kaum verbirgt mit dem sie ihm sagt, sie verstehe ihn jetzt, da er ihr alles so schon erklärt habe: "Das war ja fast eine Vorlesung". Verglichen mit Emilies Bewusstheit erscheint Therese weit eher als einfache Natur. Und doch lebt auch in ihr ein Anspruch auf eine ungeteilte, individuelle Liebe, den sich bewusst zu machen sie bisher jedoch weder eine Notwendigkeit noch ein Bedürfnis fühlte. Erst in dem Augenblick, in dem die Selbstverständlichkeit ihres Glücks zerbricht, erwacht dieser Anspruch. Die Betroffenheit, mit der sie auf François Geständnisse reagiert, das In-Sich-Zurückziehen und darauf die Heftigkeit ihrer Hingabe beweisen, wie sehr die sonst immer gleichmässig heitere Therese erschüttert ist. So, wie sie liebt, liebt sie absolut: "Wie lange sind wir schon nicht mehr allein7" "Aber ich bin deine Frau und ich habe nur dich lieb" - in diesen Sätzen spricht sie sich selbst aus. Sie fühlt in sich die Kraft, ihn genauso zu lieben wie Emilie, ja, sie kann noch mehr auf eine Liebe verzichten, in der sie mit François nicht mehr allein ist. Ihr Tod ist Ausdruck dafür, dass sie andere Frauen nicht ersetzen, dass sie nur sie selbst sein will, unteilbar, ungeteilt liebend, Individualität.

Diesen Anspruch nimmt François nicht wahr. Sein Verhalten zu den Menschen ist kindlich, sein Geniessen des Schönen verkörpert die Kindheitsstufe des ästhetischen Verhaltens, auf der man noch von allem Schönen der Welt umschlossen zu werden verlangt. So wie er am liebsten jeden Tag alles, was ihm schmeckt, von Therese zubereitet haben möchte, so will er auch auf nichts, was ihm Glück verheisst, verzichten. Dass das Schöne das zum Genuss Einladende ist, wer wollte es leugnen? Wer auch wollte leugnen, dass dazu Offenheit der Sinne und eine intensive Hingabefähigkeit gehören? François besitzt beides, und doch fehlt ihm etwas Entscheidendes: er kann zwar geniessen, aber er kann nicht gestalten. Er ist ein Ästhet in der Liebe, ohne jedoch seine Fähigkeit zur Reflektion, die ihn einen Menschen, wie auch ein Kunstwerk, erst verstehen lehrte, entwickelt zu haben. Nicht, dass er dazu nicht fähig wäre, aber sein Familienidyll mit Therese und den Kindern schien ihm selbst so einfach, zunächst so ohne Komplikationen, dass es für ihn keine Notwendigkeit gab, anders als naiv zu sein. Seine Naivität ist seine Grenze. Seine Unschuld wird zur objektiven Schuld, weil sie einen Egoismus in sich birgt, der François den anderen nur so sehen lässt, wie er sich seinen Bedürfnissen darstellt.

Nach dem Tod von Therese geht jedoch eine Veränderung mit ihm vor. Als François zum ersten Mal mit Emilie und den Kindern ins Freie fährt, löst er sich von den anderen und geht allein durch den Wald, der Eindruck von Einsamkeit verwischt sich auch nicht durch die sich anbahnende Harmonie der neuen Familie. Zwar vermitteln diese Bilder nicht den Eindruck als fühle sich François schuldig: er scheint den Tod Thereses eher als einen Schicksalsschlag zu verstehen. Dieser trifft François jedoch so unerwartet und heftig, dass er seine Naivität durchbricht. Das Verlassensein stellt die Selbstverständlichkeit des Glücks infrage, vielleicht macht ihn die Erfahrung, dass Therese nicht immer und einfach für ihn da ist, sensibel für die Eigenbewegungen der anderen, vielleicht lehrt ihn sein eigenes Fürsichbleiben das Fürsichsein der anderen verstehen. Die Bewusstheit, mit der er z. B. in den letzten Bildern die Natur um sich wahrnimmt - etwas, was man vorher nicht an ihm beobachten konnte - lässt eine Fremdheit in seiner Beziehung zur Natur spürbar werden, die auch in seiner Beziehung zu anderen Menschen wirksam sein muss, da sie aus dem Verlust eines geliebten Menschen entspringt. Nach dem Tod Thereses hören wir nicht mehr das heitere Thema aus dem ersten Satz des Klarinettenquintettes, sondern ein ernstes, reiches Fugenthema, da die Entstehung des neuen Familienglückes begleitet. In der Musik und den letzten Bildern wird dieses Glück angedeutet. Emilie tritt an die Stelle von Therese, ohne dass jedoch das Immergleiche seinen Lauf nähme. Man kann aus François' Veränderung nach Thereses Tod schliessen, dass sich für ihn das Glück gewandelt hat. Es ist ein Glück, das den Schmerz in sich aufnimmt.       Dietlind Reck
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Die glorreichen Reiter

THE GLORY GUYS, USA 1965. Produktion: Gardner-Levy-Laven; Regie: Arnold Laven; Drehbuch: Sam Peckinpah; Kamera: James Wong Howe; Musik: Riz Ortolani; Darsteller: Tom Tryon, Senta Berger, Harve Presnell, James Caan, Andrew Duggan.

Fast alle wichtigen Western der sechziger Jahre beschäftigen sich mit der Stellung des Westerners in einer sich verfestigenden, bürgerlich werdenden Gesellschaft, die des Westerners als Repräsentant vorzivilisatorischer Freiheit nicht mehr bedarf. Der daraus resultierende Konflikt endet in den meisten Filmen tragisch. In RIDE THE HIGH COUNTRY (Sam Peckinpah, 1961) und LONELY ARE THE BRAVE (David Miller, 1961) wird der Westerner, der sich den gewandelten Verhältnissen nicht anzupassen vermag, Opfer der veränderten Situation. Arrangiert er sich mit der neuen Gesellschaft, wie Fonda und Glenn Ford in THE ROUNDERS (Burt Kennedy, 1965), so bleibt er doch Aussenseiter, eher geduldet als geachtet. Nur wenn sich der Westerner derselben Methoden bedient wie die neue Gesellschaft, wird er sich, wie Sinatra und Martin in FOUR FOR TEXAS (Robert Aldrich, 1963), vom rauhbeinigen Outlaw zum arrivierten Bürger mausern. Der Verlust der einstigen Freiheit ist die Folge.

Diese neue und in den letzten Jahren häufig gestellte Frage nach dem Verbleib der alten Helden ist ein ebenso wichtiges Indiz für die Veränderung des Westerns der 60er Jahre wie die zunehmende Psychologisierung des Genres, die bereits in WARLOCK (Edward Dmytryk, 1959) ihren ersten Höhepunkt fand und seitdem mit Filmen wie THE LAST SUNSET (Robert Aldrich, 1960) und INVITATION TO A GUNFIGHTER (Richard Wilson, 1964) konsequent fortgeführt worden ist. Selbst zweitrangige Western wie STAGE TO THUNDER ROCK (William F. Claxton, 1964) handeln vorwiegend psychologische Probleme ab. Sogar die Altmeister des Western betrachten das Genre mit mehr Distanz als noch vor 10 Jahren. Am deutlichsten hat John Ford die Veränderungen erkannt: die Verwendung von Lee Marvin in den direkt aufeinanderfolgenden Filmen THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (als finsterer Bandit Valance) und DONOVANS REEF (als kindischer Südsee-Saufbold) lässt ebenso auf eine ironische Distanz schliessen wie die Dodge City-Episode in Cheyenne AUTUMN (1964), wo Ford Wyatt Earp und Doc Holliday, deren Loblied er einst in MY DARLING CLEMENTINE (1946) sang, nun als clevere Bürger darstellt.

THE GLORY GUYS scheint auf den ersten Blick eher konventionell zu sein, denn die Verurteilung der blutigen Indianerverfolgungen durch skrupellose US-Generäle ist in grossem Masse bereits im Western der 50er Jahre erfolgt.

Captain Demas Harrod (Tryon) erhält den Auftrag, aus einem Haufen buntzusammengewürfelter Zivilisten innerhalb kurzer Zeit brauchbare Kavalleristen für die Entscheidungsschlacht mit den Cheyenne-lndianern zu machen. Sein Vorgesetzter, der ebenso ehrgeizige wie skrupellose General Mc Cabe (Duggan) bekommt nicht, wie angenommen, den Oberbefehl. Um trotzdem den grössten Ruhm einzuheimsen, missachtet er die Befehle des Oberkommandierenden und trifft mit seinen Leuten vor dem verabredeten Termin am Kampfplatz ein. Ohne auf die für den nächsten Tag angekündigten Truppenverstärkungen zu warten, nimmt der General den ungleichen Kampf auf. Er schickt Harrod und seine noch kaum ausgebildeten Rekruten zuerst nach vorn. Als Harrod nach einem blutigen Gefecht mit nur der Hälfte seiner Leute zurückkommt, findet er Mc Cabe und seine Armee gefallen. In der Ferne rücken die Verstärkungstruppen an.

Arnold Laven hält sich über weite Strecken an den Inszenierungsstil Raoul Walshs. Die epische Erzählweise und die detaillierte Schilderung des wildwestlichen Kommissbetriebes und der schier endlosen Indianerschlacht lassen sich ebenso auf Walsh zurückführen, wie die eingebaute Liebesgeschichte, deren komplizierte Intrigen und sentimentale Konflikte aus Walsh-Filmen wie BAND OF ANGELS (1957) oder THE KING AND FOUR QUEENS (1956) stammen könnten. Kameramann James Wong Howe hat ohnehin schon einschlägige Erfahrungen, denn er fotografierte bereits für Walsh THE STRAWBERRY BLONDE (1941), OBJECTIVE BURMA (1945), THE HORN BLOWS AT MIDNIGHT (1945) und den Western PURSUED (1947). Doch indem Laven sich ausdrücklich den Stil von Walsh aneignet und auffällig immer wieder die gebräuchlichsten Klischees der traditionellen Westernvorstellung zitiert (z. B. die Silhouetten der Reiter gegen den Horizont), hat er andererseits um so mehr Gelegenheit, die Verlogenheit dieses Stils gegenüber dem Sujet zu entlarven.

Schon die erste Einstellung von THE GLORY GUYS signalisiert diese Absicht: gross das schreiende Gesicht eines Mannes, die Kamera fährt schnell zurück und man sieht den Raum, in dem die Rekruten auf ihren Weitertransport zum Fort warten. Einen der jungen Männer hat die Angst gepackt und mit der plötzlichen Entladung seiner angestauten Befürchtungen lässt Laven seinen Film beginnen.

Momente wie dieser, in denen durch unvermittelte Shock-Shots der konventionellbiedere Stil durchbrochen und als unzulänglich denunziert wird, lassen sich in nahezu allen Sequenzen von THE GLORY GUYS feststellen. In der finalen Indianerschlacht etwa wird in einer kleinen Szene der schreckliche Tod eines von Harrods Männern gezeigt, der beim plötzlichen Rückzug seiner Kameraden den Anschluss verliert und sich unvermittelt allein den anstürmenden Indianern gegenübersieht. Starr vor Entsetzen und den sicheren Tod schon vor Augen, steht er einen Augenblick allein zwischen den Leichen der Gefallenen, bis ihn eine Indianerlanze trifft. Kaum jemals ist in einem Western der Tod auf dem Schlachtfeld derart eindringlich gezeigt worden. Allenfalls bei Samuel Fuller in RUN OF THE ARROW (1956), an dessen Shock-Shot-Technik sich Laven dann auch deutlich orientiert; ausserdem wird, wie schon in MAJOR DUNDEE (Sam Peckinpah, 1964), auf die Eingangssequenz von RUN OF THE ARROW verwiesen. Am deutlichsten wird Lavens Absicht, dem Krieg im Western die Aura des Legendären und damit Unwirklichen zu nehmen, in der Überfallssequenz demonstriert: nach ihrer Grundausbildung absolvieren die Rekruten einen Erkundungsritt, werden dabei von Indianern überfallen und bis auf den letzten Mann niedergemacht. Nach dem Abzug der Indianer erheben sich alle wieder, denn der Überfall war fingiert und der Führer der Indianer ein weisser Armeekundschafter. Erst durch das Nichtstattfinden der Katastrophe wird ihr Ausmass bewusst. Wo normalerweise der Tod der Soldaten als üblich und insofern keinesfalls besonders bedeutsam hingenommen wird, schafft das nachträgliche Zurücknehmen eines nicht revidierbar erscheinenden Ereignisses das Bewusstsein des Aussergewöhnlichen.

THE GLORY GUYS unterscheidet sich von einem Film wie A DISTANT TRUMPET (Raoul Walsh, 1964) dadurch, dass zwar hier wie dort die Indianerkriege verurteilt werden, sie in A DISTANT TRUMPET aber durch die indifferent-heroisierende Darstellung letztlich doch ihre Rechtfertigung erfahren. Erst in THE GLORY GUYS gelingt es, die aufgeklärte Grundposition mit einer adäquaten formalen Entsprechung zu versehen. Wie man hört, war Sam Peckinpah, der Drehbuchautor, bei den Aufnahmen dabei. Möglicherweise ist er also an der Gestaltung dieses Films beteiligt.

Gegenüber MAYOR DUNDEE bedeutet THE GLORY GUYS auf jeden Fall einen Fortschritt für den Cineasten Peckinpah. Die Mängel des ersteren, nämlich Unübersichtlichkeit der Handlung und Glorifizierung nationalistischer Tugenden, fehlen THE GLORY GUYS gänzlich. Man kann nur hoffen, dass Peckinpahs nächster, von ihm inszenierter Western den Weg von THE GLORY GUYS weiterverfolgen wird. Arnold Laven, der Regisseur dieses Films, drehte in den 50er Jahren lediglich mittelmässige Kriminalfilme und den (erfindungsreichen) Science-Fiction-Reisser THE MONSTER THAT CHALLENGEND THE WORLD. Auch sein GERONIMO (1961) über den berühmten Indianerhäuptling liess noch nicht ahnen, dass er einmal einen so wichtigen Film wie THE GLORY GUYS zustandebringen würde.       Hans C. Blumenberg
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