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Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 43, Mai-August 1964

Inhalt
Editorial
Eine Erwiderung
Denk nicht dabei
Zur Geschichte des Dänischen Stummfilms
Zu einem Skandal
Filmtext: Cuba si!
Chaplin Reviewed
Rebellen in Amerika
Filmliteratur
Dr. Seltsam (Oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben)
Ladybug, Ladybug
Die Spur des Falken
Die Vögel
Die Kunst geliebt zu werden


Editorial

Fast zwecklos, so scheint es, wäre ein neues Lamentieren über die diversen Eingriffe der offiziellen und inoffiziellen Zensur in unserem Lande. Das dichte Gestrüpp der schnippischen Schnippler, der mehr oder weniger begabten Umdichter, das Gestrüpp der Verlogenheit hat bisher alle Klagen leicht absorbiert.

Vielleicht jedoch kann uns ein Fall weiterhelfen, der diesmal nicht auf das Konto der FSK, der FBW, des Interministeriellen Ausschusses kommt, den man keinem Verleiher oder Kinobesitzer oder kirchlichem Handauflegen verdankt. Hier steht eine Instanz zur Diskussion, die bisher der Aufmerksamkeit entgangen war: DAS ZWEITE DEUTSCHE FERNSEHEN.

Den Lesern von Fernseh- und Rundfunkprogrammzeitschriften war "eine Deutung der innerkubanischen Situation von den Anfängen der Revolution bis zur missglückten Invasion der Castro-Gegner" annonciert worden. Der Titel DIE VERKAUFTE REVOLUTION deutete die Marschrichtung. CASTROS VERRAT AN CUBA - als Untertitel - verriet die Nuancen. Man kennt schliesslich die Bemühungen deutscher Aufnahmeteams an den "Brennpunkten der Welt". Ob alte, aber glückliche Chinesen in Hongkong oder vertriebene Kleriker aus afrikanischen Ländern oder enteignete Millionäre: ihre Sorgen, ihre "Rechte", ihre Ideologien sind deutschen Wochen- und Tagesschaulern immer noch mehr wert, als die ihnen zweifelhaften Ideale einer Revolution.

Christoph Kaiser, Mitarbeiter in der Abteilung "Dokumentation Ausland" der Mainzer Anstalt, zeichnete für die Sendung und für den deutschen Kommentar verantwortlich. Als Regisseur des Films wurde ein gewisser Christian Marker genannt. Natürlich handelte es sich bei dem ausgestrahlten Film um den auf deutschen Vorder- und Hintermann gebrachten CUBA Sl des französischen Dokumentarfilmregisseurs Chris Marker (LES STATUES MEURENT AUSSI, DIMANCHE A PEKIN, LETTRE DE SIBIRIE, DESCRIPTION D' UN COMBAT, LE JOLI MAI und LA JETEE).

Wie man Chris Marker und seinen Filmen hierzulande von offizieller Seite entgegentritt, das zu demonstrieren, war Herr Kaiser dennoch nicht früh genug aufgestanden. Bereits 1957 lehnte die FSK (sie muss also doch wieder genannt werden) Markers Film DIMANCHE A PEKIN (Sonntag in Peking) ab. Man verlangte kategorisch die Änderung oder Streichung aller Textstellen, die dem deutschen Bild von Rotchina nicht entsprachen. In Frankreich war man auch damals schon weiter.

Chris Marker hat für unser Heft einen Text verfasst, der in der Form eines offenen Briefes die Vorgänge um seinen Film kommentiert. Wie recht er mit seiner Meinung hat, mögen Sie selbst feststellen. Um Ihnen jedoch einen besseren Eindruck von CUBA SI zu ermöglichen, haben wir gleichzeitig den Kommentar des Films publiziert. Leider stand uns nicht genügend Bildmaterial zur Verfügung. So setzte Marker in der französischen Ausgabe des Textes (Chris Marker, Commentaires, Aux Editions du Seuil: das Buch enthält auch die Kommentare von LES STATUES MEURENT AUSSI, DIMANCHE A PEKIN, LETTRE DE SIBIRIE, DESCRIPTION D' UN COMBAT und des imaginären L' AMERIQUE REVE), an eine Stelle eine Bildmontage, die die Freude der Kubaner ausdrücken soll. Wir bitten unsere Leser also, die bei uns unvollständige Illustration zu entschuldigen.

Auch in Zukunft werden wir sporadisch Filmtexte veröffentlichen. Unser Vorteil ist dabei, dass wir nicht auf kommerzielle Interessen Rücksicht nehmen müssen. Wir können daher auch Drehbücher, Protokolle oder Kommentare in Deutschland unbekannter Filme publizieren. Den Auftakt mit CUBA SI betrachten wir als Verpflichtung.       H. F.
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Eine Erwiderung von Erwin Goelz, genannt Frank Maraun (zu Artikel in Heft 37

Sehr geehrtes Filmstudio,

ich habe so lange gezögert, auf Ihren Angriff im "Filmstudio 37" zu reagieren, weil dieser Angriff mir die Rolle des Nazis aufzwang, der es nachher nicht gewesen sein will: eine Jacke, die ich auch jetzt nicht anziehen möchte. Ich verteidige mich also nicht. Was Ihren Hauptangriffspunkt, die 1940 im "deutschen film" erschienene Besprechung des Wochenschau-Dokumentarfilms "Der ewige Jude" betrifft, so gibt es daran nichts zu verteidigen. Die ungeheuerliche Tragödie, die zwei Jahre später mit den ersten Massenausrottungen in den Todeslagern in Polen über die Juden Europas hereinbrach, fegt im Rückschlag jede der mildernden Überlegungen hinweg, die 1940 noch Anspruch auf Berücksichtigung gehabt hätten.

Wogegen ich mich wehre, ist die Verallgemeinerung, mit der Sie mich auf Grund jener Besprechungen der Kriegswochenschauen generell zum Nazi und Antisemiten stempeln, der gewissermassen ständig gegen die Juden gehetzt hätte. In Wahrheit existiert ausser der in einer Zwangslage entstandenen Besprechung des "Ewigen Juden", die zudem keine eigene Meinung, sondern einfach den Begleittext des Films wiedergibt, und einer Bemerkung über die Beteiligung jüdischer Schauspieler an geschmacklosen Kasernenhofburlesken keinerlei antisemitische Äusserung von mir, insbesondere auch keine weitere Besprechung antisemitischer Filme, etwa von "Jud Süss" oder "Die Rothschilds". Ihnen bin ich regelmässig ausgewichen. Dagegen habe ich fast zur gleichen Zeit - von 1940 an - in geschlossenen Vorstellungen für Romanschriftsteller und Dramatiker, die ich für die Mitarbeit am Film interessieren wollte, unter anderem Filme jüdischer Regisseure wie Chaplin, Eisenstein, Lang, Lubitsch, Siodmak, Wyler als Beispiele wahrer Filmkunst vorgeführt. Wenn ich auf der einen Seite so getan habe, als ob ich mitmache, so habe ich auf der anderen Seite ganz und gar nicht mitgemacht. Was man Ihnen auch sagen mag: es gibt - wenn man alleinsteht, und ich stand damals immer allein - für einen, der sich nicht im Keller vergraben, sondern tätig bleiben will, keine andere Taktik in einer Diktatur.

In Ihrem Kreis interessiert es vielleicht, was ein junger Erzähler, der nach dem Krieg von der amerikanischen Besatzungsmacht in Berlin die Lizenz zur Herausgabe einer Jugendzeitschrift erhielt, 1946 in seinem Entlastungszeugnis für mich über diese Autorenkurse zu sagen hatte. (Fotokopie liegt der Redaktion vor. Der Verfasser kann aus presserechtlichen Gründen nicht genannt werden.) Er betonte, dass er mich vorher nie gesehen, nie von mir gehört hatte, dass ihm aber meine filmästhetischen Vorträge imponierten. Und er fuhr fort:

"Erstaunlicher noch fand ich es, dass er sich ein Auditorium von Autoren und Schriftstellern eingeladen hatte, von denen viele bei den NS-Behörden als antinazistisch bekannt waren und in den geheimen Listen mehrere Kreuze hinter ihren Namen hatten. Es waren das u. a. Arnold Ulitz, Horst Lange, August Scholtis und Peter Huchel, von denen die drei letzten heute, so wie ich selbst, in der Öffentlichkeit und auf verantwortlichen Plätzen tätig sind. Das erstaunlichste aber war der Freimut, ja die Kühnheit, mit der Herr Maraun bei jeder Gelegenheit die hohe Überlegenheit der ausländischen Filme gegenüber den vom Propagandaministerium geförderten deutschen Filmen nicht nur erkannte, sondern in einer Weise betonte, die uns allen deutlich zu verstehen gab, dass dieser Mann an seinem Platze und mit den ihm gegebenen Mitteln in antinazistischem Sinne zu wirken strebte, dass er die Kulturbarbarei verwarf und für eine von wahrhaft humanem Geist erfüllte Kunst sprach und kämpfte. An der Stelle, an der er damals stand, gehörte dazu nicht nur Klugheit und Überlegenheit, sondern mehr noch Charakter und Mut."

Das ist eine von zwei Dutzend Stimmen, die mir nach dem Kriege sofort wieder die Arbeit in dem damals von Antifaschismus geradezu fiebernden Berlin ermöglichten - obgleich einige der von Ihnen "neu" entdeckten Wochenschautiraden schon in verschiedenen Tageszeitungen zitiert worden waren. Man verstand damals aus frischer Erfahrung noch, dass es innerhalb einer mörderischen Diktatur böse Zwangslagen gibt, in denen ohne Mimikry nicht durchzukommen ist. Dass ich hinter meiner Tarnwand dann eine absolut demokratisch angelegte Film-Nachwuchspflege ins Leben gerufen hatte; dass die von mir an den Start gebrachten Regisseure, unter ihnen Pewas, Staudte, York als ausgesprochene Linksintellektuelle gleich wieder ins Atelier gehen konnten, dass der erste von mir verantwortete Nachwuchsfilm, "Der verzauberte Tag", 1944 von Goebbels "wegen seines Systemgeistes" verboten und der Regisseur Peter Pewas wie ich durch Aufhebung der Uk-Stellung an die Front expediert wurden: das hielt man nach Matthäus 7, 16 ("An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen") für einen ausreichenden Beweis von widerstandsfähiger, antinazistischer Haltung.

Sie aber sehen mehr nach den Worten. Sie halten sich an das Gedruckte. Das heisst: an diese kleine negative Auswahl, die etwa ein Prozent meiner publizistischen Gesamtleistung ausmacht, und in der Sie die übrigen neunundneunzig Prozent verschwinden lassen - worin Ihnen andere streithafte Journalisten wie Gregor, Seelmann-Eggebert und Ungureit mit Genuss folgen. Ganz so, als läge in diesem einen Prozent der Ausdruck meines wahren Wesens, und als seien die restlichen neunundneunzig Prozent nichts als grobe Irreführung. Für mich liegt der Fall natürlich gerade umgekehrt, und ich glaube, ich kann Sie von der Richtigkeit dieser Auffassung überzeugen.

Um aktuell zu bleiben: in der Stadthalle von Oberhausen wollte mir jemand - aus Ihrem Kreis, vermute ich - das Recht bestreiten, in der Pressekonferenz Fragen zu dem Max-Ernst-Film zu stellen, mit dem Zuruf, im Dritten Reich habe man über Max Ernst nicht schreiben dürfen. Sicher durfte man es nicht. Aber man hat es doch getan. Was mich betrifft, so habe ich nicht gerade über Max Ernst, aber über eine wesens- und ranggleiche literarische Erscheinung geschrieben, und zwar mit rückhaltloser Zustimmung: über Gottfried Benn. Benn war Expressionist, und das hiess damals das schlimmste: Kulturbolschewist, Kurfürstendammjournaille, portugiesisches Mischblut - alles Kennzeichnungen für Benn aus der Berliner NS-Presse. Das hinderte mich nicht, ein 1936 von Ellermann herausgebrachtes dünnes Heft neuer Benn-Gedichte im "8-Uhr-Abendblatt" mit unverhüllter Freude willkommen zu heissen. (8-Uhr-Abendblatt vom 1. 4. 1936. "Traum und Schicksal" - Neue Gedichte von Gottfried Benn. Gezeichnet: Ma.) Ich fasste zusammen:

"Was Benn in diesen letzten Gedichten gibt, ist eine Art Klassizität des Expressionismus. Ohne Affekt, ohne die explosive Spannung seiner früheren Gedichte, doch nicht weniger gedrängt, spielt er hier die Bilder und Rhythmen hervor. Sie sind das Aschenfeuer des europäischen Nihilismus: Bekenntnisse eines einsamen Geistes, der mit dem Mut einer unbedingten Aufrichtigkeitkeit sein Schicksal erkennt, es bejaht und sich ihm stellt. Es ist das des europäischen Nihilisten, dem kein Glaube mehr als Schutzhütte gegen die Dämonien des Lebens dient, und dem deshalb in der Kunst das einzige Mittel geblieben ist, ihnen zu begegnen: indem er sie formend überwindet."

Zum fünfzigsten Geburtstag von Benn (2. 5. 1936) versuchte ich den nationalsozialistischen Kulturstrategen in einem grundsätzlichen Aufsatz klar zu machen, dass sie gegenüber diesem Dichter zum mindesten eine distanzierte Achtung zu wahren hätten. (Berliner Börsen-Zeitung vom 2. 5. 1936. Frank Maraun: Heroischer Nihilismus / Zum 50. Geburtstage Gottfried Benns.) In der "Berliner Börsenzeitung", dem offiziösen Blatt der Wehrmacht, konnte man noch ein offenes Wort riskieren. So belehrte ich das Amt Rosenberg, die Zentrale der Angriffe gegen Benn, zum Schluss ohne Scheu vor Deutlichkeit:

"Die vollendete Beherrschung der Form, die glänzende Bemeisterung der sprachlichen Ausdrucksmittel hat hier nichts mit Ästhetizismus und Formalismus zu tun. Man muss unterscheiden können, ob einer an einem schöngeistigen Gefühlchen herumtüftelt oder ob er Felsen behaut. Es ist keine Frage, dass Benn zu der letzteren Klasse gehört."

Nur um zu vergegenwärtigen, in welchem Spannungsfeld man sich mit solchen Äusserungen bewegte, zitiere ich den Anfang eines Briefes, den ich zehn Tage später von dem damaligen Oberstabsarzt Dr. Benn ("Die Armee ist die aristokratische Form der Emigration") aus Hannover erhielt: (Gottfried Benn: "Briefe". Seite 70: Hannover, 11. 5. 1936. Limes Verlag, Wiesbaden 1957.)

"Lieber Herr Maraun, ich habe Ihnen viel zu danken. Für Ihr Telegramm, Ihre Wünsche und Ihren Aufsatz. Dieser wird mir vielleicht die Existenz retten. Sie haben wohl die letzte Nummer vom "Schwarzen Korps" gelesen, wohl auch die schwerer wiegende Übernahme des Angriffs im "Völkischen Beobachter" vom 8. 5. Das bedeutet natürlich für einen Offizier den Abschied, wenn er sich nicht rehabilitieren kann _... In meiner Abwehr habe ich Ihren Aufsatz vielen Dienststellen vorgelegt, er ist zur Zeit im Kriegsministerium Gegenstand grosser Aufmerksamkeit _... Was daraus wird, ist noch nicht zu übersehen. Gutes kann nicht viel dabei herauskommen. Entweder legt mich die SS um, oder ich muss doch hier gehen. Eine tolle Lage!" Ja, wirklich. Gleichwohl würdigte ich drei Tage darauf im "8-Uhr-Abendblatt" (8-Uhr-Abendblatt vom 14. 5. 1936. "Im Schatten der Mythen" / Ein Vierteljahrhundert geistigen Schicksals im Gedicht. Gezeichnet: - lz.) die zum fünfzigsten Geburtstag erschienenen "Gesammelten Gedichte" von Benn ganz im Stil seiner ironisch-bekenntnishaften persönlichen Widmung: "Fünzig Jahre L' art pour l' art." Ich fuhr fort zu bewundern:

"Reine Ausdruckskunst: keine Rhetorik, auch nicht das sorgsam abgerundete Bild Baudelaires und Georges. Sondern die unmittelbare substantivische Beschwörung, der knappe Anruf der Hauptworte, locker gereiht und mehr durch die Anspielung ihrer weiträumigen Assoziation als durch die verbale Aussage verknüpft. Die Hauptworte sind hier Träger der Weltfülle, Stufen einer ungeheuren und rauschhaft hingelagerten Wirklichkeit, über die leicht, fast fliessend der Schritt der Rhythmen läuft. Benn bevorzugt eine kurzversige achtzeilige Strophe, in deren Biegsamkeit eine mehr musikalische als plastische Formkraft sich betätigt. Seine schönsten Gedichte - sie gehören zugleich zu den schönsten der deutschen Sprache - wie "Aus Fernen, aus Reichen", "Die Dänin", "Wie lange", "Am Saum des Nordischen Meers" bewegen sich im fliessenden Gang dieser Strophe.

In den grossmächtigen NS-Führungsorganen war von "Ferkeleien" die Rede, hier von den schönsten Gedichten der deutschen Sprache. Nicht anders hielt ich es im Filmrevier. Ich kritisierte, was mir nicht gefiel. Selbst Goebbels'sche Einmischungen: "Die Schlussapotheose würde man vielleicht besser wegschneiden; sie unterstreicht zu aufdringlich lehrhaft die Tendenz des Films." Und ich lobte, was ich liebte - auch, wenn es verbotene Filme waren. So die Meisterwerke des französischen Filmrealismus in den Jahren der Volksfront unter Leon Blum, die Werke von Renoir, Carné, Duvivier. Das kann ich nicht alles zitieren, hier beginnen die neunundneunzig Prozent. Aber Sie blättern ja gern im "deutschen film", und im Dezemberheft von 1937 - nach der Pariser Expo und der Biennale - finden Sie fünf Seiten von mir über jene französische Filmepoche, unter der Schlagzeile "Menschlichkeit und Natürlichkeit": (Frank Maraun: "Menschlichkeit und Natürlichkeit" - Schauspielkunst im französischen Film. der deutsche film, Heft 6, Dezember 1937, S. 155-160.)

"Beide im französischen Sinne verstanden: das Menschliche nicht in der Bedeutung des Allzumenschlichen, die es im deutschen Sprachgebrauch leicht annimmt, sondern als die hohe Auszeichnung, die in Frankreich das Wort "humain" umschreibt, als einen geistigen und moralischen Wert, der sich über die Natur erhebt, und von dessen Warte aus ein Blick denkbar ist, der zugleich mit Strenge und Barmherzigkeit auf das Leben sieht _... Die wilden Triebtumulte, aus denen sich Rührung erzeugt, haben in dieser Ordnung der Dinge keinen Raum. Der Zuschauer wird hier nicht in Gefühl gebadet. Seine Aufmerksamkeit wird ganz für die Charaktere und den Grad ihrer moralischen Bewährung in Anspruch genommen _... Die Requisiten des Abenteuers, mit denen das Kino sich häufig an die kindlichen Neigungen des Zuschauers wendet, treten hier zurück hinter den Argumenten einer geistigen Energie, vor denen der Zuschauer so glücklich sein darf, sich als Erwachsener angesprochen zu fühlen." Wahrscheinlich wird die indirekte Kritik am NS-Film, die sich darin kundgibt, von der heutigen Generation gar nicht mehr wahrgenommen. Wohl auch nicht, dass schon Kühnheit darin lag, derartiges in einer Zeitschrift zu schreiben, von der man wusste, dass Goebbels sie zu sehen bekam. "Die wilden Triebtumulte" - "Rührung" - "in Gefühl gebadet" - "an die kindlichen Neigungen des Zuschauers": damit konnte ja nur der zeitgenössische deutsche Film gemeint sein.

Von da aus könnte ich Ihnen, da Sie das Bogenspannen über Jahrzehnte hinweg lieben, bis zu meiner Verteidigung von Staudtes "Untertan" gegen das CDU-Vermissen von "versöhnlichem Humor" und meinem Nachruf auf Max Ophüls oder meiner umfangreichen Würdigung von Resnais' "Nacht und Nebel", ganz zu schweigen von meiner Schrittmacherarbeit für Fellini und Antonioni oder für die Neue Welle, die ich als erster in Deutschland angekündigt habe (noch ehe ihr Etikett gefunden war) - damit also könnte ich Ihrem Brückenschlag von meinen Artikeln über die Kriegswochenschau zu meiner Polemik gegen De Sica eine weit tragfähigere Brücke gegenüberstellen. Und was die Basis der beiden Brücken im Dritten Reich betrifft, so braucht man, glaube ich, nicht einmal Germanist zu sein, um zu unterscheiden, wo der anonyme Krampf eines imitierten Jargons und wo persönliche Überzeugung sprechen.

Wenn heute nun junge Journalisten eine geistige Betätigung oder eine politische Aufgabe darin sehen, mich immer wieder mit dem Schlamm der Pfütze zu bewerfen, durch die ich damals im Unwetter, wie man es wohl nennen kann, gehen musste, so habe ich das eben zu tragen. Treffen kann es mich nicht. Zwar kann ich nicht wie ein Grösserer sagen: "Ich bin rein geblieben". Doch muss ich auch zu bedenken geben, dass das zwischen Wilhelmsplatz und Albrechtstrasse, Promi und Gestapo, ein wenig schwieriger war als zwischen Zürich und Santa Monica. Immerhin darf ich sagen, dass ich weder verraten noch verheimlicht habe, was ich liebte. Ich habe mich dazu bekannt, auch wenn es vom herrschenden Regime ausdrücklich der Verachtung und Verfolgung preisgegeben war.

Anmerkung:

Zu Beginn dieses Jahres wandte sich Herr Goelz schriftlich an uns und bat, auf eine Glosse, die in FILMSTUDIO 37 (s. Text der Erwiderung veröffentlicht worden war - also vor 1 1/2 Jahr - an gleicher Stelle antworten zu können. In einem persönlichen Gespräch mit 3 Redakteuren während der diesjährigen Kurzfilmtage in Oberhausen trug uns Herr Goelz erneut sein Ansinnen vor. Hier und da war - aus oft durchsichtigen Motiven, sei 's persönlicher, sei 's ideologischer Art - die Verleumdung verbreitet worden, wir hätten uns als "Hexenjäger" betätigt. Während man sich uns gegenüber insgeheim von Herrn Goelz distanzierte, verlor man in der Öffentlichkeit kein Wort darüber.

Dass wir nicht die Öffentlichkeit gescheut haben und sie nicht scheuen; dass wir uns der kritischen Prüfung unserer Argumentation durch den Leser stellen, scheint uns Beweis genug, um der Verleumdung entgegenzutreten. So veröffentlichen wir ungekürzt den Text, den uns Herr Goelz zugeschickt hat.

Allerdings glauben wir, dass Herr Goelz das Problem, das wir in der Glosse angesprochen hatten, umgeht. Wir sehen durchaus nicht prinzipiell "eine geistige Betätigung oder eine politische Aufgabe darin", Herrn Goelz "immer wieder mit dem Schlamm der Pfütze zu bewerten, durch die er damals im Unwetter", wie er es wohl nennen mag, "gehen musste". Nur lassen wir uns nicht täuschen über den Herkunftsort des Schlammes - um in seiner Terminologie zu bleiben -, den er heute gegen "die Italiener" wirft. Der kommt näm-lich aus der faschistischen Pfütze, durch die Herr Maraun "gehen musste". Wir sagen: an seiner heutigen Argumentation ist seine vergangene zu erkennen. So dass wir vor einem Rätsel stünden, wenn wir ihm glauben wollten, er habe damals gegen seinen Willen - also unter Zwang - das geschrieben, was er heute, den Umstän-den entsprechend modifiziert, aus freiem Willen, bei klarem Bewusstsein und ohne Zwang wiederholt.

Auf die Parallelität in der Argumentation: darauf kam es uns an. Wir waren nicht an der Person oder dem Charakter des Herrn Goelz alias Frank Maraun, an deren mög-lichen Problemen und Schwierigkeiten interessiert. So wollen wir auch nicht darüber rechten, ob Gottfried Bennn als Leumundszeugnis für Antifaschismus herhalten kann; oder in wieweit sich die Begeisterung für den "Bennschen Nihilismus" während des faschistischen als Widerstand bezeichnen lässt.

Nur eines sei zu Herrn Goelz' "Erwiderung" noch angemerkt. Es heisst dort: "_... in der Stadthalle von Oberhausen wollte mir jemand - aus ihrem Kreis, vermute ich - das Recht bestreiten, in der Pressekonferenz Fragen zu dem Max-Ernst-Film zu stellen _..." Diese Vermutung ist falsch. Der betreffende Herr stammt nicht aus "unserem Kreis", falls es den überhaupt gibt, sondern aus der "Oberhausener Gruppe". Im übrigen würden wir weder Herrn Goelz noch einem anderen dieses Recht bestreiten. Allerdings werden wir keine Ruhe geben, wenn dieses Recht durch Diffamierungen und Ressentiment geladene Argumentation, die ihre Herkunft aus der jüngsten Vergangenheit nicht verleugnen kann, droht, verdunkelt zu werden. Da werden wir ein Licht aufstecken und es nicht unter den Scheffel stellen. Denn, dass jeder verantwortlich ist für das, was er tut - damals, heute und zukünftig -, daran werden wir festhalten. Die Redaktion
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Brief aus Wien

Dass die Zeit, in der Wien als Metropole der österreichischen Filmindustrie gelten konnte, vergangen ist, ist längst klar. Denn Österreichs Filmindustrie hat praktisch schon seit Jahren zu bestehen aufgehört und führt nur noch ein Scheinleben. Filmkunst - von Filmgeschichte ganz zu schweigen - wird hierzulande nur stief-mütterlich behandelt. Um filmhistorisch bedeutsame Werke oder auch interessante neue Filme zu sehen, müssen einheimische Cinéasten ins Ausland gehen. Nur hier und da beleben ein paar interessante Filmveranstaltungen das triste Bild: die in jedem zweiten Jahr stattfindende Filmwissenschaftliche Woche, die Festwoche des Religiösen Films (auch sie steht alle zwei Jahre auf dem Programm) und die "Viennale". Wenn diese periodisch angesetzten Filmereignisse hin und wieder durch Sonderveranstaltungen verschiedener Vereinigungen ergänzt werden, bieten sie doch allesamt keine befriedigende Möglichkeit, die filmhistorisch wichtigen Werke der Stumm- und frühen Tonfilmperiode sehen zu können.

Jetzt scheint man sich auch hier eines anderen zu besinnen. Im "Museum des 20. Jahrhunderts" wurden vom 4. November bis zum 4. Dezember 1963, also während eines ganzen Monats, "Wochen des fran-zösischen Films" abgehalten. Diese Grossretrospektive stand unter dem künstlerischen Patronat von Jean Renoir und bot einen ziemlich repräsentativen Querschnitt durch das französische Filmschaffen - angefangen von den ersten Gehversuchen des Films überhaupt bis hin in die späten vierziger Jahre: von Lumière bis René Clé- ment (LA BATAILLE DU RAIL, 1945). Unter den gezeigten Spiel- und Kurzfilmen befanden sich, neben so bekannten Werken wie FIEVRE (Louis Delluc, 1921), MENILMONTANT (Dimitri Kirsanow, 1925), EN RADE (Alberto Cavalcanti, 1927), GARDIENS DE PHARES (Jean Grémillon, 1929), LA CHIENNE (Jean Renoir, 1931) und anderen, auch seltener gespielte Streifen. Zu diesen Leckerbissen zählten u. a. BOIREAU - ROI DE LA BOXE (Lucien Nonguet, 1909) und LE DUEL DE CALINO (Roméo Bozzetti, 1910), zwei hervorragende Burleskfilmchen, dann ELDORADO (1921) von Marcel L' Herbier und vom selben Regisseur FEU MATHIAS PASCAL (1924). Auch L' Herbiers LA NUIT FANTASTIQUE, sein bester Tonfilm, war zu bewundern. Für Österreich schliesslich war LE CORBEAU (Henri-Georges Clouzot, 1943) zum ersten Male seit dem Kriege zu sehen; während des Krieges hatte man den Streifen nach drei Tagen vom Wiener Spielplan abgesetzt.

Alles in allem wurden 70 Kurz- und Langspielfilme geboten. Indem es den Wienern die - dankbar ergriffene - Gelegenheit gab, während einer kurzen Zeitspanne signifikante Filmwerke eines einzelnen Landes Revue passieren lassen zu können, hatte das "Museum des 20. Jahrhunderts" einen neuen Weg eingeschlagen. Zum ersten Male - nicht nur für Österreich, sondern für ganz Europa (als Vorbild diente das New Yorker "Museum of Modern Arts") - wurde von einem Museum, das sonst stets den bildenden Künsten vorbehalten bleibt, eine Filmausstellung organisiert.

Mit diesem Schritt hat man kulturelles Neuland betreten. Dank der neuen Heimstatt des Films bieten sich mannigfache Möglichkeiten und Perspektiven. Man wird zu-nächst darangehen können, ein Gesamtbild der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts zu erstellen: Parallelen und Verbindungen des Films zur Malerei, geistige und formale Verwandtschaften der verschiedenen Kunstgattungen, die moderne Musik und der Film, um nur einige Ansatzpunkte zu nennen. Das Museum könnte zu einem Treffpunkt der Künstler und Kritiker werden.

Wie das auch bei anderen Kunstausstellungen üblich ist, erschien zur Filmexposition ein schöner und übersichtlich gestalteter Katalog. Besonders schätzenswert scheint daran das reiche Bildmaterial und eine Zeittafel des französischen Films. Zur gleichen Zeit fand auch eine Dokumentationsausstellung "Der französische Film von 1900 bis heute" statt, in der Bilder und Plakate besichtigt werden konnten.

Für die nahe Zukunft bestehen weitere Pläne. Gesamtausstellungen des Werkes von Stroheim und René Clair sind für 1964 vorgesehen.       Helmut Blobner
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Denk nicht dabei

Alfredus Triumphator: denk nicht dabei und nie wieder. Moral (63) war was für Spiesser. Du aber zeigst, wie es ist. Du heisst sie kopulieren (in Reihenfolge): Callgirl - Primaner - Studienratsgattin - ihr Angetrauter - Stenotypistin - Industrieller - seine Geschiedene - Student - frz. Generalstochter- italienischer Zimmerkellner - Filmstar - Diplomat - Callgirl. Der Beischlaf im Staffellaufprinzip ist geniale dramatische Konzeption. Der Prolet hat hier nichts zu suchen. Diese Beobachtungen diktierte, jawohl, das Leben. Du zahlst es jenen heim, die es uns gegeben haben: den Italienern, dessen Jahrgang 36 Benito heisst und nur singen kann; den frivolen Landeskindern des grossen Generals, die nehmen, was sich bietet; der verlogenen Diplomatie britischen Zuschnitts, die da alte Frauen verrät und mit Callgirls zu Bette steigt; den ehemaligen Waffenstudenten und heutigen Biederlehrer, der den Hosenlatz gleichfalls nicht hält. Ein Realist, Alfred, bist Du, ein liebevoller Gärtner: Hubschmids Bart beweist es und der vorsintflutliche Plattenspieler auf der studentischen Dachkammer. Die Leere des Industriellen, dem die Sorge um das Betriebsklima die Liebe entfremdete, was ist sie gegen die jugendliche Unkonvenienz, die Deutschlands Frauen glücklich macht und nicht dabei denkt, wie Hilde verkündet. Denn Denken schadet der Illusion. Und die wollen wir doch alle behalten. Wir sind alle keine Mörder mehr, sollte sie singen, die Hilde. Auch ich will nicht mehr dabei denken. Das Glück, das ich mit Füssen ein ganzes Leben lang trat, es liegt im grossen Liebesspiel. Einst schämte ich mich meines Gefühls. Du schämtest Dich nicht. Du bist ein deutsches Regie-As. Das sagt Dir Deine       Hanne Frischkorn

PS: Eigentlich ein Dokumentarfilm DAS GROSSE LIEBESSPIEL.
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Zur Geschichte des Dänischen Stummfilms
[Zur Geschichte des dänischen Tonfilms s. Heft 45 ]

I.

Am 7. Juni 1896 fanden in Kopenhagen die ersten Filmvorführungen statt. Wie in den meisten anderen Ländern wurden sie auch in Dänemark als Schaubuden-Unterhaltung eingeführt und in einem Holzpavillon - "Panorama" genannt - von dem Pionier Lauritz Wilhelm Pacht (1843-1912) präsentiert. Er nannte das Phänomen "Kinoptikum", und das Programm enthielt u. a. den berühmten Lumière-Streifen "Ankunft des Zuges auf einem Bahnhof". Zur Vorführung bediente man sich einer Lumière-Maschine.

Schon 4 Tage später, am 11. Juni 1896, machten die Brüder Skladanowsky auf ihrer Rückfahrt von Kristiania (jetzt Oslo) in Norwegen, wo sie ihre Erfindung präsentiert hatten, Aufenthalt in Kopenhagen und zeigten ihr Programm im Pantomimen-Theater im Tivoli. Ihre Gastvorstellung dauerte einen ganzen Monat. Auch andere Pioniere versuchten sich in Kopenhagen, wenn auch mit weniger Glück. Am 7. Juli kam der Franzose Charles Marcel, jedoch nur für zwei Tage; später kamen der Engländer Mr. Swanson und der Däne Carl Hasager, aber auch sie hatten keine nennenswerten Erfolge.

Die Vorführungen Pachts im "Panorama" aber laufen weiter; sie werden jedoch auch mit anderen Schaubuden-Veranstaltungen kombiniert. In diesem Etablissement erlebten auch die ersten dänischen Filme am 26. Dezember 1897 ihre Uraufführung: die von dem Hoffotografen Lars Peter Elfelt produzierten dokumentarischen Streifen "Strassenarbeiter" (ASFALTLAEGGERE), "Die Schwäne im Sortedams-See" (SVANERNE I SORTEDAMSSOEN) und "Die Feuerwehr kommt zu Hilfe" (BRANDVERSNET RYKKER UD). Ein paar Jahre später hatte Peter Elfelt Riesenerfolg mit seinem Film "Die königliche Familie lässt sich fotografieren" (KONGEFAMILIEN SKAL FOTOGRAFERES). Er drehte auch einige Aufnahmen einer Vorstellung des königlichen Theaters in Kopenhagen: "Fern von Dänemark" (FJERNT FRA DANMARK).

Das Jahr 1898 brachte wiederum mehrere Experimente und Versuche. Ein gewisser Mr. Swanborough eröffnete seinen "Wargraph", der wie ein Zug eingerichtet war und an die Zuschauer verschiedene Panoramen vorbeiziehen liess. Der Operateur dieser Veranstaltung, A. James Gee, übernahm später den Wargraph und bereiste ganz Dänemark damit. In "Arenatheaterets Varieté" wurde ein "Triograph" mit einer Leinwand von ungefähr 10 m gezeigt. Die Vorstellungen begleitete ein Orchester mit Effektinstrumenten. Am 1. November präsentierte dann Oscar Messter seinen "Cosmograph" im "Scala-Varieté", aber merkwürdigerweise hatte er - der durch die hohe Qualität seiner Vorstellungen bekannt war -, keinen grossen Erfolg in Kopenhagen. Das Publikum war offensichtlich überfüttert mit Reportagefilmen. Es rief nach dem Spielfilm.

Die ersten Versuche, einen dänischen Spielfilm zu produzieren, wurden im Jahre 1903 von Elfelt gemacht. In den Ruinen des niedergebrannten königlichen Schlosses Christiansborg drehte er "Die Hinrichtung" (HENRETTELSEN) mit Francesca Nathansen in der Hauptrolle; Länge: 100 m. Aber der Film kam zu früh, übrigens hatte Elfelt auch kein Geschäftstalent; er war Erfinder und Experimentator.

Die ersten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts sind in Dänemark durch schwankendes Interesse auf Seiten des Publikums gekennzeichnet. Das Stadium der Kuriosität war vorbei und ein ständiges Kinopublikum war noch nicht entstanden. Sämtliche Kino-Vorführungen waren auch von Anfang an mit anderen Varieté- und Unterhaltungsveranstaltungen kombiniert gewesen. Aber 1904 war das Angebot von ausländischen Filmen so gestiegen, dass Constantin Phillipsen am 17. September es wagte, ein Kinotheater zu eröffnen, das sich ausschliesslich mit Filmvorführungen beschäftigte: "Kosmorama", Ostergade 26, Kopenhagen. Jetzt war die Zeit endlich reif geworden, und gegen Ende des Jahres 1905 wurden in Kopenhagen in 6 Kinotheatern täglich Filme vorgeführt, in Alborg und Arhus in je einem. Das Kinowesen hatte sich als dauerhafte Unterhaltungseinrichtung erwiesen und damit die ökonomische Grundlage für eine dänische Filmproduktion geschaffen.

II.

Der Durchbruch des dänischen Spielfilms ist vor allem mit dem Namen Ole Olsen verknüpft. Er - ein früherer Schaubuden-Inhaber - hatte am 23. April 1905 das "Biograf Theater" in Vimmelskaftet, Kopenhagen, eröffnet, und, als es Schwierigkeiten bei der Filmbeschaffung gab, im Jahre 1906 eine eigene Filmproduktion gegründet. Der äussere Anlass war der Tod des dänischen Königs Christian IX. und die Proklamation des neuen Königs Frederik. "Der König ist tot, es lebe der König" lautete der Titel des Films. Damals wusste man es noch nicht, dass dieser Film auch einen anderen neuen König ausrief: den Film-König Ole Olsen nämlich.

Schon im Frühling 1906 fing Ole Olsen an, ausser dokumentarischen Streifen auch arrangierte Episoden zu drehen. Am 4. April 1906 erlebte sein Film KONFIRMANDEN mit Jean Hersholt in der Hauptrolle seine Uraufführung in Kopenhagen. Es war wahrscheinlich der erste von Ole Olsen produzierte Spielfilm und folglich der zweite Spielfilm Dänemarks. Am 15. September 1906 war Ole Olsen so weit, ein Gesamtprogramm aus selbstproduzierten Filmen in seinem Kinotheater zu präsentieren; im November liess er dann seine Filmproduktionsgesellschaft unter dem Namen "Nordisk Films Kompagni" eintragen. Schon am 24. Juni 1906 hatte Ole Olsen einige Grundstücke in Valby, einer Vorstadt von Kopenhagen, gekauft, und dort entstanden im Laufe von wenigen Jahren die Atelier-Gebäude der "Nordisk". Bereits 1906 hat er aber auch eine eigene Kopieranstalt und ein Filmlaboratorium im Freihafen von Kopenhagen gegründet - ursprünglich "Nordisk Filmfabrik" genannt, später "Nordisk Filmteknik". Dort wurde, auch schon gegen Ende des Jahres 1906, der erste dänische Zeichentrickfilm - Robert Storm Petersens versuchte dies mit Kreide auf einer schwarzen Tafel - gemacht. Aber dieses Experiment wurde bei der "Nordisk" nicht fortgesetzt. (Der Film ist zum Teil aus frühen Zeichentrick-Experimenten entstanden wie z. B. Emile Reynauds "Théâtre optique"; es lässt sich schwer feststellen, wann der erste Zeichentrickfilm überhaupt entstanden ist. Wahrscheinlich ist Storm Petersens Film (Herbst 1906) jedoch der erste Film der Welt, der in der Weise hergestellt wurde, die wir heute mit dem Begriff Zeichentrickfilm umfassen. Die Versuche Emile Cohls datieren aus dem Jahre 1908 und Winsor McCays in Amerika aus dem Jahre 1909.)

Die Jahresproduktion der "Nordisk" hatte schon 1906 mehr als 100 Filme erreicht; davon rund 50 Spielfilme; 1907 wurden 113 Filme hergestellt, davon 62 Spielfilme; 1908 60 Spielfilme gegenüber einer Jahresproduktion von 135; 1909 waren es 81 von 144 und 1910 dann 100 von 170. Früh (1907) drängte Ole Olsen über den dänischen Markt hinaus: zuerst nach Deutschland, dann nach Russland, England und Amerika. Sein New Yorker Zweiggeschäft "Great Northern Film Co." wurde im März 1908 gegründet, später kamen Verkaufsagenturen in Berlin, London, Wien, Budapest, Prag, Zürich, Amsterdam und Petersburg dazu. Das Symbol der "Nordisk", der Eisbär auf der Erdkugel, sollte weltberühmt werden.

Der erste bedeutende Regisseur der "Nordisk" war Viggo Larsen, der die berühmte "Löwenjagd auf Elleore" (1907) geschaffen hat; später kamen Holger-Madsen und August Blom. Der ausgezeichnete Fotograf Johan Ankerstjerne trug dazu bei, dass die fotografische Qualität der "Nordisk"-Filme sich weit über den Durchschnitt erhob. Bald fingen auch eine Reihe von dänischen Theaterschauspielern an, den Weg nach Valby zu finden: Valdemar Psilander, Olaf Fönss, Robert Dienesen, Carlo Wieth und Clara Wieth-Pontoppidan. Die goldene Zeit des dänischen Films nahm ihren Anfang.

Der eigentliche künstlerische Durchbruch des dänischen Films auf dem Weltmarkt gelang jedoch nicht den Filmen der "Nordisk", sondern dem unabhängig produzierten Film "Abgründe" (AFGRUNDEN, 1910), inszeniert von Urban Gad und mit Asta Nielsen in ihrer ersten Rolle auf der Leinwand. Der sichere Instinkt Ole Olsens hatte in diesem Fall versagt: er versäumte es, Asta Nielsen seiner Firma zu sichern. Zwar hat sie dann 1911 in "Die Ballettänzerin" für die "Nordisk" gespielt (Regie: August Blom), und 1918 in "Dem Licht entgegen" (Regie: Holger-Madsen), aber schon 1911 ging Asta Nielsen gemeinsam mit Urban Gad nach Deutschland, um für "Bioscop" zu arbeiten. Ausser in den drei schon genannten Filmen hat sie nur in "Der schwarze Traum" (1911, Regie: Urban Gad) für "Fotorama" in Arhus gespielt, insgesamt also nur in vier dänischen Filmen.

Der internationale künstlerische Durchbruch gelang der "Nordisk" erst mit "Am Tore des Gefängnisses" (VED FAENGSLETS PORT). Er wurde Ende 1910 von August Blom aufgenommen. Blom ist zweifellos die grösste künstlerische Begabung unter den Regisseuren der "Goldenen Periode" gewesen. Zu seinen bedeutendsten Werken gehörten "Atlantis" (1913) nach dem Roman von Gerhart Hauptmann; "Häftling Nr. 97" und "Revolutionshochzeit", beide von 1914, und 1915 "Der Untergang der Erde". Er hat mehr als 100 Filme gedreht, seinen letzten 1925. Er starb in Dänemark 1947, 77 Jahre alt.

Der andere bedeutende Regisseur der "Nordisk" jener Zeit, Holger-Madsen, neigte mehr zu technischer Perfektion. Seine beste Arbeit ist "Das Raumschiff", 1917, eine Art Science-Fiction-Film über eine Raumfahrt zum Mars.

Die sensationellen Erfolge der "Nordisk" führten schon 1908 dazu, dass andere Dänen sich innerhalb der Filmbranche versuchten. Zuerst kam "Continental Film", dann 1909 "Biorama" in Kopenhagen und "Fotorama" in Arhus, 1910 "Kinografen" und "Det skandinaviske Handelshus" (das skandinavische Handelshaus, später in "Filmfabrik Dänemark" umbenannt), 1913 "Dania Biofilm" und "Dansk Biografkompagni". Keine von ihnen vermochte auch nur einen Augenblick die führende Stellung der "Nordisk" zu bedrohen. Die vom künstlerischen Standpunkt bedeutendste unter ihnen, "Fotorama", wurde von Ole Olsen dadurch bekämpft, dass er um 1911/12 die besten Regisseure und Schauspieler für seine Firma aufkaufte. Der berühmteste Erfolg von "Fotorama" war "Die weisse Sklavin" 1910, den Alfred Lind inszenierte. Dieser Film durchbrach zuerst die gewöhnliche Länge der Spielfilme. Wahrscheinlich ist DIE WEISSE SKLAVIN der erste lange Spielfilm in der ganzen Welt. Als der Film in Dänemark erfolgreich lief, drehte die "Nordisk" sofort einen gleichnamigen Film über das gleiche Sujet. Weil er technisch und fotografisch besser gemacht war, und weil Ole Olsen bereits damals über internationale Geschäftskontakte verfügte, war es dann dieser Film, der weltberühmt wurde. Erst im Laufe der Jahre, 1911 und 1912, begannen andere Länder, Filme von mehreren Rollen zu drehen.

III.

Das Renommé der "Nordisk" auf dem Weltmarkt war aber nicht weniger auf die Kunst grosser Regisseure als auf das Organisationstalent und Geschäftsgenie Ole Olsens zurückzuführen. Dänemark eroberte den Weltmarkt, weil seine Filme eine hohe Durchschnittsqualität aufwiesen. Man war den übrigen Ländern an Szenenkultur überlegen, und zwar zu einem Zeitpunkt, wo deren Filmschaffen wenig Kultur besass. Der dänische Film musste in dem Augenblick allerdings unterliegen, wo es den anderen Ländern gelang, einen eigenen spezifischen Filmstil zu entwickeln. Deshalb, weil der dänische Film in den erstarrten Traditionen des Dagmartheaters lebte. Zwar fügte der Ausbruch des ersten Weltkrieges dem Filmimperium Ole Olsens schwere ökonomische Schläge zu, aber der endgültige Zusammenbruch des dänischen Films (und sein Verschwinden vom Weltmarkt) ist letzten Endes künstlerischen Ursachen zuzuschreiben.

Versuche, einen eigentlichen Filmstil zu schaffen, hatte schon im Jahre 1913 Benjamin Christensen mit DER GEHEIMNISVOLLE X, einer Spionagegeschichte, und zwei Jahre später mit DIE NACHT DER RACHE, einem psychologisierten Kriminalstück, unternommen. Beide Filme wurden von Benjamin Christensens eigener Produktionsgesellschaft "Dansk Biografkompagni" produziert, und beide waren unbestreitbar ihrer Zeit voraus, aber bei der kapitalstarken "Nordisk" fand ihr Stil kein Echo. Die "Nordisk" produzierte zu dieser Zeit meist "verfilmte Literatur" oder pazifistische Melodramen. Im Verlauf des Krieges stellte sie einen neuen Regisseur vor: A. W. Sandberg, ursprünglich Fotograf und zweifellos ein Stilist von Format. Besonders bekannt wurde er 1917 mit dem Film DER CLOWN. Danach verzettelte sich Sandberg in einer Reihe stets teuerer Kostümfilme, hauptsächlich Dramatisierungen von Dickens-Romanen. Die dänische Filmkritik zollte diesen Filmen das höchste Lob und proklamierte Sandberg als grossen Regisseur, von dem die Welt ausserhalb Dänemarks jedoch nichts wusste. Dieser Mangel einer ernsthaft arbeitenden Filmkritik hat Sandberg im Grunde gehindert, seine unbestreitbare Begabung für den Film zu entwickeln. Sein letzter bedeutender Film war ein Remake von DER CLOWN im Jahre 1926.

Ein früherer Drehbuchautor, Schnittmeister und literarischer Berater der "Nordisk", Carl Th. Dreyer, gab im Jahre 1919 sein Debüt als Regisseur mit DER PRÄSIDENT; und ein Jahr darauf zeigte er seine grosse künstlerische Begabung mit BLÄTTER AUS DEM BUCHE SATANS, einem historischen Episodenfilm, der von Griffiths INTOLERANCE beeinflusst ist. Wie Benjamin Christensen unternahm auch Dreyer den Versuch, ein filmische Formsprache zu schaffen, aber seine Nahaufnahme-Technik und Schnittmethoden verärgerten die Direktion der "Nordisk". Nach BLÄTTER AUS DEM BUCHE SATANS verliess Dreyer Dänemark und ging nach Schweden, Deutschland, Frankreich und England; wenn er auch später wieder Filme in Dänemark gedreht hat, bleibt er dennoch einer derjenigen, die im Grunde niemals im dänischen Film "zu Hause" waren, die dessen künstlerische Enge nicht ertragen konnten.

Auch Benjamin Christensen musste sich 1918 nach Schweden wenden, um Geld für seinen weltberühmten Film DIE HEXE zu bekommen. Die Dreharbeiten fanden jedoch in Dänemark statt; die Kamera führte Johan Ankerstjerne. Auch dieser Film, seiner Zeit weit voraus (in den Jahren 1945/46 sollte er nochmals kommerziell in Dänemark laufen, mit nachsynchronisierter Musik), fand damals nur wenig Verständnis in Dänemark. Und Benjamin Christensen, solchermassen verkannt, ging nach Deutschland und später nach Hollywood.

Noch ein dänischer Regisseur, Robert Storm Petersen, erlitt in den zwanziger Jahren finanziellen Schiffbruch. Wie bekannt, machte er sein erstes Zeichentrickfilm-Experiment bereits 1906 für die "Nordisk", und 1917 nahm er - diesmal auf eigene Kosten - seine Versuche wieder auf. Nach einem Amerikabesuch 1919/20 produzierte er eine ganze Reihe von humoristisch-satirischen Kurzfilmen, die mit ihren barocken Einfällen eine Sonderstellung in der damaligen Weltproduktion von Zeichentrickfilmen einnehmen. Er zeichnete selbst jede einzelne Bewegung - er schrieb auch die Manuskripte - und hatte nur den Fotografen Karl Wieghorst als Mitarbeiter.

Petersen versuchte, andere Künstler für diese Arbeit zu interessieren, um ein "Produktionsteam" zu bilden, scheiterte aber. Auch bei den Verleihfirmen fand er wenig Unterstützung. Er setzte seine Arbeit noch einige Jahre fort - hauptsächlich stellte er jetzt Werbezeichenfilme her -, aber nachdem er schliesslich auch von diesen Geldgebern im Stich gelassen wurde, musste er aufgeben. Damit hatte Dänemark einen seiner charakteristischsten Filmkünstler verloren.

Zu einem Zeitpunkt, da der Film sich in USA, Deutschland, Schweden und der Sowjetunion seine künstlerische Selbständigkeit erkämpfte, zerbröckelte und verfiel das Imperium der "Nordisk". Schon im Jahre 1917 hatte Psilander mit "Nordisk" gebrochen, um eine eigene Produktionsgesellschaft zu gründen, aber er starb kurze Zeit später. 1920 verliess auch Lau Lauritzen sen. die "Nordisk", um gemeinsam mit Carl Schenstrøm die Produktionsgesellschaft "Paladium" zu gründen, und 1921 schuf Lau Lauritzen dann aus Schenstrøm und Harald Madsen das berühmte Komikerpaar Pat und Patachon (in Dänemark Pytärnet og Bivognen genannt). Diese Don Quixote - Sancho Pansa - Konstellation ist ganz und gar eine Erfindung von Lau Lauritzen und war nur für den Film geschaffen. Pat und Patachon waren im Grunde die einzigen europäischen Filmkomiker, die sich mit den amerikanischen Schauspielern vergleichen lassen, denn die übrigen Film-Komiker in Europa waren meist Theater- und Variétékünstler, die in verfilmten Szenen- oder Variétéstücken auftraten.

Die zwanziger Jahre hindurch repräsentierte "Paladium" mit seinen Pat und Patachon-Farcen fast allein den dänischen Film auf dem internationalen Markt. Es war auch die "Paladium", die 1925 den Film Dreyers DU SOLLST DEINE FRAU VEREHREN (Du skal sere din hustru) produzierte. Dieser Film, besser bekannt unter seinem französischen Titel MAITRE DE LA MAISON (Der Herr des Hauses), ist das einzige Lustspiel Dreyers und auch der einzige seiner Filme, der im eigentlichen Sinne von Alltagsmenschen in einem Alltagsmilieu handelt. Besonders dem Erfolg dieses Films in Frankreich ist es zu danken, dass Dreyer dort seine JEANNE D' ARC drehen konnte.

Als die Zeit des Stummfilms zu Ende ging, verschwand auch ein einmaliges Phänomen der Geschichte des Films: Im Jahre 1928 ging die "Nordisk Films Kompagni" in Liquidation.       Borge Trolle
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Zu einem Skandal von Chris Marker

Ausgerechnet in Kuba musste ich von dem Gangsterstückchen erfahren, dessen Opfer ich dank der Aufmerksamkeit des Herrn Kaiser und seiner Freunde wurde. Die kubanische Presse kommentierte das Geschehen nachsichtslos, und ich versuchte, mich eine Minute lang - so kurz sie mir auch schien - in die Haut von Herrn Kaiser zu versetzen, seine Einstellung gegenüber den Kubanern zu begreifen. Wenn ich seine Haltung zur kubanischen Revolution richtig verstehe, wollte Herr Kaiser ungefähr folgendes sagen: "Kubaner, mein Bruder! Man betrügt dich; man beutet dich aus; man nimmt dir alle Freiheiten und besonders die heiligste von allen, die Freiheit der Meinungsäusserung, die Achtung vor dem Autor, der Öffentlichkeit und der Verschiedenheit der Meinungen. Was mache ich also, wenn mir zufällig der Film eines gewissen Marker in die Hände fällt, der seine Meinung zur kubanischen Frage ausdrückt? Ich zerfetze ihn also, bis er genau das Gegenteil dieser Meinung aussagt!" Wenn der Liberalismus auf diese Weise Propaganda macht, sagte ich mir, so ist es kein Wunder, wenn er auf unserem Planeten nicht voranzukommen scheint. Aber ich war neugierig auf die Einzelheiten der Affaire: schliesslich gibt es Dutzende von amerikanischen Anti-Castro-Filmen, die genug Wasser auf Herrn Kaisers Mühlen gewesen wären und ihm ausserdem viel weniger Mühe gemacht hätten. Warum - zum Teufel - musste man CUBA SI ausgraben? Nach meiner Rückkehr nach Europa machte ich mich also an eine kleine Umfrage, deren Ergebnisse mich verwirren sollten.

Hier also ist - aus der Feder des Herrn Kaiser selbst - seine Version der Angelegenheit: "Ich halte diese Kritik", so schreibt er (es handelt sich um die Reaktion der deutschen Presse), "für übertrieben und ungerecht _... Wir waren gezwungen, den Film zu kürzen, um auf unsere Sendezeit von 45 Minuten zu kommen." (Die Originalfassung dauert eine Stunde.) "Wir haben an Anfang und Ende Aufnahmen von Castros Besuch in Moskau gestellt _... Dadurch bekam der Film einen aktuellen Aufhänger _... Wir haben den französischen Text nicht übersetzt, sondern einen eigenen, dem Geschmack unseres Publikums entsprechenden Text verfasst _... Bisher sind wir mit allen Filmen, die wir im Ausland einkaufen, so verfahren _...Die Beurteilung Castros ist anders geworden, denn er hat sich nach der misslungenen Invasion an der Schweinebucht noch enger an das kommunistische Lager angeschlossen _... Eine Veränderung des Textes in sein Gegenteil hat nicht stattgefunden. Ich habe den Eindruck, dass wir es mit einer Kritik zu tun haben, die päpstlicher ist als der Papst." Einen Film mit dem Titel CUBA SI, der in seinem Ursprungsland wegen "Apologie des Castroismus" zwei Jahre lang verboten war, unter dem Titel DIE VERKAUFTE REVOLUTION und dem Untertitel CASTROS VERRAT AN CUBA herauszubringen,, heisst also für Herrn Kaiser nicht, "ihn in sein Gegenteil verändern". Gut! Das werden die Richter feststellen. Denn glücklicherweise war der Vertrag über den Verkauf von CUBA SI eindeutig (Artikel 2, § e: "der Sinn des Films darf durch die Übersetzung des Dialogs nicht verfälscht werden."), und alle Unschuldsbeteuerungen könnten den eklatanten Verstoss gegen die eingegangenen Verpflichtungen nicht maskieren. Pierre Braunberger, der Produzent, und ich sind entschlossen, die Angelegenheit so weit wie nötig zu verfolgen, bis man uns in aller Form schwarz auf weiss erklärt, ob diese Affensitten beim Deutschen Fernsehen Regel sind, übrigens hat Herr Kaiser - trotz seines guten Gewissens in Sachen Text - sich geweigert, uns diesen zur Verfügung zu stellen. Glücklicherweise gibt es Tonbandgeräte.

Der juristische Aspekt interessiert mich zugegebenermassen nur in bezug auf die Sauberkeit unseres Berufs. Was mich tiefer und persönlicher berührt, ist der Ton des Kaiser-Briefes. An dieser Stelle muss ich nun öffentlich Abbitte leisten. Als ich in grossen Zügen von den Vorgängen erfuhr, erfasste mich eine Welle von Feindseligkeit gegen jenen, den ich für einen Strolch und Fälscher hielt. Heute sehe ich meinen Irrtum ein: dieser Brief war ehrlich gemeint. Er reflektierte Praktiken, die seinem Autor so normal und geläufig erscheinen, dass ich sein Erstaunen ein wenig nachfühlen kann: "Was will man von mir?", sagt er uns eigentlich. "Da ist ein Film: ich kürze ihn um eine Viertelstunde, ich füge einen anderen Anfang und ein anderes Ende hinzu; ich ändere seinen Titel; ich schreibe einen anderen Text, und man macht mir Vorhaltungen! Bisher sind wir mit allen Filmen, die wir im Ausland kaufen, so verfahren." Ja, natürlich! Wo war ich nur mit meinen Gedanken? Dass ein Film, wie immer man ihn politisch oder ästhetisch betrachtet, erst einmal ein Kunstwerk mit vom Autor gewollter Ausgewogenheit, Rhythmus und Konstruktion ist, dass besonders der Text integrierender Bestandteil des Films ist, dass er die Bilder in einer vom Autor gewollten Form lenkt, vertieft und untermalt, das alles sind Begriffe, die allem Anschein nach für Herrn Kaiser - wenn ich mal so sagen darf - böhmische Dörfer sind. Und was soll ich über den Autor sagen? Herr Kaiser wird mich für grössenwahnsinnig halten; aber - werde ich ihm entgegnen, wessen Autor bin ich eigentlich, und warum haben Sie meinen Namen im Vorspann genannt? Nein: für ihn ist ein Film unförmiges und anonymes Material. Man kann es zerschneiden, beliebig ausbeuten, reduzieren und kneten. Er und seinesgleichen fühlen sich berufen, es nach dem, was sie den "Geschmack ihres Publikums" nennen, umzuformen. Ich könnte mir vorstellen, dass der Gedanke, mit Büchern ebenso zu verfahren, Herrn Kaiser nicht weniger als uns schockieren würde. Aber ein Film! Hier stösst man hart auf jene Verachtung des Films, die sich überall breitmacht, und die einige Film- oder Fernsehprofis im höchsten Masse inkarnieren. Eine pathetische Verachtung, denn ich verstehe kaum, durch welche inneren Verrenkungen der, der seinen Beruf so verachtet, sich selbst von dieser Verachtung ausnehmen kann.

Diesen Punkt wollte ich klarstellen, und deswegen musste ich mich schliesslich entschuldigen, Herrn Kaiser falsch beurteilt zu haben. Anfänglich hielt ich ihn für einen der Schuldigen, für einen der Verantwortlichen für diese geistige und berufliche Fäulnis, der das Fernsehen einen reichen Nährboden bietet, wo sich die Begriffe des Kunstwerks und der beruflichen Redlichkeit, ja sogar der einigermassen vage Begriff der Kollegialität verlieren. (Ich muss sagen, dass kein einziger Fernsehjournalist in Frankreich oder in Kuba eine solche Arbeit annehmen würde, wie sie hier zur Diskussion steht.) Aber seine Antwort hat mich überzeugt: Herr Kaiser trägt keine Schuld an diesem Zustand der Dinge. Er ist ebenfalls _... ein Opfer.

(Wir möchten Herrn Chris Marker nochmals herzlich dafür danken, dass er - trotz umfangreicher Arbeit für einen neuen Film - die Zeit fand, uns diesen kleinen Text zu schreiben. Weiter danken wir ihm für die Genehmigung, den nachstehenden Kommentar von CUBA SI abzudrucken sowie für die Überlassung von Photo«.       Die Redaktion)
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Filmtext Cuba si! von Chris Marker

Und hier der Film, der mir am meisten am Herzen liegt; nicht nur, weil er der letzte ist. Er wurde in aller Eile im Januar 1961 gedreht, noch während der ersten Aufregung (sie erinnern sich noch, dass sich damals die meisten französischen Zeitungen über Fidels Paranoia mokierten, der eine Invasion befürchtete). Es wird versucht, in diesem Film wenn nicht die Erfahrung, so doch die Erschütterung und den Rhythmus der Revolution aufzuzeigen, einer Revolution, die vielleicht später als "entscheidendes Moment" in der Reihe der zeitgeschichtlichen Ereignisse angesehen werden wird. Er will gleichzeitig aber auch der gewaltigen Welle von "misinformation" etwas entgegenstellen, die von dem weitaus grössten Teil der Presse ausgelöst worden war (man muss hier schon den englischen Ausdruck übernehmen, denn dieser Ausdruck wird zu einem festen Bestandteil der Sprache werden, wie die Tatsache der "misinformation" zu einer festen Gewohnheit geworden ist). Es ist interessant zu wissen, dass der gleiche Minister, der sich der Presse gegenüber so tolerant zeigte und bei Rundfunksendungen während der Invasion im April 1961 sich die grössten Unwahrheiten leistete, die Kühnheit besass, die Aufführung von CUBA SI im Namen der geschichtlichen Wahrheit zu verbieten - gleichzeitig aber diesem "redlichen" Film und dessen Autor höchstes Lob aussprach. Aber zum Polemisieren gehören zwei. Ich lasse es also dabei bewenden.

CUBA SI (1961)

Herstellung und Aufnahmen: Chris Marker
Sprecher: Nicolas Yumatov
Schnitt: Eva Zora
Interviews: Etienne Lalou und Igor Barrere
Musik: E. G. Mantici und J. Calzada
Lieder: Carlos Puebla
Toningenieur: Jean Neny
Spezialeffekte: Paul Grimaut und William Guery
Produktionsleitung: Juan Vilar (Kuba), Roger Fleytoux (Paris)
Kamera-Assistent: Dervis P. Espinosa
Montage-Assistenten: Pascale Laverriere, Liliane Korb
Kubanische Mitarbeiter: Saul Yelin, Eduardo G. Manet, Diaz Selma, Aktualitäten Gaumont und ICAIC
Ton: SIMO
Atelier: Atelier Eclair
Herstellung: Pierre Braunberger (Films de la Pleiade)

In Ermangelung einer Medaille, des Bären oder der Eule, erhielt dieser Film den Prix Terrenoire 1961 (nach dem gaullistischen Informationsminister. A. d. R.).

[Teil I]

OUVERTÜRE:

Angeführt von kleinen Majoren durchstreifte ein Zug von Menschen die Stadt, die ihre Absage an alles, was amerikanisch ist, proklamierten.

Es war letztes Jahr in Havanna. Man bereitete sich gerade darauf vor, nacheinander folgende Feste zu feiern: 1. Januar als den 1. Januar, 2. Januar als den Jahrestag der Revolution, und den Dreikönigstag, bzw. Weihnachten, das echte Weihnachtsfest, der Tag, der Geschenke, an dem man Kinder beschenkt mit kleinen Hunden, die später gross werden, mit kleinen Kaninchen, die gross werden, mit Vögeln, die "Fische" genannt werden, mit Bären und Puppen und auch mit kleinen Maschinenpistolen, die ebenfalls gross werden. Im Schaufenster eines grossen Kaufhauses nahmen die Heiligen Drei Könige telefonische Bestellungen entgegen. Ein grosser, bärtiger Mann, an den man sich mit jeder Bitte wenden kann, gehört in Kuba zum Volksbrauch.

RECITATIVO

Wie heisst Du? - Teresita Moreno. - Gut _... Teresita, was wünschst Du Dir? - Eine Puppe _... - Und wie heisst Du? - Jorge. - Wie alt bist Du? - Sieben Ja _... acht Jahre! - Und was wünschst Du Dir? - Eine Eisenbahn. - Und was noch? - Einen Panzer. - Und was noch? - Ein Maschinengewehr _... - Eine Tanzpuppe _... - Ein Fahrrad und zwei Puppen _... - Einen Flugzeugträger _...

SCHERZO

Aber auch die Erwachsenen hatten ihre Heiligen Drei Könige: Fidel Castro, Che Guevara und Juan Almeida. Sie standen auf dem Fernsehgebäude und verkündeten der Bevölkerung von Kuba die drei Geschenke der Revolution: die Industrialisierung - die Agrar-Reform - die Beseitigung des Analphabetentums. Von 6 Millionen Kubanern konnte ein Viertel weder lesen noch schreiben. 1961 sollte das Jahr der Bildung werden. Jeder gebildete Kubaner wurde für einen ungebildeten verantwortlich gemacht. Die katholische Kirche versuchte, dieses neue Verantwortungsgefühl für sich zu beanspruchen. "Ob dieses Kind Christ oder Atheist wird, bestimmt ihr." Worauf die Revolution antwortete: "Ob dieses Kind ein Patriot oder ein Vaterlandsverräter wird, bestimmst du _..."

ANDANTE GRAVE

Das geschah also in Havanna, dieser amerikanischen Stadt, diesem Konzentrat von Amerika, das wie Kuhpocken auf kubanischer Haut nistet. Die Stadt, in der die Spielkasino-Hotels noch kein 13. Stockwerk haben - eine Erinnerung an die Zeit, da das Spiel hier noch zusammen mit der Prostitution und öffentlich vorgeführten pornografischen Filmen das grosse Geschäft war. Die New Yorker Aufmachung aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kubaner ihre eigene Art haben, den Verkehr zu regeln. Sie haben ihre eigene Art, ins Objektiv zu blicken, neugierig, kokett oder patriotisch zu sein.

(Musik: "Wenn Du an meinem Hause vorbeikommst - und meine Frau siehst - sage ihr - sie soll heut nicht auf mich warten - ich ginge nach Pueblo Nuevo - das Tanzbein zu schwingen _...")

Es war der Neujahrstag, die Woche der Könige, das Jahr der Bildung, das Fest _... Aber es war auch die Zeit der Bomben. Ein grosses Kaufhaus war niedergebrannt. Die Menschenmasse versammelte sich, kommentierte, interpretierte. Plakate waren zu sehen, auf denen "paredon" für die Verräter gefordert wurde; womit aber nicht Pardon, sondern standrechtliches Erschiessen gemeint war.

ALLEGRO

Jedoch blieb Base-ball noch immer Schmelztiegel der Leidenschaften. Fidel Castro selbst war es zu verdanken, dass die Mannschaft der "Barbudos" gesiegt hatte. Neben revolutionären Schlagzeilen erinnerten die Anschläge der Fremdenverkehrsindustrie daran, dass Amerika per Flugzeug in einer knappen Stunde zu erreichen sei.

Die Masse des Volkes war bedroht und wusste es im Inneren, von aussen. Bomben und antirevolutionäre Widerstandsbewegung, Flugzeuge unbekannter Nationalität, die noch keine Stunde unterwegs waren, tauchten auf, versetzten die Menschen in Unruhe und verschwanden wieder. Sollte es zu einem Überfall kommen, wer würde dann diese Menschen verteidigen?

Sie selbst.

ALLEGRO MARZIALE

Die Miliz, die im Morgengrauen des 2. Januar anlässlich des Aufmarschs zum zweiten Jahrestag unterwegs war, bestand nicht aus Soldaten. Es waren die Baseball-Zuschauer, die Spaziergänger des Dreikönigstags. Das, was Fidel Castro ihnen sagte, war höchst ungewöhnlich für diesen militärischen Aufmarsch: "Wir haben Paraden nicht gern. Wir haben Krieg nicht gern. Wir leben in einer Welt, in der es gilt, sich zu verteidigen, und wir werden uns zu verteidigen wissen. Aber wir würden lieber die Gewehre zur Seite legen und einer Sportveranstaltung zusehen."

ALLEGRO ASSAI

Solche Massendemonstrationen in Havanna wirken wie eine Mischung aus Rotem Platz und Broadway. Aber inmitten der Menschenmassen werden die Bilder deutlicher. Alles an dieser Feierlichkeit war echt kubanisch: der Lärm, die schönen Mädchen, die Art und Weise, Orangen mit der Maschine zu schälen, so dass noch die schlangenförmigen Orangenschalen den festlichen Charakter unterstreichen.

Sogar die Studentinnen, die sich freiwillig an der Kampagne zur Beseitigung des Analphabetentums meldeten. Eine dreifarbige Palette: Spanierinnen, Negerinnen und Mulattinnen, schön wie die Sonnenfinsternis.

Und auch die kubanische Art, frisches Wasser oder das Nationalgetränk Coca-Cola zu trinken.

LARGO

Worüber die Lautsprecher am 2. Januar berichteten, war jüngste Geschichte. Die Vergangenheit von zwei Jahren - und darüber hinaus etwas legendäre Vorgeschichte. Namen unbekannter, meist bärtiger Männer wurden genannt: El Che, Raul, Camilo und der des jungen Advokaten, später Chef der Widerstandsbewegung, der sich vor der Kamera recht ungelenk zeigte (das musste sich erst später geben), und der sich Fidel Castro nannte. Anfangs waren es zwölf Personen, überlebende eines ziemlich gewagten Unternehmens. Später kamen noch weitere Männer und Frauen hinzu.

Eine Gruppe von Widerstandskämpfern organisierte sich in der Sierra Maestra, dem grössten Gebirgsland der Insel. Es galt, sich zu verbinden, sich durchzusetzen, sich zu bewaffnen _...

Die Bewohner halfen den Widerstandskämpfern. Die Bevölkerung kennt ihre Zeitungen und Flugschriften. Zwischenfälle und Handstreiche stellen den Kontakt mit der bäuerlichen Masse, den Ärmsten der Insel, her, die mithilft, den Sinn des Kampfes zu definieren: zunächst Beseitigung der Diktatur, danach Aufbau einer neuen Gesellschaft. Im ersten Punkt herrschte allgemeine Einigkeit. Der zweite, Aufbau einer neuen Gesellschaft, wird im Lauf der nächsten Zeit noch zu vielen Schwierigkeiten führen.

Vom Fernsehgebäude aus, das sie selbst erbaut hatten, sahen die Kämpfer der Sierra im Winter 1958 zu, wie die feindliche Verteidigung zusammenbrach. Um seine Flucht zu sichern hat der Diktator Batista eine Übergangsregierung gebildet, die jedoch nie die Regierungsgeschäfte übernahm. Die letzten Amtshandlungen des korruptesten Regimes In der Geschichte Kubas betrafen aktuelle sportliche Ereignisse. Grosse Umwälzungen stehen bevor. Für den Rest der Welt, besonders für die Amerikaner aber, ist es bequemer, das Mythos Wiederaufleben zu lassen: Fidel Castro ist Robin Hood.

INTERMEZZO, ALLEGRO

Vielleicht ist er Robin Hood _... Nur kann man in unserem Jahrhundert nicht unbedingt den Rückstand dadurch aufholen, dass man die Reichen enteignet und die Armen beschenkt. Und während Robin Hood in seinen Bergen noch Marx liest und die Gesetze und Reformen für die künftige Republik ausarbeitet, macht ein Teil der Welt die schmerzliche Feststellung, dass auch ihr ein Robin Hood fehlt.

(Lied: _... die Gesetze der Revolution - das Gesetz der Agrarreform - und das Gesetz von Alquiler _... - Und das Volk singt seit einem Jahr - Gracias Fidel!")

So vergehen Legenden. Der Mythos von Robin Hood platzt.

An seine Stelle tritt die Revolution.

ADAGIO BEN MARCATO

Arbeit für alle, das Land für die, die es bebauen, die Wohnungen denen, die darin leben, und Häuser denen, die keine haben - was wäre einleuchtender als dies? Revolution ist dazu da, dass Wirklichkeit wird, was selbstverständlich ist. - Ein Gedankengang, dem mitunter der verständigste Mensch schwerlich folgen kann. Nur ein Beispiel dazu: es bedurfte einer Revolution, damit auf einer Insel mit 3500 km Küstenlänge auch nur ein Strand dem Volk zugänglich gemacht wurde.

Revolution bedeutet aber auch, neue Quellen, neue Industrien zu erschliessen. Zum Beispiel Büffel-Krötenleder, das Gatti nicht erfunden hat (wohl die einzige Sache, die nicht von ihm erfunden wurde) und das den Armen das Krokodilleder ersetzt.

Aber Revolution bedeutet vor allem: Bildung.

Vom Alphabet zur Poesie - es bedarf einer enormen Anstrengung, damit die Bildung auch wirklich Besitz derer wird, die sie verbreiten wollen. Die kulturellen Aspekte der Revolution werden allerdings vom Ausland nicht gerade gut verstanden und dargestellt. Dennoch: selbst in den Vereinigten Staaten rufen Männer inmitten von Geschrei des Entsetzens und der Entrüstung ihre Landsleute auf, ihr Gewissen sorgfältig zu überprüfen. Die Presse aber muss ihren eigenen Gesetzen folgen: Auf der ersten Seite: Hinrichtungen. Die Reformen: kleine eingeschobene Artikel oder Stillschweigen. Alle Welt verfolgt am Fernsehschirm die Hinrichtung eines Batista-Anhängers. Aber keiner spricht von der Umgestaltung der Gefängnisordnung, die Urlaub auf Ehrenwort gewährt und merkwürdige Wettkämpfe zwischen Gefangenen und Wächtern zulässt, diese Wiederherstellung der Gleichheit auf sportlicher Ebene im Reich der Strafe.

"Castro hat die Revolution verraten", erklärt das State Department - und im allgemeinen weiss man recht gut, dass das State Department eifersüchtig darüber wacht, dass Revolutionen ihren reinen Charakter bewahren. Man kann sich in der Tat schlecht vorstellen, dass die tiefe Erschütterung in den Vereinigten Staaten einzig und allein von der Sorge um die Demokratie in Kuba herrührte. Es muss noch einen anderen Grund haben . ..

Montage der nach der Revolution nationalisierten Einrichtungen. (Lied: "Die Kuh gibt darum Milch - damit das Kalb sie trinkt.")

Auch die Kirche bezieht Stellung! Für sie ist Castro ein Diktator - das sagt alles. Trotzdem ist die Situation doch nicht so ganz klar; denn ein Ordensbruder äusserte sich wie folgt:

ALLEGRO RELIGIOSO «.

"Nun wohl, abgesehen von dem, was ich persönlich davon halte, glaube ich, dass die Revolution von Kuba dem Lande eine neue Nation, ein neues Vaterland, eine neue soziale Struktur bescheren wird. Die Reform auf dem Land, die Reform in der Stadt und die Sozialisierung der grossen nationalen oder ausländischen Unternehmen sind die drei Grundpfeiler der Revolution, und werden das Gesicht der Nation ändern, dem Land Wohlstand bringen, die Industrialisierung fördern und somit die wirtschaftliche Unabhängigkeit ermöglichen, ohne die kein Land politisch unabhängig sein kann. Man ist dabei, die grössten gesellschaftlichen Probleme Kubas zu lösen: das Wohnungsproblem, das Arbeitslosenproblem, das Problem der Gesundheit auf dem Land und das Erziehungsproblem. Und dies alles geschieht, ohne dass die Würde des Menschen angetastet wird, indem man etwas Druck ausübt und das süsse, ausschweifende Leben, das die Menschen im Lande führten, etwas eindämmt. Das aber ist nur recht und billig! Alles in allem entspricht die Revolution mit ihren mannigfaltigen guten Seiten dem wahren Christentum bei weitem eher als das vorangegangene Regierungssystem."

RECITATIVO E ARIA

Vorher: die Zeit unter Batista und seinem Gefolge von einheimischen und fremden Gangstern __ die Zeit, da der junge Advokat Castro aus dem Gefängnis entlassen wurde, nachdem er in einer aufsehenerregenden Rede die Ziele und das Wesen der künftigen Revolution festgelegt hatte. Wer aber ist Castro? Wie hatte sich die Verwandlung vollzogen vom grundlosen Rebellen zum Führer der Partisanen, vom Grundbesitzerssohn und Jesuitenschüler zum Gründer der ersten sozialistischen Republik von Amerika? Jeder hat seine eigene Vorstellung von Castro. Alle beurteilen und interpretieren sein Tun. Da also jeder es so genau wissen will, wollen wir ihn selbst einmal dazu Stellung nehmen lassen _...

FIDEL: "Ich glaube, das ist eine schwierige Frage. Meiner Meinung nach war ich ein Kind wie jedes andere. Es ist schwer festzustellen, welche Fakten dazu beigetragen haben, dass ich Revolutionär wurde. Vielleicht anfangs eine politische Berufung _... auch eine Charaktersache _... ein etwas rebellierendes Wesen _... ein natürlicher Hang zur Gerechtigkeit, angeborener Widerstand gegen alles, was ungerecht oder unmoralisch erscheint _...

All das gehört mit zur Berufung. Aber in Wirklichkeit sind für die Revolution oder den Revolutionär keine menschlichen Fakten ausschlaggebend. Entscheidend ist das ganze Milieu. Eine solche Berufung kann sich nur in einer Atmosphäre der Ungerechtigkeit offenbaren. Die Zeit muss reif sein für die Revolution. Wieviele Marats, wieviele Dantons und Robespierres sind wohl schon in Frankreich geboren worden, solange es Frankreich gibt - und doch wurde nur ein Marat, nur ein Danton, nur ein Robespierre Revolutionär! Die Feudalherrschaft musste im Zerfall begriffen sein, am Rande des Abgrunds; die französische Gesellschaft musste in sich schon die Voraussetzung für eine neue Gesellschaft, eine neue Welt tragen _... So waren auch die Faktoren schon in unserer Gesellschaft vorgegeben, die mich bewogen haben, Revolutionär zu werden, und die soviele meiner Landsleute und das gesamte Volk zu Revolutionären gemacht haben _..."

Die Gesellschaft, in der sie lebten, hatten die Revolutionäre bereits in den Zeiten des Maquis heftig angegriffen, als sie die ersten Schulen für die Bauern eröffneten.

Man brauchte nur die nachgeahmten amerikanischen Städte zu verlassen, um sich einen Begriff von dem wirklichen Kuba machen zu können, von dem unterentwickelten Land, über das die folgenden Zahlen reichlich Aufschluss geben: 1 1/2 Millionen Analphabeten; 500 000 Arbeitslose; 30 % des Landes im Besitz von 1 % Grundbesitzern. Lebens-, Wohnungs- und Gesundheitsbedingungen: einfach unbeschreiblich.

Nun die andere Seite dieser Gesellschaft: Paläste, unendlich grosse Gärten, in denen die derzeitigen Milliardäre ihren Prunk der unkultivierten Borgias entfalteten. Man hätte es mit dem normalen Menschenverstand noch vereinbaren können, dass diese Menschen geistig unbemittelt, egoistisch, zynisch, gleichgültig oder ihrer Sinne nicht ganz mächtig waren. Eins aber war immer absolut unerklärlich, dass sie nämlich Christen waren.

Die Tabakkönige, die Kaiser des Zuckerrohrs kamen hierher, um sich zwischen dem Kreuz, den Nymphen und Faunen in einem Fluidum von schwarzer Magie zu erholen. Nichts störte hier ihre Träumereien: nichts ereignete sich.

ADAGIO SCHERZANDO

Anderswo ereignete sich so manches. Es gab da z. B. Bestattungen. Die Opfer der Diktatur wurden bestattet. 20 000 innerhalb von 6 Jahren. Niedergemetzelt, gefoltert, mitunter kastriert durch die Polizei dieses Batista, der dann nach den Ereignissen im April 1961 erklärte: "Ich wünsche für Kuba ein Regime, das auf den Prinzipien von 1940, nämlich denen der christlichen Religion und der Gerechtigkeit beruht _..."

Die Wiederstandsbewegung, die sich organisierte, knüpfte an die alte Tradition des "Volkszorns" an, die sich 1933, nach einer anderen Diktatur bereits geoffenbart hatte. Der Widerstandsgeist war durch schwache und korrupte Regierungen missbraucht worden, aber all die Niederlagen schafften die Voraussetzungen für den späteren Sieg.

Die Untergrundpresse informierte, unterrichtete und denunzierte Verbrechen, nannte die Namen der dafür Verantwortlichen. Die Widerstandsbewegung ihrerseits schlug zu. Man strich Namen auf der Liste aus. Und oben, in der Sierra Maestra, wurde die Revolution vorbereitet.

In den Lustgärten aber tat sich nichts. Hier herrschte nichts als Luxus, Ruhe und mitunter ausschweifende Sinnlichkeit.

Dann kam der Sommer 58 _...

Ein tragisches Rennen, an dem Fangio nicht teilnehmen konnte, da er von den Barbados entführt worden war, die versuchten, auf diese Weise die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

6 Monate später hatten sie so etwas nicht mehr nötig.

FINALE

Am 1. Januar 1959 floh Batista. In Columbia, in seiner "Verbotenen Stadt", hinterliess er die für seine Kinder angefertigte Krippe, von der wir zwei Jahre später nur noch Trümmer wiederfanden. Der Diktator beantragte und erhielt Asylrecht in den Vereinigten Staaten, wohin er sich auch mit einem geschätzten Vermögen von 300 Millionen Dollar zurückzog. Nur eine kleine Napoleon-Statue in dem Garten blieb erhalten. Rings herum stellte die Miliz ihre Wachen auf. Zum ersten Male in fünf Jahrhunderten gehörte Kuba den Kubanern.

II. Teil

ARIA

Fidel: Es war nicht so, dass wir uns nach dem Krieg nicht für die Staatsmacht interessierten. Wir wollten zeigen, dass es uns in diesem Kampf nicht um persönlichen Ehrgeiz ging! _... Für uns war wichtig, dass ein bestimmtes Programm aufgestellt wurde. Wir können wohl eingestehen, dass es einen Zeitpunkt gab, da wir so etwas für möglich hielten, d. h. zu einem gewissen Zeitpunkt waren wir in etwa _... Utopisten. Ich gestehe offen, dass wir uns in der ersten Zeit nach dem Sieg der Rev _... - des Krieges, nach dem Krieg, fast völlig abseits von der Regierung gehalten haben. Wir hatten absolut nichts mit den Entschlüssen des Ministerrats zu tun, und wir erwarteten - als wäre es die logischste Sache der Welt -, dass die Hauptverantwortlichen eine Reihe elementarer Massnahmen träfen, die vom Volk erwartet wurden und uns wie _... das ABC der ganzen Revolution erschienen. Es vergingen Wochen, und kein derartiger Schritt wurde unternommen. Selbst wenn wir uns hätten abseits halten wollen von allen Regierungsgeschäften, selbst wenn wir uns nicht berufen gefühlt hätten, zu regieren, selbst wenn wir gewünscht hätten, der Regierung fernzubleiben _... wir hätten es nicht tun können _..."

TAMBURINO E RUMBA

Das Land, das sie von einem Tag zum anderen zu regieren hatten, war die Antillen-Insel, auf der Christoph Columbus am 27. Oktober 1492 landete, in der Überzeugung, in Indien zu sein. Man wollte ihn überzeugen, dass er Amerika entdeckt hatte, aber er schrie: "India si, Yankee no", und nichts konnte ihn je davon abbringen.

Als die Spanier nach Kuba kamen, war das Land von Siboney-Indianern bewohnt. Als sie wieder wegzogen, war nichts davon übrig geblieben. Und dies trotz des Wirkens von Pater de las Casas und einigen frommen Beschützern der Indianer, die darüber hinaus feststellten, dass die Arbeit eines Negers so viel Wert war wie die Arbeit von vier Indianern - und die somit der Einfuhr von afrikanischen Sklaven Vorschub leisteten.

Aber Kuba war spanischer Besitz und blieb es bis Anfang dieses Jahrhunderts. Das Universal-Lexikon von Herrn Bouillet jedoch verkündete, dass "dieses Land das Schicksal der anderen spanischen Kolonien teilen und den Vereinigten Staaten eingegliedert wird, die schon lange danach trachten".

Im liberalen Licht unseres Jahrhunderts gesehen macht sich das Trachten der Vereinigten Staaten nach der Eingliederung Kubas im amerikanischen Einfluss (und Monopol) bemerkbar. Es genügt, dass die USA ihren Export einstellen, und schon zeigt sich, wie weit die Technik und der Handel Kubas davon abhängig sind. Konsequenz: 1958 noch Spiel- und Jagdgebiet, wird Kuba 1960 Bastion des Anti-Amerikanismus.

Das Zuckerrohr ist gleichzeitig die nutz- und verhängnisvollste Pflanze. Einerseits kann man Zuckerrohr mit einer wohlwollenden Hydra vergleichen. Man schneidet sie ab - und immer wächst es nach, bis zu 20mal. Um Anfang des Jahres die Ernte zu sichern, gab die gesamte Regierung, darunter der Präsident der Republik, Dorticos, und der Aussenminister Raul Roa, ein Beispiel für zivile Mobilmachung. Die Bevölkerung legte mangels technischer Ausrüstung Zeugnis von einem gesunden Wetteifer ab.

Aber Zuckerrohr war auch gleichzeitig eine Falle für Kuba. Der ausländische Einfluss trug dazu bei, dass in diesem so sagenhaft reichen Land, wo man alles hätte anbauen können, der Zuckerrohr-Anbau einseitig stark entwickelt wurde. Statt den Anbau an die verschiedenartigsten Bedürfnisse anzupassen, wurde Kuba vom Zuckerrohr wie von einer Seuche überfallen. Ausserdem bestanden entsprechende Regelungen, so dass für die gesamte Zuckerrohr-Produktion Kubas nur ein Abnehmer in Frage kam: nämlich die Vereinigten Staaten. - Ein günstiger Vorwand, um die kubanische Wirtschaft vollkommen vom Ausland abhängig zu machen. Als die kubanischen Unabhängigkeitsbestrebungen offensichtlich wurden, antworteten die Vereinigten Staaten darauf, indem sie eine Wirtschaftsblockade verhängten und das Kontingent strichen. Also versuchte Castro, seinen Zucker an den Ostblock zu verkaufen. Folge davon war, dass man ihn beschuldigte, sich an die Russen verkauft zu haben.

Das war eine der zwei Hauptanschuldigungen. Die andere bestand darin, dass es in Kuba keine Wahlen gab. Und es ist in der Tat verwunderlich, weshalb Castro sich seine enorme Beliebtheit nicht in aller Form bestätigen liess. Wir haben ihm diese Frage gestellt.

ARIA

Fidel: "Gewisse Länder konnten das schwerlich verstehen, da sie sich nicht darüber im klaren waren, dass Kuba seit 60 Jahren keine echten Wahlen, sondern nur Farcen kannte. Das heisst eine Halbdemokratie, eine falsche Demokratie ,die auch die lateinamerikanischen Länder während 11/2 Jahrhunderten kennenlernten, ohne dass je etwas geschah, ohne dass andere als mittelmässige, ehrgeizige, betrügerische und bestechliche Leute an die Macht kamen. Die Zeit wird kommen, da die Revolution als dynamischer Prozess - was sie nun einmal ist - aufgefasst wird, als ein Prozess, der das Alte zerstört und Neues aufbaut. Wir sind nicht ewig, und die Zeit der Revolution ist nicht ewig. Das heisst, dass die Zeit kommen wird, da die ganze von der Revolution neugeschaffene Ordnung institutionellen Charakter annehmen, da auch die eigentliche und wirkliche Demokratie neue Formen schaffen wird. Zuerst wird die Gesellschaft geboren - danach wird sie zu einer Einrichtung. Und das müssten vor allem die Franzosen verstehen: die Franzosen haben fast jedes Jahr eine Wahl, auf städtischer Ebene, auf nationaler Ebene, eine Präsidentenwahl, eine Abgeordnetenwahl. Es gibt kaum ein Land auf der Welt, in dem während dieser 60 Jahre mehr Wahlen stattgefunden haben als in Frankreich. Und trotzdem sind die Franzosen nicht zufrieden _... Sie wissen, dass durch die politischen Cliquen, die ganze Wählerei, kein einziges grundsätzliches Problem in Frankreich gelöst werden konnte. Es kommt mitunter vor, dass die herschenden Klassen der Wahlen überdrüssig werden - und das kann zum Faschismus führen! Aber in Kuba handelt es sich um eine Revolution, die zum Sozialismus führt, und aus dieser Revolution erwächst ein Regime und ein neues soziales Leben, das sich seinerseits wieder insti _... insti _... gut! das sich seinerseits wieder institutionalisiert (ich wollte mich nicht geschlagen geben!). In der Zwischenzeit halten wir jeden Monat hier ein Wahl ab. Aber es ist eine Wahl, die auf einem öffentlichen Platz stattfindet. Unsere Demokratie erinnert an die Demokratie der Athener - nur gibt es bei uns keine Herren und keine Sklaven.

"Die Amerikaner sagen - Fidel sei Kommunist - niemand sagt, dass Batista - 20000 Kubaner abgeschlachtet hat - Cuba si, Cuba, si - Cuba si, Yankee no _..."

ADAGIO

Aber Revolution war nicht nur an die Massen gebunden.

Was machte der merkwürdig geputzte, behelmte, springende Bergsteiger auf der Festungsmauer im Tal der Zwei Schwestern, in der Nähe von Vinales, der wie eine Illustration zu Jules Verne aussah?

Er malte.

Eines Tages hatte ein Maler beschlossen, dass ein Berghang für das Volk ein schönes Freskogemälde sei. Man sagte ihm: "Da ist ein Berg" - nicht zu belebt, gut für die Übung. Seitdem bemalt er seinen Berg.

Wir haben nicht gerade erwartet, in der kubanischen Revolution auf einen Baudelaire zu stossen. Da aber in Kuba alles möglich ist, hatten wir Gelegenheit zu sehen, wie ein Bauer von Pinar del Rio, zurechtgemacht wie für einen Angriff, den Aufstieg einer jungen Riesin bewerkstelligte.

Es war an einem Ferientag. Die Revolution war hier offensichtlich weniger _... geschäftig als in den Kooperativen und Filmateliers. Es war eine Pause. Ein geeigneter Tag, die tollsten Feststellungen zu machen: z. B. dass das Glück eben das Glück ist, das Leben eben das Leben _... Der Duft der Kiefern von La Güira, die Mädchenstimmen und die Zelte, die auf ihren vier Pfosten wie Stelzvögel schlafen - das alles schafft die Momente, die man keinesfalls vergessen möchte: die Vorabende des Krieges, die letzten Ferientage. Die Abfahrt war nahe - und der Krieg nicht fern.

MARCIA LENTE

Alarme, Attentate, das Zuckerrohr brennt. Das alles hing nur mit einer anderen, schwereren Drohung zusammen. Zum zweiten Jahrestag der Revolution hatte Fidel Castro die Mobilmachung der Miliz proklamiert. An den Küsten begannen lange Wachen.

Mitten in der Mobilmachung, in der gespannten Atmosphäre angestrengter Wachsamkeit, kam uns der Zufall zu Hilfe und gab uns den Schlüssel zum Verständnis Kubas. Wir befanden uns an einer Kreuzung und erwarteten den Vorbeimarsch eines Kinderorchesters, das wir filmen wollten. Es war ein drückender Morgen. In der vorangegangenen Nacht hatte ein heftiger Zwischenfall die Unruhe noch verstärkt. Die Leute rund um mich machten nicht gerade festliche Mienen.

Beim ersten Taktwechsel fiel uns noch nichts weiter auf, ausser einigen fröhlichen Zuschauern.

Beim zweiten Taktwechsel breitete sich schon rings um uns etwas aus - und plötzlich _...

(An dieser Stelle folgt eine Serie von Bildern, die die ausgelassene Freude der Kubaner zeigt)

CONGA BRAVA

Das war Havanna im Jahre 1961: Maschinengewehre auf den Dächern und Conga in den Strassen.

In der übrigen Welt nahm das Leben seinen gewohnten Lauf.

REZITATIF

Wovon sprach man zu dieser Zeit in der Welt?
- von Leuten, Ländern, sagenhaften Tieren,
- von Algerien,
- von Frankreich,
- von Amerika,
- vom Weltraum,
- vom Wetter,
- vom Kongo,
- von Laos,
- von Afrika,

und von den Formen, die die Gewalt und das Gebet hier in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts angenommen hatten.

Und dann fing man auch allmählich an, von Kuba zu sprechen.

LARGO

Als das Radio am 17. April bekannt gab, dass es zu einem Angriff auf Kuba gekommen war, hat man in Gedanken noch einmal diesen letzten Spaziergang unternommen. Aber die Parolen waren keine leeren Worte mehr, sie sind zu Orakeln geworden, die von einer Hand auf Mauern geschrieben wurden.

Im Osten von Havanna liegen die Baustellen, die 4000 Familien Unterkunft geben werden. Der Wohnungsfonds wird von Lotteriescheinen gespeist. Zuvor ging der Lotteriegewinn an Batista. Der Unterschied zwischen einer Lotterie und der anderen ist nicht nur ein Unterschied zwischen Schurkerei und Ehrlichkeit - es ist auch ein Unterschied von einer Welt zur anderen. Zwei Welten, in denen das Geld eine sehr unterschiedliche Rolle spielt - das ist alles! Und, was die naiven Amerikaner, die am Tage der Besetzung Ländereien in Kuba gekauft haben, nicht wissen, dass es nämlich auf diesem Weg - von der Hochstapelei zur Ehrlichkeit - keine Umkehr mehr gibt.

Aber wir, 8000 km entfernt, haben hinter uns nur noch die Erinnerung und das Vertrauen, und vor uns nur die gefälschten Nachrichten.

Schlagzeilen:

Die Gegenrevolution scheint das Land fortzureissen _...
Eine Grossstadt schliesst sich den Castro-Feinden an _...
Kämpfe in Havanna _...
Fidel in verzweifelter Lage _...
Havanna bombardiert _...

Radiostimmen:

_... hat bekanntgegeben, dass in der Provinz von Las Villas in Kuba ein Brückenkopf gebildet wurde _..."

Provinz Las Villas, Sumpf von Zapata, Ebene von Giron, Lagune von Tresor _... Hier hat sich die Invasion abgespielt.

_... Notstand beschlossen _... die Stadt Santiago schliesst sich den Gegenrevolutionären an. Dean Rusk hat erklärt: die Vereinigten Staaten werden nicht intervenieren _..."

Am 20. April 1961 erfuhr die Welt, dass der Angriff auf Kuba niedergeschlagen wurde. Gleichzeitig wurde der Welt bekanntgegeben, dass die Bevölkerung von Kuba hinter der Revolution steht und bereit ist, die Revolution zu verteidigen. Wir hätten diese Nachrichten gern der Welt übermittelt, wenn man uns gefragt hätte. Aber es scheint, die Welt glaubt immer nur denen, die ihr Leben opfern. Und im Zweifelsfalle ist die Welt sogar bereit, die Leute zu opfern, damit sie ihnen auch glauben kann.

(Übersetzung aus dem Französischen von Maike Rau)
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Chaplin Reviewed

Diese Notizen sind sich nur einig in ihrem Objekt. Einzelne Momente dieses Objektes sind ihr Gegenstand.

Auch in der Entwicklung ihres Gedankens beziehen sie sich nicht organisch oder systematisch aufeinander. Eher ähneln sie Spiegeln, die einen komplexen Gegenstand unter verschiedenen Blickwinkeln wiedergeben wollen.

Deshalb verlangen sie nicht, ein Ganzes in den Blick gerückt noch die Fülle der Aspekte ausgeschöpft zu haben, die das Werk selbst anbietet.

Ihre Einseitigkeit war Ziel; dies umsomehr als sie eine erneute Diskussion über Chaplin und die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Groteskfilms, der Komödie, der Satire in unserer Zeit und Gesellschaft anregen wollen.

I.

"Chaplin bleibt arm wie zuvor und stellt den Herren ein Bein, ein bescheidenes. Doch als lustig wird auch er genommen, und die Herren, denen der arme Teufel recht märchenhaft entrinnt, glänzen im Film gleich neben dran und sind mitnichten widerlegt oder gar gesprengt."       E. Bloch

Dass neben dran die ideologische Intoxikation weiterläuft, fällt sicher nicht so leicht zu Chaplins Lasten; zeigt eher, welche vorgegebenen Grenzen der Kritik gesetzt sind angesichts des allgemeinen Zustandes des Films; lässt vielmehr die Frage entstehen, wie Kritik beschaffen sein müsste, um dennoch das Geflecht aus Lüge und Dummheit, dem sie eingewebt ist, zu zerreissen. Als Märchen, sagt Bloch, gewiss nicht, so hoch auch sonst er es schätzen mag. Seine antagonistische Struktur - gut und böse, arm und reich, schwach und stark - simplifiziert die Realität. Die realen Beweggründe der gesellschaftlichen Dynamik werden von der irrealen Welt des Märchens absorbiert, wenn auch in gewisser spezifischer Weise reflektiert. Wie alle Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst, hat das Märchen seinen geschichtlichen Standort. Vorliterarisches Mittel der unteren Volksschichten, entstand es als antimythologischer Reflex in einer Zeit, die sich selbst noch mythisch erfuhr. So ist es denn auch in der Romantik erst wieder erkannt worden; weniger aber im aufklärerischen Sinne, denn als unmittelbares Zeugnis einer "Volkspoesie", in der man einen originären Mythos gefunden zu haben vermeinte. Dem kam natürlich das Märchen in vielen seiner Elemente entgegen; nicht nur seine archaische, zumindest vorstädtische Szenerie von Wald, Wiesen, Acker, Bauerntum und Königspalast waren dafür Angelpunkte; vielmehr noch sein vielgestaltig animistisches Weltbild, das den Dingen eigenes Leben, Menschen zu Tieren et vice versa werden liess, unterstützte diese Auffassung. (Die Eigenständigkeit der Dingwelt ist z. B. ein Element, das sich in fast allen Groteskfilmen bis hin zu Jerry Lewis erhalten hat. Siehe H. Fischer "America's own fool", Heft 37 )

Dieses selbst noch mythologisch befangene Weltbild wird im Märchencharakter von Chaplins Filmen rezipiert, vermehrt noch durch die Suggestionskraft des bewegten "lebenden" Bildes. In diese irreale Welt, die mit der tatsächlichen nur deshalb in Berührung kommt, um sich am Ende wieder umso triumphierender von ihr abzustossen, sind Charlies Geschichten getaucht. Hier herrscht zwar viel Gemeinheit, Angst, Niedertracht und Kampf; jedoch Charlie obsiegt. Er bewahrt seine Freiheit, indem er flieht. Das Fluchtmotiv steht am Ende aller jener Filme. Dieser Ausbruch ins Weite, der freie Atem und die frische Luft, die Charlie gegen Ende seiner Episoden aus dem Leben umwehen, sind Ausdruck seines weltfremden extremen Individualismus, der sich niemals ins Joch gesellschaftlichen Lebens - welcher Art auch immer es sein mag - spannen lässt. Jedoch die Vagheit der Hoffnung, es liesse derart sich etwas ändern an der Welt, täuscht darüber hinweg, dass die Flucht vor der Gesellschaft alles im Gleichgewicht belässt. Charlie entkommt; die ihn sehen, denen hilft 's nichts, sie müssen bleiben, wo sie sind und es sich einrichten.

So wird er lustig genommen, weil er der arme Teufel ist, den man in sich selbst nicht erkennen will. Deshalb stellt er den Herren nur ein bescheidenes Bein, weil sie nur stolpern sollen, nicht aber fallen. Und denen, die sich 's freuen, fällt nicht einmal das mehr ein, berauscht vom wiederauferstehenden Glanz gleich neben dran. So kann Balázs mit recht sagen: "Der melancholische Optimismus Chaplins drückt unser aller Revolte gegen die menschliche Gesellschaft aus". Mehr nicht.

II.

Sadoul hat Schwierigkeiten - wie jeder marxistische Kritiker - Chaplins Filmen Gesellschaftskritik entlesen zu können. Zu MODERN TIMES schreibt er: "Hätte Chaplin seinem Film eine "dramatische Entwicklung" geben wollen, es hätte genügt, die beiden Teile auszutauschen. Er hätte Charlie nur zeigen müssen, wie er zuerst verzweifelt nach Arbeit sucht und später in der grossen Fabrik durch die zermürbende Arbeit vernichtet wird. Zum Schluss nimmt er die rote Fahne in die Hand _... Man kann sich vorstellen, was geschehen wäre, wenn der Film mit dieser Szene geendet hätte! Die Presse hätte ihre ganze Kampagne wieder aufgenommen, in verstärktem Masse wahrscheinlich _..." Die marxistische Ehrenrettung, die Chaplin hier widerfährt, präzisiert Sadoul dann noch weiter: _... Zuerst stellt er in der ersten halben Stunde seines Films - mit unerhörter dramatischer Spannung übrigens - das zentrale Problem von MODERN TIMES zur Diskussion. Danach will er durch Lachen vergessen machen, welchen Mut er soeben bewiesen hat."

Um Chaplins Kritik für den Marxismus zu retten, nimmt der französische Kritiker Abgründe der Spekulation in Kauf, die er nur durch einen scholastischen Balanceakt mit geschlossenen Augen überwinden kann. So fällt denn MODERN TIMES in zwei Teile, der eine kritisch, der andere unterhaltsam. Während der erste sich so ohne weiteres aus sich selbst marxistich deuten zu lassen scheint, wird die Existenz des zweiten, der den ersten doch angeblich widerruft, mit dem vulgär-ökonomischen Argument gerechtfertigt, die Umstände hätten ihn erfordert. So wäre durch einfache Umstellung der Teile, laut Sadoul, aus MODERN TIMES ein revolutionäres Manifest gemacht, wie man durch die gleiche Methode Eisensteins POTEMKIN umpolen konnte?

Dass Liebe blind macht, ist bekannt. Bei einer Kunst, die der Augen Blick verlangt, wird solche Liebe dann leicht zur Lüge. Sie verzichtet darauf, ihren Gegenstand kritisch zu sehen und überlässt sich leichtgläubig beschönigend - verfälschenden Spekulationen.

Im Kontext des Films - und nicht nur dieses - zeigt sich nämlich, dass genauer dieser Aufbau von MODERN TIMES den eigensten Intentionen Chaplins entspricht.

Im ersten Teil, der in der Fabrik spielt, zeigt er zum erstenmal konkret den Zusammenprall Charlies mit der modernen Technik, der Fabrikarbeit. Damit ist schon in der Exposition der Konfliktstoff voll entfaltet, der alle Filme Chaplins bis hin zu THE GREAT DICTATOR und MONSIEUR VERDOUX - sentimental abgeschwächt dann in LIMELIGHT - durchzieht: das antinomische Verhältnis zwischen der extremen Individualität des Einzelnen (Charlie) und der auf totale Integration tendierenden Gesellschaft. Neu an MODERN TIMES war nur, dass der Konflikt in die reale Umwelt des Hochkapitalismus. verlegt wurde und damit an Aktualität und beissender Schärfe gewann. Eine Bitterkeit spricht aus diesen Szenen, die weit über eine nur sozialkritische Anklage hinausgeht. Es ist die unaufhebbare Einsamkeit des Individuums in der technischen Welt, der Preis, den es für seinen unstillbaren Freiheitsdrang zahlen muss. Denn Charlie ist allein, der Einzelne, und sein Eigentum ist der Widerspruch, den seine Existenz gegen das "Maschinenzeitalter" behauptet. So richtet sich sein Angriff nicht nur gegen den Fabrikdirektor als den Exponenten der herrschenden Klasse, worauf man den Film so gerne reduzieren möchte; sondern auch gegen seine "Arbeitskollegen", die stärker, robuster, skrupelloser als er sind. Insofern hat sich sein Egoismus, den die frühen Filme so krass zeigten, auch hier noch erhalten. Er ist nicht umgeschlagen in Solidarität durch die unmittelbare Konfrontation mit einer realistisch-aktuellen Umwelt.

Chaplin daraus einen Vorwurf zu machen, wäre falsch. Denn seine gesellschaftlichen Einsichten sind mehr von persönlichen Erfahrungen gefärbt als von objektiven. Am stärksten dürften wohl die Kindheitseindrücke in Lambeth Road gewesen sein, nicht nur, weil das seit Freud so sein müsste. "Lambeth Road ist schon ganz die EASY STREET (P. Gilson). Die gesamte Umgebung seiner bitteren Kindheit wird zum Symbol, zum Mythos und zur Quelle seines künstlerischen Schaffens" (J. P. Sartre). Vielmehr wurden hier die Kehrseiten der kapitalistischen englischen Gesellschaft - Slums, Armut, Hunger, Einsamkeit, nackter Lebenskampf - intensiver erfahren und naiver ins Gedächtnis geritzt als später.

Die Bilder dieser Slums kehren fast traumatisch im späteren Werk des reifen Chaplin - wieder, von EASY STREET und A DOG'S LIFE bis zu THE KID, CITY LIGHTS, MODERN TIMES und sogar THE GREAT DICTATOR. Zweifach beschwört er sie: in den frühen Filmen scharf konturiert, in ihrer ganzen unmenschlichen Erbärmlichkeit (EASY STREET, THE KID). In den mittleren Filmen werden sie dann zu Enklaven der Natürlichkeit (CITY LIGHTS, THE GREAT DICTATOR), des stillen Glücks und Unglücks. Die sentimentale Idylle, die Chaplin in dieser Hinterhofromantik entwickelt, verzichtet nicht auf die Requisiten der Gartenlaube: "einfache Menschen", Grossmütterlein, das in der Bibel blättert, blindes Mädchen, Wellensittich in der ärmlichen, aber sauberen Stube, Blumen vorm Fenster.

Man hat diese Akzentverschiebung als grössere Einsichtnahme in die gesellschaftlichen Verhältnisse gedeutet (Sadoul, Schnoog). Wohl ist das Bild der Gesellschaft in Chaplins mittleren Filmen reicher, farbiger, differenzierter geworden; dass sich Charlies Verhalten dieser konkreten Umwelt gegenüber aber qualitativ verändert hätte, ist nicht einzusehen. Zwar nimmt er sich in CITY LIGHTS des blinden Mädchens an und in MODERN TIMES wandert er am Ende mit der Freundin ins Weite; jedoch das sind nur Metaphern für eine bestimmte Ausweglosigkeit, in die Chaplin geraten ist.

Ab THE KID begann er grössere abendfüllende Filme herzustellen. Er war gezwungen, eine fortlaufende Handlung zu finden, die die einzelnen Szenen in einen zumindest losen, äusserlichen Zusammenhang bringen konnte. Die früheren Kurzfilme zeigen noch deutlich ihre Verwandtschaft mit Sennetts Slapstick Comedies.

Sie gingen jedoch schon bald darüber hinaus, indem sie die immer klarer sich herausbildende Gestalt Charlies zum Mittelpunkt hatten. Dennoch schössen sie nicht in toto zum einheitlichen Bild eines Charakters zusammen. Eben das aber wird Voraussetzung, wenn Chaplin seinen Helden auf einem zeitlich und räumlich ausgedehnteren Lebensfeld darstellen will. Der Groteskfilm Sennetts und des frühen Chaplin hatte episodischen Charakter, bestimmte auf eine kurze Zeitspanne fixierte Situationen, die einem immer turbulenteren und verwickelteren Ende zuliefen und sich dann in einem eclat auflösten. Charlie ist an einem Ort, ihm stösst Verschiedenes zu, er beginnt den Kampf mit Menschen, Milieu und Dingen; am Ende zieht er weiter. Das etwa wäre das Schema der Handlungsstruktur, dem diese Filme folgen. In den späteren abendfüllenden Werken sah er sich vor das Problem gestellt, auf welche Art er seine spezifische Kunst der Situationskomik noch beibehalten könnte. Er versuchte sich in einer Form, die er aber nur einmal - und auch dort nicht - voll entfalten konnte. Die auf kurze Zeitabschnitte beschränkte Situationskomik wird beibehalten. Aus ihrer Vereinzelung soll sie aber der gleichbleibende Charakter Charlies und die Idee, der er folgt, befreien. In CITY LIGHTS etwa ist es der Wunsch, dem blinden Mädchen zu helfen; in GOLDRUSH, die Liebe des Barmädchens Georgia zu erringen. Am besten scheint dieses dramaturgische Prinzip - falls man es bei seiner geringen Entwicklungsmöglichkeit überhaupt so nennen darf - in CITY LIGHTS geglückt zu sein. Sowohl in GOLDRUSH als auch in MODERN TIMES fehlt ein kontinuierlicher ideeller Zusammenhang. In CITY LIGHTS sind die einzelnen Szenen punktuell zusammengehalten und auf das eine Ziel, dem blinden Mädchen zu helfen, fixiert.

Der Mangel dieser Struktur liegt aber schon in der spezifischen Komik, die Chaplin entfaltet. Als eine wortlose ist sie auf Geschehen angewiesen, das in seiner konzentrierten Form sich nicht beliebig auflösen oder aneinanderreihen lässt, ohne an innerer Spannung zu verlieren. Chaplin versucht dieser inneren Auflösung der Komik zu begegnen, indem er sie bewusst unterbricht. Er stellt sentimentale Szenen zwischen dramatische, rührselige zwischen komische. (Etwa, wenn er den Kampf mit dem Diener des Millionärs zeigt und dann die Ankunft Charlies im Hinterhof in CITY LIGHTS.)

Die Handlungsstruktur hat damit etwa die Form eines Mäanders, wobei die dramatisch-komischen Szenen an den jeweiligen Ausbuchtungen sich befinden, die rührselig-melodramatischen in der Mitte der Geraden. Sicher wird der Handlungsverlauf dadurch abwechslungsreicher; er erhält Ruhepausen und dramatische Höhepunkte. Eine wirkliche Steigerung der Komik, der Handlung, findet sich nicht ein. Weil die Szenen zwar durch die Person Charlies - und im günstigsten Fall ideell - zusammengehalten werden, aber nicht von sich aus auf einander verweisen, geschieht es leicht, dass sie sich aus dem Totum des Geschehens lösen und ihre Komik allein bei sich behalten. So haftet ihnen eine gewisse Zufälligkeit und Austauschbarkeit an. Daran zeigt sich allerdings wieder, dass die Welt Chaplins wie die seiner Figur Charlie egozentrisch ist. Alles, was geschieht, ist einzig auf Charlie bezogen; die Komik seiner Erlebnisse lebt unabhängig davon, ob Charlie durch seine Handlungen einem Mädchen helfen will oder ob er sich nur seiner Haut wehrt.

Das humanitäre Pathos, das in Charlies Hilfsbereitschaft für einen Menschen hier, in den mittleren und späten Filmen, recht kolportagehaft durchschlägt, verträgt sich eben schlecht mit dem anarchistischen Temperament des extremen Individualisten. So erscheint die vielzitierte Humanisierung Charlies in zwiespältigem Licht (weitgehend äusserlichdramaturgisch dient sie dazu, Charlies Weg einen Sinn, ein Ziel zu geben und setzt am Ende der anarchistischen Revolte das milde Licht der Nächstenliebe auf). Zugleich nimmt damit auch das melodramatische Element Überhand, wie es in allen seinen Filmen qua Kolportage schon immer latent vorhanden war. Auf die Dauer musste es die anarchistische Substanz Charlies zersetzen, um ihn - in Calvero - endlich ganz der Sentimentalität auszuliefern. Das hat, neben diesen, noch andere Gründe. Je mehr Charlie mit der realen Welt der Gegenwart in Konflikt geriet, desto schwieriger wurde es für Chaplin, die Anarchie in Charlies Charakter künstlerisch zu rechtfertigen. So verinnerlicht sich der Protest immer mehr. Gerade MODERN TIMES zeigt - und das widerspricht allen marxistischen Deutungsversuchungen - wie Charlies Weg weder in die Gesellschaft führt, noch revolutionär sich gegen sie wendet; er kehrt sich von ihr ab, "wandert aus." Deshalb stehen jene Szenen, die dem Film den Namen gaben, am Anfang. Sie formulieren die äusserste Bedrohung, der sich das Individuum Charlie aussetzen kann. Dieser antinomische Konflikt ist nicht harmonisch à la Hollywood zu lösen. Auch der radikalen Antwort - im marxistischen Sinne dem Aufstand des Proletariats, dem Charlie in der Fabrik angehört - verweigert sich Chaplin. Die berühmte Fahnenszene - für Sadoul ein revolutionäres Versatzstück - ist nicht dazu angetan, Charlies (oder Chaplins) politisches Bekenntnis mit einem proletarisch-kommunistischen zu identifizieren; ganz zu schweigen von der Streikbrecherszene, in der sich Charlies antikollektvistische Neigung noch verdichtet. So entzieht sich Charlie dem Konflikt durch Flucht. Und nicht nur er, sondern auch Chaplin. "Ausser seinem Aufenthalt in der Fabrik lebt Charlie in (MODERN TIMES) noch in der Welt der Groteske von 1914" (R. Payne). Gerade aber dieser künstlerische Rückgriff signalisiert die Bedrohung der Welt, die um Charlie aufgewachsen ist. Im Vergleich zu den früheren Filmen, in denen die Metapher der Flucht noch die reale Möglichkeit des darin formulierten Freiheitsdranges aussprach, wird sie hier in den Modern Times zur Resignation und Ausflucht. Je bedrohender die moderne Industriegesellschaft mit ihren Fabriken, Kaufhäusern und Wohnblocks, mit ihrer rationellen Ordnung ihn zu umklammern sucht, desto anachronistischer wird eine Gestalt wie Charlie in ihr. Die mit der Patina romantischer Erinnerung zitierten Hinterhöfe und Elendshütten, die er in MODERN TIMES gegen die Fabrik ausspielt, zeigen überdeutlich, welcher Welt Chaplins einsamer Vagabund angehört. Und wie er am modernen Gegenbild zur Sentimentalität herunterkommt, der im Wonnegefühl der Tränen der klare, ernste und nüchterne Blick auf die neuen Gegebenheiten sich verschleiert.

So steht die letzte Sequenz aus CITY LIGHTS für mehr als nur den unmittelbaren Sinnzusammenhang dieses Films: sie fasst im Bild des rührend-hilflosen Charlie symptomatisch die Wehrlosigkeit seines Todes, die wehmütige Agonie seiner letzten Existenz. Walter Benjamin hat, in anderem Zusammenhang, aber auch hier treffend, geschrieben: "Was wäre Sentimentalität, wenn nicht der erlahmende Flügel des Fühlens, der sich irgendwo niederlässt, weil er nicht mehr weiterkann _..." Charlie flieht; so ist er gerettet, aber auch gerichtet.

III.

Das Überhandnehmen der Sentimentalität im Werk des reifen Chaplin ist offenbar. Der Zynismus in MONSIEUR VERDOUX zeigt nur deren Kehrseite; beides hat den gleichen Ursprung als Reaktion auf den Untergang Charlies, des Reinen, des Einsamen, des Anarchisten: einmal als wehmütige Klage auf Vergangenes, das andere Mal: bitterer Hohn auf jene, die ihn vernichteten. Jedoch die rührenden Gebärden, die stumme Mimik und Gestik des frühen Charlie verleugneten schon damals nie ganz ihren sentimentalen Charakter. Nun gehört aber Sentimentalität, wie sie in Chaplins Filmen erscheint, durchaus zum Bereich der Kolportage, in dem die Gestalt Charlies beheimatet ist. Und dies nicht nur in den frühen Filmen, die wie der Film selbst, ganz aus der Kolportage, dem Jahrmarktrummel, dem Moritatensängermilieu um die Jahrhundertwende kommen.

In seinem thematisch sowie stilistischen Festhalten an der spezifischen Erscheinungsform des frühen Films bekannte sich Chaplin auch dann noch zu dessen Kolportagecharakter, als dieser schon längst versucht hatte, sich von dem vermeintlichen Makel seines Ursprungs zu befreien. Darin kündigte er den zunehmenden Integrationsprozess in die Gesellschaft an, die ihn von ihrer Peripherie, in der er entstand, in ihr Zentrum holte. Sie war gewahr geworden, welches Instrument der ideologischen Intoxikation sich ihr in ihm darbot. Sowohl sich selbst als auch den materiell noch vorhandenen Schichten des Proletariats - den Hauptkonsumenten also - spiegelte sie eine Wirklichkeit vor, die sich weitgehend nach den eigenen falschen Utopien einer harmonisch im Gleichgewicht befindlichen Welt ausrichtete. Dem Film wurde damit grössere Realistik zugeschlagen, damit seine Lüge glaubwürdiger, durch Tatsächliches abgesichert, erscheine; Realistik, die ihm aber durch die verdrehte und verquere Problematik wiederum abgezogen wurde. S. Kracauer hat das in seinen verschiedenen Arbeiten, dieser Zeit entstammend, treffend analysiert.

Es ist bekannt, mit welcher Reserve Chaplin dem Tonfilm gegenüberstand. Nicht nur drückte sich darin seine richtige Erkenntnis aus, dass der Ton im Film, die Sprache der Personen notwendigerweise die stumme Gestik seiner Werke und deren Hauptfigur zerstören müsse. Auch sein Einwand, mit dem Tonfilm habe der Film seine Unschuld verloren, besitzt doppelte Wahrheit. Sicher, die Stummheit des Leinwandgeschehens, die Sprachlosigkeit Charlies waren Zeichen der Naivität, einer gegen den Lärm, das hässliche Geräusch gerichteten "Unschuld der Stille".

Sie trugen wesentlich dazu bei, seine Filme von der empirischen Realität abzuheben, stifteten den Märchencharakter, die spielerische Freiheit der Abstraktion, die uns heute - vielleicht mehr denn je - aus ihnen entgegenleuchtet. Jedoch darf man nicht vergessen, dass diese Konstituentien seiner Filme nicht in dessen künstlerischem Ansich begründet sind, sondern nur das Stadium einer bestimmten technischen Entwicklung widerspiegeln. Sie waren, wenigstens am Anfang, Zwang, nicht auf Minimalia reduzierte ästhetische Mittel.

Die technische Entwicklung - von der Aufnahmetechnik bis hin zur Montage, Ausleuchtung, Ton etc. - löste diese beschränkten medialen Ausdrucksformen natürlich auf (und damit auch ihre spezifischen in ihnen sedimentierten Inhalte, nämlich das, was schon als märchenhafte Kolportage und Naivität bezeichnet wurde).

Indem Chaplin bewusst an dieser frühen Art des Films festhält, protestiert er gegen den allgemeinen Zwang seiner nahtlosen gesellschaftlichen Integration. Er weigert sich, deren ideologische Konterbande zu übernehmen, indem er sich ihrer technischen Entwicklungen bediente.

Inmitten einer fast totalen Defloration der Kunst, will er die Virginität seiner eigenen bewahren.

Dennoch muss Chaplin bemerkt haben, dass das auf Dauer nicht zu verhindern war. Die technische Perfektion der Filmindustrie, die sich geschmeidig den unbewussten Wünschen des Konsumenten anpasste und sie förderte; die neuen Problemstellungen, die eine gewandelte Welt verlangte und denen man auf so geschickte Weise aus dem Wege ging; der Anachronismus seines Stils, seiner Erzählweise, die noch die zwar geschändete, aber dennoch unverwüstliche Würde des Subjektes feierte, während die anderen, "gleich neben dran", in ihren aufwendigen Kostümshows, schon dessen triumphierend vollzogenen Untergang im Dekor verkündeten; das hat Chaplins Filme aus dieser Zeit nicht unberührt gelassen. Was er selbst noch gar nicht in allen Konsequenzen erkannt zu haben scheint, das trieben CITY LIGHTS, MODERN TIMES und THE GREAT DICTATOR aus sich heraus. Ihre Ambiguität und Zerrissenheit, ihr latenter Zerfall in Einzelteile, künden von den Widersprüchen, die sich in ihnen entwickeln.

Je mehr sich Charlie in eine konkrete Gesellschaft begab, von der direkte Beziehungen zur realen möglich waren, desto fragwürdiger wurde seine Existenz. Am Ende gar, in THE GREAT DICTATOR, vernichtet sie ihn. Chaplins politisch soziale Vorstellungen, die in Charlie inkarniert sind, geraten in der Nähe der Ideologie, gegen die er opponiert. Solange er abstrakt gut und böse, arm und reich, schwach und stark einander gegenüberstellte, plädierte er für die Guten, Armen, Schwachen; jedoch, wie gesagt, abstrakt. Jetzt lässt er sich auf konkrete Fälle ein, behält aber seine abstrakte Argumentation bei. In der Essmaschinenszene (MODERN TIMES) klagt er das unmenschliche System der Fliessbandarbeit an. Charlies Antwort ist, wie schon früher, die vollkommene Anarchie. Was ihm aber dabei in dieser realen Umwelt an irrationalem Freiheitsstreben zugeschlagen wird, das zahlt sich auf der anderen Seite in einer Dämonisierung der Maschine aus. Konsequent weicht seine Komik in der Darstellung dieser Opposition dann auch in eine irreale Welt aus, in der der Konflikt gelöst zu sein scheint. Dieser Rückzug vom Objektiven ins Subjektive, vom Realen ins Irreale wird immer mehr dominierender Bestandteil des späten Chaplin. Welche Folgen das im weiteren hat, wird sich in THE GREAT DICTATOR zeigen.

IV.

Ein Moment des chaplinischen Witzes scheint bisher wenig beachtet. Beispielsweise jene schon zitierte Essmaschinenszene aus MODERN TIMES. Warum lacht man, wenn ein Mensch, Charlie, gequält wird? Denn eine Quälerei ist sowohl die Fabrikarbeit als auch die Tyrannei der Essmaschine. Charlies Bewegungen, die ängstlich aufgerissenen Augen, verraten, dass hier einer auf dem Henkerstuhle sitzt, dem er bedingungslos ausgeliefert ist. Im Grunde also eine tragische Situation, in der tiefste Einsamkeit und absolute Hilflosigkeit ineinsgehen. Und dennoch Lachen? Der Zuschauer betrachtet ein Opfer, das sich in Schrecken und Angst windet, und sein Lachen steigert sich, je tiefer Charlie in den Teufelskreis der Maschine gerät.

Wenn etwa in Shakespeares "Twelfth Night" Malvoglio dem grausamen Gespött seiner Feinde ausgesetzt wird, so hat das in seinem vorigen Betragen - seiner moralischen Doppelzüngigkeit und Bösartigkeit - Grund. Charlie aber ist unschuldig, rein. Der Reine wird gequält. Ist die Qual und die Quälerei eines Reinen, Unschuldigen lächerlich? Was ist der Grund dieses Lachens?

In der Szene selbst kann der Witz nicht ganz aufgehen. Erst in der Reaktion eines Publikums, das für ihn prädisponiert ist, kommt er ganz zu sich. Die Distanz, die das Lachen zwischen dem Gegenstand und seiner Darstellung aufreisst, verhindert Identifikation des Lachenden mit dem Lächerlichen. Mit Charlie, dem Reinen identifiziert sich das Publikum nicht. Stände es auf seiner Seite, wie könnte es die Auslieferung seiner selbst an die absurde Maschine lachend geniessen - ausser vielleicht masochistisch? Eine andere Vermutung scheint mir wahrscheinlicher. Polemisch zugespitzt wäre sie etwa so formulierbar: der Zuschauer steht auf Seiten der Maschine. In Charlie wird einer, der noch frei war und rein wie keiner mehr von ihnen, der sich dem Zwang bisher entzog, den sie nur im Ressentiment auf den noch verspüren, der nicht der ihre ist, in ihrer aller Joch gespannt. Charlie ist nicht nur das Opfer der Maschine, sondern gleichermassen das seiner Zuschauer. Unverkennbar schlägt hier ein Zug des Sadistischen durch die dünne Haut purer Komik und trifft ins Zentrum ihrer Rezeption.

Don Quijotes Situation am Herzogshof wäre Charlies etwa vergleichbar. Das Lachen, das sich dort erhob über den weltfremden Narren, demaskierte vorm Leser - dem es vermittelt wird - das Recht der Wahrheit Don Quijotes gegen eine Gesellschaft, die ihre eigenste Substanz verloren hat. In jener Szene aus MODERN TIMES sind es jedoch die Zuschauer, die sich an Charlies Hilflosigkeit, seiner Einsamkeit und Angst delektieren. Dies Lachen schafft nicht der Erkenntnis Bahn, man befinde sich selbst vielleicht täglich in ähnlich oppressiven Situationen.

Die Grausamkeit, die sich hier an Charlie erprobt, geht zwar nicht soweit, dass sie ihn deformiert wie es der Trickfilm Hollywoods mit seinen Kreaturen treibt. Dennoch sind gewisse Identitäten in der Rezeption des Publikums nicht zu übersehen. Eine eingehende Untersuchung über die Beziehungspunkte zwischen diesen beiden Erscheinungen der Komik im Film wäre sicher zu wünschen. Auch die Frage, inwieweit der Zeichentrickfilm als Fortsetzung des frühen Groteskfilms anzusehen ist, wäre von Bedeutung. Chaplins reges Interesse für die "freie Phantastik" des Trickfilms, von dem Eisenstein berichtet, könnte dabei sicher mehr sein als nur ein Fingerzeig.

V.

Die Verbrechen gehen frech auf die Strasse / und spotten laut ihrer Beschreibung.       B. Brecht

Karl Kraus, dieser grösste deutschsprachige Satiriker, bekannte, ihm falle zu Hitler nichts mehr ein. Dass diesem Satz noch "Die dritte Walpurgisnacht" folgte - die allerdings erst in unseren Tagen veröffentlicht wurde - spricht nur für ihn. Denn in die Verwirrung, die der Faschismus in ihm hervorrief, empfahl er Schuschniggs reaktionär-autoritären Ständestaat als Remedur des Faschismus, nicht ahnend, dass der in ihm aufbrechende Ekel schaudernd ein scheinbar kleineres Übel herbeirief, das nur der vorläufige Ausdruck des grösseren war, das es verhindern sollte.

Brecht, der das Schweigen des österreichischen Satirikers in einem seiner schönsten Gedichte - das Zitat am Anfang ist ihm entnommen - rechtfertigte, versuchte den einer Beschreibung spottenden frechen Taten durch ihre Verfremdung zu begegnen. Mit dem "Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui" brach er das Schweigen, das Kraus zuvor als Antwort ausgerufen hatte. Sollte es also doch möglich sein, den Faschismus wenigstens satirisch zu bannen, wenn nicht gar zu vernichten?

Adorno (s. "Dialektik des Engagements" Die Neue Rundschau Nr. 1, 1962) schreibt zum "Arturo Ui": "Die Komödie vom aufhaltsamen Aufstieg des Diktators Arturo Ui rückt das subjektiv Nichtige und Scheinhafte des faschistischen Führers grell und richtig ins Licht. Die Demontage der Führer jedoch, wie durchweg bei Brecht die des Individuums, wird verlängert in die Konstruktion der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, in denen der Diktator agiert. Anstelle der Konspiration hochvermögender Verfügender tritt eine läppische Gangsterorganisation, der Karfioltrust. Das wahre Grauen des Faschismus wird eskamotiert; er wird nicht länger ausgebrütet von der Konzentration gesellschaftlicher Macht, sondern zufälliges Epiphänomen. So verordnet es der agitatorische Zweck; _... die Lächerlichkeit, der Ui überantwortet wird, bricht wider alle Dialektik dem Faschismus die Zähne aus _... Der antiideologische Dichter bereitet die Degradation der eigenen Lehre zur Ideologie vor _..."

Und einige Sätze weiter kommt Adorno zu Einsichten, die sich jetzt auf Chaplins THE GREAT DICTATOR unmittelbar beziehen: "Nicht dass, aus Respekt vor welthistorischer Grösse, das Lachen über den Anstreicher verboten; nicht das Gremium, welches die Machtübernahme inszenierte, keine Bande gewesen wäre. Aber solche Wahlverwandtschaft ist nicht exterritorial, sondern wurzelt in der Sozialität selbst. Daher ist der Spass des Faschismus, den auch Chaplins Film registrierte, unmittelbar zugleich das äusserste Entsetzen. Wird das unterschlagen, wird über die armseligen Ausbeuter von Gemüsehändlern gespottet, wo es um Schlüsselpositionen geht, so verpufft der Angriff. Auch der "Grosse Diktator" verliert die satirische Kraft und frevelt in der Szene, wo ein jüdisches Mädchen SA-Männern der Reihe nach eine Bratpfanne auf den Kopf haut, ohne dass es in Stücke gerissen würde."

Was Adorno hier anspricht, trifft zentral die Fragwürdigkeit von Chaplins Film. Die Läppischkeit der satirischen Mittel, die den Faschismus karikieren sollen, steht in keinem Verhältnis zur Bestialität ihres Gegenstandes. Dieser muss verkleinert werden, damit ihn die fragwürdigen Mittel noch erreichen können, und haben sie ihn absorbiert, so verharmlost ihre Darstellung die Realität, gegen die sie satirisch gewendet zu sein nur vorgibt.

Nun steht diese Bratpfannenszene nicht vereinzelt im Film; es gibt andere, die eine ähnliche Inkongruenz zu ihrem Gegenstand besitzen (die Farbtöpfe, die Charlie den SA-Männern über die Köpfe stülpt, die Marschszenen im KZ, die offensichtlich den preussischen Militarismus karikieren sollen). Die Vermutung liegt nahe, es handele sich hier nicht um einige Fehlgriffe, sondern dies seien überdeutliche Zeichen einer diskursiven Struktur des Films.

Die Einsträngigkeit der Handlung - und damit die Egozentrik Charlies - aus den früheren Filmen, hat Chaplin in THE GREAT DICTATOR dualistisch aufgelöst. Stand Charlie früher allein gegen eine amorphe Umwelt, die sich nur von Fall zu Fall konkretisierte, so setzt mit seinen jüdischen Ghettofreunden gegen die in Hinkel personifizierte Diktatur des Faschismus.

Der Positivität des Glücks im Winkel, dem "Einfachen Leben" - wie es sich in CITY LIGHTS und MODERN TIMES schon ankündigte und in den Genreszenen des Ghettos kulminiert - entspricht die Negativität des totalitären Staates und seiner Machtträger. Das karikierend-satirische Moment des Films ist einzig an diese Negativität fixiert. Hier entfaltet Chaplin seinen ätzenden Hohn auf die Nichtigkeit Hitlers und seiner gemeinen Kreaturen. Da aber seine Kritik eo ipso nur auf die Subjekte gerichtet ist, nicht die objektiven-sozialen Bedingtheiten der "Bewegung" aufdeckt, wird die satirisch-politische Kraft der Komik eingeschränkt. Anders ausgedrückt: Weil die Satire sich nur an den Erscheinungen der faschistischen Personen festhakt, orientiert sich die Positivität, das Gegenbild, das Chaplin dazu entwerfen will, ebenfalls nur an Personen: Charlie und den Einwohnern des Ghettos. Ihr kleinbürgerlicher Wunsch, "in Frieden gelassen zu werden", täuscht darüber hinweg, dass sie schon im Kirchhofsfrieden des Ghettos leben. Unversehens bekommt dieses jene romantische Züge einer stillen Opposition, die schon aus den vorhergehenden Filmen bekannt ist. Dass es per definitionem ein Zwangszustand ist, eine unmenschliche Beschränkung freien Lebens - das sich hier oppressiv verinnerlicht hat -, wird Chaplin nicht gewahr. Er setzt es naiv als (private) Negation der (totalitären) Negativität, wiewohl es doch in Wahrheit zu deren immanenten Ausdruck gehört. Dass unter diesen schiefen Voraussetzungen keine echte dialektische Bewegung zwischen beiden Bereichen sich entfalten kann, die auch die kleinbürgerliche Idylle in ihren satirischen Wirbel zöge, verschärft die Diparatheit beider Ebenen.

Die sporadischen Auseinandersetzungen fallen hinter den Stand der Entwicklung, den Chaplins Komik in seinen vorhergehenden Filmen erreicht hatte, empfindlich zurück. Wie er in MODERN TIMES unvermittelt in der Frühzeit der Filmgroteske zurücksprang, so lebt auch hier wieder Sennetts Slapstick Comedy auf. Pfannen und Farbtöpfe sind ihre gängigen Requisiten, und die Sahnetorte fehlt nur, weil sie selbst in einem so idyllischen Ghetto - das mit dem Warschauer nur den Namen gemein hat - nicht aufzutreiben war, da sie in der Auseinandersetzung der Diktatoren eine wesentliche Rolle spielen wird.

Die Gefahr aller seiner langen Filme, sich in Einzelteile aufzulösen, konnte er auch in THE GREAT DICTATOR nicht bannen. Die Zentripedalkraft seiner Komik zeigt sich besonders deutlich in der Barbierszene nach einem Ungarischen Tanz von Brahms. Sie hat nur für sich Bedeutung, wird zum Kabinettstück Chaplinschen Humors wie der "Brötchentanz" in GOLDRUSH.

Nie hat Chaplin zuvor der Konstitution der Hoffnung seine Kunst so ausgeliefert wie am Ende von THE GREAT DICTATOR. War die frühere Flucht - so zwiespältig sie sein mag - immer noch Form und nicht reine Idee, so hypostasiert er sie in der Rede unmittelbar. Abgesehen davon, dass die Verwechslung Charlies mit dem Diktator die künstlerisch unglücklichste und unwahrscheinlichste Lösung des Films war, offenbart sie doch auch noch mehr. Sie ist das Eingeständnis Chaplins, dass er seiner vorausgegangenen Satire auf Hitler zutiefst misstraute. Man hat versucht - vor allem von marxistischer Seite - diese Rede Chaplins an das Publikum politisch-ethisch zu rechtfertigen, im Glauben, sie dann auch künstlerisch gerettet zu haben. Wenn sie aber Ausdruck der Humanität Chaplins und seines Hasses gegen den Faschismus sein soll - woran nicht zu zweifeln ist -, so besagt dies nicht mehr und nicht weniger, als dass der Film dies nicht geleistet hat. Warum sonst müsste er aus der objektivierten Form des satirischen Kunstwerkes in die Unmittelbarkeit des subjektiven Appells treten, wenn ihn nicht die Vermutung dazu drängte, die frechen Verbrechen spotteten dennoch seiner Beschreibung?

Die Verzweiflung, die aus diesem Appell und den dazwischen geschnittenen Bildern eines utopischen Gelobten Landes spricht, opfert die Kunst dem politischen Engagement, damit wenigstens das Leben und die Hoffnung erhalten bliebe. So schlägt sich im Opfer, das Chaplin mit der Zerstörung seiner Kunst der Zeit bringt, der Reflex nieder, dass dieser Brutalität und Unmenschlichkeit nicht mehr distanziert beizukommen sei. Ungeachtet der subjektiven Schwächen des Autors, hat Chaplins Versagen, dem Faschismus wenigstens in seinem satirischen Konterfei des THE GREAT DICTATOR ein ästhetisch reines Denkmal gesetzt zu haben, unmittelbar noch teil an der Wahrheit über ihn. Jener Wahrheit, die Lessing einmal aussprach: "Wer über bestimmten Dingen den Verstand nicht verliert, hatte keinen zu verlieren."

Denn nicht, obgleich Charlie spricht, sondern weil er sprechen muss, trifft sich am Ende Chaplins Rede mit dem Schweigen des österreichischen Satirikers; und Brechts Worte auf Kraus gelten auch für ihn: "Als der Beredte sich entschuldigte / dass seine Stimme versagte / trat das Schweigen vor den Richterstuhl / nahm das Tuch vom Antlitz und / gab sich zu erkennen als Zeuge."       Wolfram Schütte
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Rebellen in Amerika Zu Filmen des New American Cinema

Der Schauplatz war München - genauer gesagt: jenes verdienstvolle Filmkunststudio im Zentrum Schwabings. Anlass war eine Ausstellung von etwa dreissig Filmen des New American Cinema, die auf Einladung des Deutschen Instituts für Film und Fernsehen nach München gekommen war. (vgl. auch: "Der neue amerikanische Film" in Heft 36 )

Die Auseinandersetzungen waren heftig; Zustimmung und Ablehnung bewegten sich durchweg in hohen Phonbereichen. Als der jegliche Kontinuität zertrümmernde und in seiner optischen Aggressivität bis zur Unerträglichkeit forcierte Trickfilm BLAZES von Robert Breer aus Versehen ein zweites Mal lief, wurde von einer protestierenden Partei das Projektionsfenster zum Vorführraum verstopft; und als der 2 1/4-stündige, bis zur Erschöpfung in sich kreisende Film FLAMING CITY von Dick Higgins gezeigt wurde, erlebten nur ein paar Zuschauer im entvölkerten Saal das Ende der Aufführung: die anderen hatten längst das Weite gesucht.

Bezeichnenderweise nahm die deutsche Filmkritik - wohl wegen der Tragweite eines solchen Ereignisses verschreckt oder aber aus ihrem fossilen Zustand gar nicht mehr aufschreckbar - bisher nahezu keine ernsthafte Notiz von den intensiven, nun schon etwa ein Jahrzehnt sich entwickelnden Bestrebungen der amerikanischen Avantgarde: von denen also, die mit Konsequenz an den Ergebnissen der surrealistischen Experimente weiterarbeiten.

Wieweit man überhaupt von einer Gruppe sprechen kann, ist fraglich. Aber trotz der immensen künstlerischen Differenzen zwischen den einzelnen Persönlichkeiten lassen sich bei einigem guten Willen eine Reihe gemeinsamer Züge herauskristallisieren, wenn auch einem solchen Verfahren volle Legalität versagt bleiben muss. Von einer Gruppe kann spätestens seit dem Herbst 1960 die Rede sein, als sich in New York jener lose Zusammenschluss von 23 Filmschöpfern vollzog, der analog zu ähnlichen Vereinigungen als Geburtsstunde des New American Cinema bezeichnet wird, - auch wenn dieses damals schon auf ein profiliertes Embryonalstadium zurückblicken konnte. Das erste gemeinsame Statement, das publiziert wurde, enthält bezeichnenderweise keine Manifestation eines genau fixierten künstlerischen Programms, sondern beschränkt sich auf eine Kampfansage an Zensur und Filmindustrie und endet mit der radikalen, in kunsttheoretischer Hinsicht aber tendenzlosen Forderung: "Wir wollen keine rosigen Filme - wir wollen sie in der Farbe des Bluts."

Doch wurde im Anschluss an diese Vereinigung, was bisher als Novum dasteht, ein Kooperativ gegründet, das mit prozentual abgeschöpften Gewinnen erfolgreicher Werke finanziell nicht hinreichend gesicherte Projekte einzelner Mitglieder subventioniert. Diese Massnahme ist insoweit besonders wichtig, als die soziale Aussenseiterposition (es wäre nicht richtig, den Begriff Beatnik synonym zu verwenden) der Autoren zur Hoffnungslosigkeit einer kommerziellen Auswertung ihrer Arbeiten beiträgt.

Aus dieser prekären finanziellen Situation resultiert als gemeinsames Kennzeichen die fast totale Reduzierung des Produktionsapparates, die eine weitgehende Liberalisierung vom Zwang des Kapitals und der Produzenten erlaubt. Der abendfüllende Film GUNS OF THE TREES von Jonas Mekas, dem Chefideologen und Herausgeber von "Film Culture", kostete nur den phantastisch anmutenden Preis von 9000 $. Bei den Filmen der "New Yorker Schule" handelt es sich zum grossen Teil um Ein-Mann-Projekte, die eine weitgehende Homogenität des Werkes garantieren. Exemplarisch für diese Arbeitsmethodik ist Brakhage, der seine Filme in eremitenhaften Alleingängen macht.

Ein weiteres, mehr äusseres Kennzeichen dürfte wohl die im Durchschnitt erstaunliche Jugend der Filmschöpfer sein. P. Adams Sitney, Redakteur bei "Film Culture", der die Exposition durch Europa leitet, ist 19 Jahre alt; Gregory Markopoulos begann mit 12 Jahren, Filme zu drehen; und Brakhage, wohl die bedeutendste Erscheinung unter ihnen, hatte, bevor er 20 wurde, mit Hilfe von Geld, das er sich sporadisch als Spezialist für Mikrophotographie verdienen musste, bereits vier oder fünf kürzere Filme gemacht. Sie und ihre Werke deshalb aber als pubertär zu apostrophieren, wäre unzulässig. Mögen auch die äusseren Umstände einen solchen Schluss nahelegen, so widerspricht dem doch das Fehlen eines in solchen Fällen charakteristischen selbstzweckhaften Protests gegen erstarrte Konventionen.

Im Gegenteil: Die meisten der Filme - man muss annehmen, dass sie einigermassen repräsentativ sind - zeichnet eine Sicherheit in der Konzeption aus, die dem Stadium des rein Experimentellen nicht mehr zuzuordnen ist. Es ist aber keineswegs so, dass das Experiment negiert wird. Die Versuche haben beispielsweise auch zu Ergebnissen geführt, die durchaus noch einer genaueren Prüfung bedürfen. Etwa das minutenlange Grau auf der Leinwand als Auftakt des an antike Mythologie anknüpfenden Films TWICE A MAN von Markopoulos, das mehr Irritierung, als eine Steigerung der Erwartung hervorrief; oder der Versuch von Brakhage, sich von der photographischen Rezeption der Objekte freizumachen, um diese selbst in Aktion zu versetzen, indem er durchsichtige Schmetterlingsflügel oder Blütenblätter direkt auf den Filmstreifen klebt und dann auf die Leinwand projiziert.

Was aber die Arbeiten der Gruppe so bedeutungsvoll macht, ist schon längst kein Experiment mehr. Es ist die Tendenz zur Selbstbesinnung des Films auf seine ureigensten Mittel, d. h. die Tendenz, das Fundament einer neuen Filmästhetik zu festigen, die nichts mehr mit Kategorien wie Literatur oder Theater gemein hat. Was da praktiziert wird, ist ein Destillierungsprozess rein filmischer Ausdrucksweisen, der die traditionelle Adaption theatralischer und literarischer Formen als Rückstand ausscheidet. Hier ist auch das blosse Sehen nicht mehr hinreichend; die Filme haben meist tiefere, visionäre Bezüge. Aus diesem visionären Sehen ergeben sich zweierlei:

1. Die Visionen ereignen sich; sie werden nicht literarisch, also durch ein genaues Script forciert, woraus sich die fast spielhaft zu nennende Spontaneität in der Genese einer Reihe der Filme ergibt. Das bekannteste Beispiel dafür ist der zum grössten Teil improvisierte Film SHADOWS von Cassavetes, der aber inzwischen von dem Kreis derer um "Film Culture" abgelehnt wird, weil für die kommerzielle Auswertung verschiedene Szenen nachgedreht wurden. Bei CHUMULUM von Ron Rice ist am auffälligsten das spielhafte Element. Die üppig-schwülstige Farbigkeit des Films bringt durch seine rhythmischen Arabesken und seine Überlagerungen immer neue Varianten einer übersättigten, phantastischen Atmosphäre der Sinnlichkeit hervor. In ihm wird die Sexualität vollends zu einem spielhaften Ausdruck.

2. Das visionäre Sehen erfordert ein neues Verhältnis zur Realität. Das betrifft einerseits den dokumentarischen Charakter jeder Filmaufzeichnung, der aber bewusst durch Kamerabewegungen, Montage oder bestimmte technische Verfahren beim Kopieren so manipuliert wird, dass damit ein anachronistischer Naturalismus überwunden werden kann. Zum anderen betrifft es einen neuen Stil der Darstellung. Auf diesem Gebiet werden bemerkenswerte Anstrengungen unternommen. BLONDE COBRA von und mit Jack Smith ist dabei prinzipiell auf dem Weg dazu, auch wenn der Film einen unartikulierten Eindruck macht. Er war bei allem Erstaunlichen, was gezeigt wurde, wohl der ungewöhnlichste Film der Ausstellung. In gleichsam fragmentarischen Stücken - zwischen sie ist immer wieder minutenlanges Grau auf der Leinwand zu sehen - bietet er ein kondensiertes Pandämonium homosexueller Qualen, die der Protagonist mit exhibitionistischer Übersteigerung demonstriert.

Wie sehr sich ganz gegenständliche Filme der Erzählbarkeit entziehen, zeigt der bereits erwähnte Film GUNS OF THE TREES von Jonas Mekas, der nicht auf einem literarischen, sondern einem rein philosophischen Vorwurf basiert. Fünf junge Leute geraten in eine existenzielle Krise, aus der sich kein Ausweg zeigt. Doch sie rebellieren nicht gegen die Gefährdung durch ihre apokalyptisch anmutende Umgebung - ihnen bleibt nur die Emigration in die Apathie, in die vage Hoffnung, die Ben, ein Versicherungskaufmann und seine farbige Frau Argus auf ihr noch ungeborenes Kind setzen, überhaupt sind die Szenen mit diesen beiden Darstellern von hoher künstlerischer Dichte. Mekas sagt selbst: "Mein Film registriert lediglich die Bereiche der Angst. Es gibt keine Lösungen. Mein Film blinkt nur rote Lichter. GUNS OF THE TREES ist recht eigentlich meine Meditation über Liebe und Tod in einer Stunde höchster Gefahr." In formaler Hinsicht fallen die rhythmisch unruhige Interpunktion durch weisse Zwischenstücke, sowie das mehrmalige Auftreten von zwei Narren auf, die ähnlich dem Chor der antiken Tragödie eine kommentierende Funktion übernehmen.

Am deutlichsten hat Stan Brakhage mit THE DEAD gezeigt, dass ein philosophischer Gedanke nicht im sprachlichen, sondern im rein visuellen Substrat erlebbar ist. In Anlehnung an einen Gedankengang Wittgensteins lässt er den im diesseitigen Leben strukturierten Tod in düsteren, intensiven Bildern sichtbar werden. Dazu schichtet er schwarz-weisse und farbige Bilder, symbolisch für bestimmte Grundformen des Todes, in unruhiger Folge übereinander. Gerade diese Unruhe ist ein auffälliges Symptom der New American Cinema Group.

Interessant ist auch, welch hoher Anteil der Werke sich direkt mit dem Problem des Todes auseinandersetzt. So etwa THANATOPSIS von Ed Emshwiller, ANTICIPATION OF THE NIGHT und SIRIUS REMEMBERED von Stan Brakhage, um nur einige zu nennen, über Brakhage mokierte sich Enno Patalas in "Filmkritik". Es handelt sich bei den von ihm als "Hundefelle" identifizierten Objekten um den Kadaver eines Hundes, der in einem Gestrüpp krepierte. Aus diesem Fund machte Brakhage eine 10 Minuten lange, atemberaubende Studie über Tod und Vergänglichkeit, indem er einen wilden Tanz mit der Kamera um den verwesenden Körper vollführt. Der kosmische Vorgang der Umwandlung von Leben in blosse Materie wird durch die Bewegung zu einem vom Zyklus der Jahreszeiten begleiteten Ereignis von ständiger, höchster Aktualität. Die formale Disziplinlosigkeit erweist sich somit als eine nur scheinbare. In ihr steckt vom ersten Schwenk an hohe artifizielle Perfektion.

Wohl einer der erregendsten Beiträge der Ausstellung war der halbstündige Film SCORPIO RISING von Kenneth Anger, der auch in Knokke und ausser Konkurrenz in einer Nachtvorstellung in Oberhausen lief. (Über das verdienstvolle "Dritte Internationale Experimentalfilm-Festival", das vom 25. 12. 1963 bis 2. 1. 1964 in Knokke veranstaltet wurde, ist bisher in FILMSTUDIO noch nicht berichtet worden. Die dort gezeigten Filme haben erneut darauf aufmerksam gemacht, dass eine ausführliche Analyse des Experimental- und/oder Avantgardefilms notwendig geworden ist. In Form eines Festivalberichts hätte dies naturgemäss nur unvollständig bewältigt werden können, zumal zahlreiche andere - wenn auch weniger bekannt gewordene - Versuche der letzten Jahre mitberücksichtigt werden sollten. Wir werden deshalb in einem der nächsten Hefte einen grösseren Aufsatz zu diesem Thema publizieren, der auch auf die in Deutschland fast völlig unerörtert gebliebenen sog. ,happenings' eingehen wird.) Der Mangel an Courage von Seiten der Festival-Leitung hätte kaum besser dokumentiert werden können, zumal es sich bei dem ausgeschlossenen Film um den mit Abstand besten der Festspiele handelte. Ihm soll hier noch etwas Platz eingeräumt sein. SCORPIO RISING lässt sich äusserlich in etwa vier Abschnitte einteilen, die Kenneth Anger selbst folgendermassen markiert hat (Film Culture 31) "Eine hohe Sicht vom Mythos des American Motorcyklist. Die Maschine als Stammestotem, vom Spielzeug zum Terror. Thanatos in Chrom und schwarzem Leder. Teil I: Zwanzigjährige und Zylinderkolben (männliche Faszination und das Ding, das sich bewegt). - Teil II: Image Verfertiger (aufgeputscht durch die Heroen). - Teil III: Walpurgis Party (Cykler's Sabbath). - Teil IV: Aufrührer (eine Botschaft von Unserem Bürgen). -" Doch handelt es sich bei dem relativ leicht verständlichen Film weder um einen "phänomenologischen Dokumentarbericht", noch hat der Autor "seine individuellen Neigungen kritisch objektiviert", wie Enno Patalas vorschnell und unkritisch mutmasst, denn dazu fehlt dem selbst so intim beteiligten Anger einfach die erforderliche Distanz oder die nötige Ironie. Nicht von ungefähr hatte der Autor Skrupel bei der Veröffentlichung seines Filmes, der er eine an einen Akt der Selbstzerstörung grenzende Konfession beimass.

SCORPIO RISING ist ein Bericht (aber kein Dokumentarbericht) über eine Rotte amerikanischer Motorradfahrer, von deren Ritualen und homosexuellen Exzessen. Er beginnt gleichsam rituell, mit einer unglaublichen Langsamkeit und Präzision, die kaum auszuhalten ist. Mit aufreizender Faszination hält die Kamera an den Motorrädern fest und zeigt dann die Fahrer, die sich der Reihe nach mit einer fast dämonischen Zielbewusstheit erheben und ankleiden. Zu ihrem Ornat gehören lederne Jacken, lederne Stiefel, Nieten und eiserne Ketten anstelle von Gürteln. Dann feiern sie eine homoerotische Orgie, veranstalten ein Rennen und betätigen sich unter SS- und Totenkopfbannern als Neo-Nazisten. Das Ganze begleitet in aufdringlicher Weise Schlagermusik, die allein in ihrer Penetranz jede Aktion der "Heroen" zu motivieren im Stande wäre. Dazu kommen Bilder von James Dean an den Wänden und Supermen in comic stripes, sowie eingeblendete Szenen mit Christus aus "König der Könige" und Marion Brando aus "Der Wilde".

Diese Einblendungen sind weniger als psychologische Motivation für das in solcher Umwelt provozierte Verhalten der Motor Cyklists zu verstehen, noch weniger sind die Aufnahmen mit Christus als Kontrast gedacht. Es sind dies in das Geschehen integrierte Bestandteile, die, wie schon im Titel angedeutet ist, in ihren Bezügen astrologische Aspekte eröffnen. Durch sie erhält der Film eine weitere Dimension: Motorradfahrer, Marion Brando, Hitler und Christus sind Vertreter der im Zeichen des Skorpion Geborenen. Sie vereint - nach Anger - die Nähe zu Untergang und Auferstehung, die charismatische Potenz ihres Auftretens und die messianische Gewalt ihres egozentrisch gesteuerten Aufruhrs, so dass die Parallelität geradezu in totaler Identifikation mündet. Das Resultat dieses Eins-Seins von Hitler, Christus und Marion Brando in der Figur des Motor Cyklist findet sogar noch an den Emblemen des Todes zynischen Gefallen. Das Ergebnis ist ein Film voll wilder, grausamer Schönheit; ein Meisterwerk.

Ein Problem, das sich schon im Ausschluss von SCORPIO RISING aus dem offiziellen Oberhausener Programm gezeigt hatte, ist das Verhältnis der Filmschöpfer zum Publikum. Hier müssen ganz neue Wege gefunden werden, um nicht der Esoterik anheimzufallen. Zwar weisen Ansätze auf bestimmte neue Gattungen im Film, die etwa analog zu den literarische Formen des Briefs und des Tagebuchs sind. Marie Menken hat den 3minütigen Trickfilm DWIGHTIANA ursprünglich nur für eine einzige Person gedreht, für einen kranken Freund nämlich, den sie damit aufheitern wollte. Sie hat auch einen ständig in Ergänzung begriffenen Film, NOTEBOOK, in Arbeit, der wahrscheinlich nur in intimsten Kreis zur Aufführung gelangt. Weil aber kommerzielle Verbreitung durch Verleiher vorerst so gut wie gänzlich ausgeschlossen ist, steht nur noch der Weg des "home-cinema" offen, d. h. man bemüht sich um eine Verbreitung der Filme in 8-mm-Kopien, die im privaten Kreise beliebig oft gespielt werden können. Dass diese Lösung nur ein Provisorium sein kann, darüber ist man sich gewiss klar.

Es bleibt zu hoffen, dass dem New American Cinema das Schicksal der Avantgardisten der zwanziger Jahre erspart bleibt. Doch alle Anzeichen weisen darauf hin, dass eine solche Hoffnung vorerst noch ins Reich der Utopie verwiesen werden muss.       Werner Herzog
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Filmliteratur

FILMLAND INDIEN

Erik Barnouw & S. Krishnaswamy: INDIAN FILM,
New York and London, 1963, 301 Selten; 56 s.

Neben den USA gehören Japan und Indien zu den grössten Filmproduzenten der Welt. Das war bekannt. Trotzdem pflegten auch die umfangreichen Filmgeschichten dem asiatischen Film nur einige Absätze zu widmen. Das Material schien unerreichbar. Dann schrieben Anderson und Richie ihre Monographie über den japanischen Film. Filmland Nummer 3 - Indien - jedoch blieb unerforscht.

Wie notwendig eine Untersuchung des indischen Films geworden war, hatten die Filme eines Satyajit Ray nach ihrer ersten Vorführung im Westen erneut bewiesen. Erik Barnouw und S. Krishnaswamy haben diese Untersuchung nun vorgelegt. Die Geschichte des indischen Films beginnt mit dem Jahre 1896, als die Lumière-Gruppe nicht nur England, Amerika und Russland, sondern auch Indien bereiste. Sechzehn Jahre später - 1912 - entstand dann der erste indische Film: "König Harischandra". Dadasaheb Phalke zeichnete für ihn verantwortlich. Er wird heute zu den wichtigsten Pionieren des indischen Films gezählt. Mit ihm begann der Kampf gegen das vorwiegend ausländische Filmangebot jener Jahre. Den grundlegenden Wandel brachte aber erst die Aufbereitung der indischen Mythologie für die Leinwand. Als dann der Tonfilm auch in Indien seinen Einzug hielt, entstanden neue Probleme: es musste in bis zu vierzehn Sprachen produziert werden, wenn man nicht von vorne herein auf einen bestimmten Teil des indischen Markts verzichten wollte. Dieser Umstellung fiel der Gigant jener Zeit, die Madan Theatres Ltd., zum Opfer. Mit dem Ton kamen auch die ausgedehnten Tanz- und Musikeinlagen, die sich bis in die fünfziger Jahre als unerlässlicher Bestandteil eines jeden indischen Films erweisen sollten. Stars und Musik: kein Produzent wagte auf sie zu verzichten. Von hier aus wird die Bedeutung Satyajit Rays für den indischen Film klar. Er arbeitete mit Laien; seine Vorbilder waren die Regisseure des italienischen Neorealismus. Das Kapitel über Ray gehört zu den besten des Buches und liefert wichtige Informationen zum Schaffen dieses ausserordentlichen Regisseurs.

"Indian Film" handelt nicht nur von Filmen und Regisseuren; es ist den Verfassern besonders zu danken, auch von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen des indischen Films berichtet zu haben.       J.J.

Ein Neubeginn?

Jerzy Kawalerowicz: Mutter Johanna von den Engeln / Nachtzug - Filmtexte - Mit Nachwort und Anmerkungen von Theodor Kotulla - Sonderreihe "dtv" - 160 Seiten - DM 2,50.

Im Gegensatz zu Jerzy Kawalerowicz ist Theodor Kotulla kein Unbekannter; er ist Mitarbeiter der Münchner "Kulturzeitschrift" FILMKRITIK, hat ein beachtliches Nachwort zu dem im Marion-von-Schröder-Verlag erschienenen Text von Luis Buñuels VIRIDIANA geschrieben und ist dabei, zwei Bände mit Texten bekannter (und unbekannter) Regisseure zu versammeln (mutmasslich Piper-Verlag). Ausserdem hat er zusammen mit Klaus Roehler einen Fernsehfilm DER 18. GEBURTSTAG gemacht. Soviel zum Herausgeber. Der Autor der von Kotulla publizierten Filmtexte, der polnische Regisseur Jerzy Kawalerowicz, ist dagegen fast gänzlich unbekannt in der Bundesrepublik. Ausser dem NACHTZUG kennt die Öffentlichkeit keinen seiner Filme. Weder DAS WAHRE ENDE DES GROSSEN KRIEGES, noch CELLULOSE, noch SCHATTEN und immer noch nicht MUTTER JOHANNA VON DEN ENGELN. Dass es - besonders im letzten Fall - dabei bleibt, dafür wird der INTERMINISTERIELLE AUSSCHUSS schon sorgen; denn der Münchner CONSTANTIN-Filmverleih, der diesen Film bereits synchronisiert hatte, wurde aus Bonn (oder auch aus Frankfurt, das weiss man nie genau) abschlägig beschieden. So ist der Film schliesslich wieder dahin zurückgekehrt, wo er entstanden ist: nach Polen.

Um so verdienstvoller ist es, dass es der DEUTSCHE TASCHENBUCH VERLAG in München unternommen hat, der filmkunstentwöhnten bundesrepublikanischen Lesegemeinde wenigstens, gleichsam als schadenersatzmässiges Surrogat, den FILMTEXT dieses bedeutenden Films zu präsentieren. Dass es dann doch fast mehr als ein blosses Surrogat (wie es sicherlich bei neun Zehntel der "Cinemathek"-Texte der Fall ist) geworden ist, das liegt nicht zuletzt an der Editionspraxis des Herausgebers Kotulla, der mit aller nur erdenklichen Mühe kommentiert, erläutert und belegt hat. Jede Einstellung der beiden Filme trägt eine Nummer, ist mit der Meterzahl versehen und wird im Anhang mit den Veränderungsbemerkungen versehen, die durch die Dreharbeiten notwendig geworden sind. Es sind eigentlich schon fast zwei Drehbücher daraus geworden, zumal auch die Einstellungsart und eine Transskription des Einstellungswinkels hinzugekommen sind. Der Übersetzer hat sich gewissenhaft an das Original gehalten (was auf Grund einer Interlinearversion geprüft werden konnte) und hat nicht freischaffend verändert, wie derjenige von DAS MESSER IM WASSER, dessen Text die "einzige repräsentative" Filmzeitschrift, FILM, unlängst publizierte.

Auch zur literarischen Vorlage wird im Nachwort etwas gesagt, woher der polnische Schriftsteller Jaroslaw Iwaskiewicz sein Material bezog und wie es Kawalerowicz transponiert hat, damit ein so dichtes und ästhetisch an Dreyer erinnerndes Filmgewebe daraus hat entstehen können. Man mag der Interpretation Kotullas nicht zustimmen, dennoch ist in ihr der Versuch angelegt, die bundesrepublikanischen Zensoren als das hinzustellen, was, laut Heinrich Heine, alle deutschen Zensoren sein sollen: - Dummköpfe.

Wer den Film zufällig hat sehen können, dem wird, während sich die Sätze des Dialogs und die präzisen Anmerkungen zu einem inneren Bildstreifen formieren und fügen, erst richtig bewusst, wo er hierzulande wirklich lebt: in einer Provinz, wo man sich von angemassten Filmspezialisten vorschreiben lassen muss, was man sehen darf und was nicht.

Es wäre an der Zeit, die heimlichen Zensoren zum Teufel zu jagen.

Zurück bleibt der Eindruck, eine aufs Beste gelungene Edition eines Filmtextes gelesen zu haben, die alles bisher auf diesem Gebiet Erreichte in den Schatten stellt. Der Gerechtigkeit halber sei angefügt, dass eine solche Publikation überhaupt nur bei Filmen aus den Ländern Polen und UdSSR möglich ist, weil nämlich dort zwingend ein alles umfassendes Drehbuch vorgeschrieben ist, das in einer limitierten Auflage gedruckt oder hektographiert wird. Das beweist nicht zuletzt die Veröffentlichung von IWANS KINDHEIT in FILM 5.       Peter H. Schröder

Standardwerk

KINO - A History of the Russian and Soviet Film by Jay Leyda - Ruskin Hause George Allen and Unwin LTD., London, Museum Street, 1960, Preis: Sh. 45/.-

Jay Leyda ist Eisensteinforscher und genauer Kenner der kinematographischen Geschichte der heutigen Sowjetunion; ausführlich werden die verschiedenen Einflussnahmen auf den zaristischen Film durch französische, deutsche und englische Finanziers geschildert, werden politische Dokumente zitiert und kommentiert. Die Filmgeschichte geht chronologisch vor, was sich wieder als Vorteil herausstellt, die einzelnen Kapitel sind jeweils mit einem allgemeinen Titel versehen (Moscow-Odessa-Paris, The Youth of an Art, Peace-Bread-Land, Semi-War etc.), so dass das inhaltliche Leitmotiv gegeben ist. Die Arbeit mit KINO ist einfach, die Quellen, die in selten reichlicher Form in sechs Teilen präsentiert werden, bringen genaueste Angaben zu jedem Kapitel und eine Auswahlliste mit Filmen aus "Fifty Years of Russian and Soviet Films 1918-1958".       phs
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Dr. Seltsam Oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben (s.a. )

DR. STRANGELOVE, or: HOW I LEARNED TO STOP WORRYING AND LOVE THE BOMB; USA 1963; Regie: Stanley Kubrick; Drehbuch: Stanley Kubrick, Terry Southern, Peter George; Kamera: Gilbert Taylor; Darsteller: Peter Seilers, George C. Scott, Sterling Hayden, Slim Pickens.

Man hätte natürlich einen "ernsthaften" Thesenfilm drehen können über die materiellen und psychologischen Voraussetzungen eines Krieges; man hätte die Immoralität jener, denen die A-, H- oder Neutronenbombe die unwiderlegbare ultima ratio ihrer Politik ist, geisseln können; man hätte das gefährlich reaktionäre Bewusstsein der potentiellen heissen Krieger analysieren können; Schweitzer gegen Teller; Adenauer gegen Russell; Hahn gegen Strauss. Ganz davon abgesehen, dass ein solcher Film unter den gegebenen Produktionsverhältnissen nicht gedreht werden könnte, bleibt es angenehm, weiter von ihm zu träumen.

Man wird Stanley Kubrick vorwerfen, dass er diesen Film nicht realisiert hat, sondern eine Satire: 1. über die Bombe reisse man keine Witze; 2. ein grosses Thema sei verspielt worden; 3. der Film, von denen, gegen die er sich wendet, als leichtfertiger Spass rezipiert, verfehle seine Wirkung. Hier in Deutschland werden die Einwände gegen die Titelfigur noch dazu kommen, gegen jenen verkrüppelten Wissenschaftler deutscher Herkunft, dem der Film letzlich alle Schuld zuschustern will. (Es wäre durchaus kein Wunder, wenn der Verleih an diesem Strangelove herumschnippeln würde, um sein Publikum nicht unnötig zu verschrecken!)

In Dr. SELTSAM wird nicht geblödelt, es sei denn an Stellen, die es erlauben, an denen die Bitterkeit des Dargestellten sich in der Burleske entladen muss: dem sturen Exekutivoffizier, der die Übermittlung des Rückrufcodes mit formalrechtlichen Einwänden zu verhindern sucht ("ein Coca-Cola-Automat ist Privateigentum"), gebührte ein noch dickerer Strahl dieser kapitalistischen Sosse ins Gesicht. Und der Ringkampf des Generalstabchefs Turgidson mit dem heimlich fotografierenden Sowjetbotschafter unterstreicht auf saloppe Weise den offiziellen Bierernst des amerikanischen Präsidenten ("Sie können im Kriegsraum doch nicht kämpfen").

Kubricks Film geht von der Existenz einer Weltuntergangmaschine aus, einer Maschine, deren Mechanik, einmal in Gang gesetzt, sich durch menschliche Beeinflussung nicht mehr aufhalten lässt. Sie ist die letzte Konsequenz der programmierten Autodestruktion, deren Urheber in den politischen, militärischen und technischen Stäben in aller Welt sitzen; einer Politik, die die Vernichtung des Gegners mit der eigenen bezahlt. Kubrick konstatiert diese Tatsache im nüchternen Kommentarstil jener, denen der "Ernst der Lage" zwar über die Lippen doch nicht in den Kopf dringt.

Schuldig an dieser Lage sind alle Personen, die der Film vorstellt. General Jack D. Ripper (eine etwas plumpe Anspielung auf seinen kriminellen Vorgänger) bedient sich des Systems, um die Vereinigten Staaten zur atomaren Vernichtung der ihm verhassten Kommunisten zu treiben. Sein Adjutant, der englische Luftwaffenoffizier Mandrake (auch Mandrake scheint eine Anspielung zu sein auf den gleichnamigen Comic-Helden), schreckt zwar vor dem Gebrauch der Bombe zurück, stellt sie aber nie in Zweifel. Major Kong (wiederum eine wenig subtile Verweisung) glaubt zwar nicht recht an die Echtheit des Marschbefehls, agiert aber dann automatisch, kritiklos wie seine gesamte Mannschaft. Der amerikanische Präsident versucht in letzter Minute den Eklat zu verhindern, hat aber die politisch-militärische Notwendigkeit des Systems vorher unterschrieben. General Turgidson ("wegen eines Versagers kann man doch nicht das ganze System anzweifeln") sieht wie Ripper eine Chance, die "commies" endlich auszuradieren. Dr. Strangelove gewinnt der Situation die Selbstbefriedigung des zynischen, verkrüppelten Intellektuellen ab.

Alle Figuren haben ihren aktuellen Hintergrund. Ripper setzt die fragwürdig elitären Ideen der Birch-Society in die "befreiende" Tat um. Ähnliche Wahnideen über die "Fluoridation" des Wassers haben in amerikanischen Kleinstädten tatsächlich zu modernem Hexenwahn geführt, der im Andersdenkenden den Brunnenvergifter von heute sieht. Religiöses Sektierertum geht bei Ripper Hand in Hand mit der Verteufelung der Frau, der er seine "Körpersäfte" vorenthält, und die den Grund seines anomalen Verhaltens darstellt (seine Ideen hatte er zum erstenmal bei einem Geschlechtsakt). Auch die sprichtwörtlich pervertierte Kinderliebe des Amerikaners konkretisiert sich in ihm, wenn er seinen Adjutanten mit der Bemerkung zu überzeugen sucht, die Kommunisten vergifteten das Speiseeis der lieben Kleinen.

Typischer für die Generalität amerikanischen Schlages ist Turgidson. Sexualprotz und Massenkonsument von Kaugummi, ist er eine Mischung aus hinterwäldlerischer Schläue und Kompromissbereitschaft, leidenschaftlichem Antikommunismus und pathetischem Gottvertrauen, das ihn seinem Betthasen angesichts der militärischen Lage zum frommen Nachtgebet raten lässt. Mit Scott fand Kubrick wohl den geeignetsten Darsteller seines ganzen Ensembles: Sprache, Gestik und Mimik ergeben eine faszinierende Karikatur des sentimentalen, bornierten, in seinen Bahnen aber präzise denkenden Offiziers, dem MoraJ allenfalls in ihrer kodifizierten Form des Strafgesetzbuches bekannt ist. Nur undeutlich wird ihm in wenigen Augenblicken die tatsächliche Tragweite des Geschehens bewusst, wenn er inmitten einer begeisternden Lobrede auf seine "Boys" plötzlich abbricht, oder wenn die Euphorie seines Gebets, vertraulich dem lieben Gott auf die Schulter klopfend, durch die Nachricht von der nicht abzuwendenden Gefahr wieder der dumpfen Ratlosigkeit Platz macht.

Haben Ripper und Turgidson noch einen gewissen Handlungsspielraum, so ist dieser bei den subalternen Militärs aufgehoben. Major Kong und seine Besatzung reagieren wie die Pawlow'schen Hunde. Mechanisch werden die Bordgeräte überprüft und das Bombenziel angesteuert. Reflektionen über eventuelles überleben werden ersetzt durch die Kontrolle der "eisernen Reserve" (Bibel, Nylons, Rubel, Präservative) und das phrasenhafte Versprechen auf Orden für jedermann ohne Rücksicht auf Rasse und Dienstgrad. Dass das vorgesehene Angriffsziel durch ein anderes ersetzt wird, erweist sich ebenso als vorprogrammiert in diesen menschlichen "Computors" wie die Betätigung des Autodestruktionsknopfes im Notfalle. In Major Kong findet der amerikanische Normalmensch seine weitestgehende Karikatur (ausser in den letzten Filmen von Jerry Lewis). Wenn Kong mit lautem "Yippee" und wildem Schwenken seines Cowboyhuts auf der H-Bombe dem feindlichen Raketenstützpunkt entgegensegelt, so evoziert das nicht das Bild eines transatlantischen Münchhausen, sondern die Vernichtung des fast zum Mythos gewordenen Amerikaners, dessen missionarisches Selbstverständnis noch seinem eigenen Untergang entgegenjubelt. "When Johnny Comes Marching Home Again", eines der Kriegslieder der Südstaatler, der Hillbilly-Akzent des Flugkapitäns, das triumphierende "Hi There" auf der Bombe weisen die Richtung der Kubrickschen Attacke: das reaktionäre Bewusstsein, das in Dallas ein vorläufiges Ventil fand.

Obwohl Präsident Muffley und Mandrake die einzigen positiven Züge aufweisen, sind auch sie nicht von der Kritik ausgenommen. Muffley, mit Zügen von Truman und Adlai Stevenson ausgestattet, beweist trotz aller geschwätzigen Sachlichkeit und biederem Liberalismus, dass eine Politik, die auf der Existenz von Atomwaffen basiert, trotz guten Willens und "heisser Drähte" nicht zu retten ist; auch britische Kompromissbereitschaft, die es beim formalen Protest gegen den Wahnsinn belässt, kann in diesem Fall kaum als Positivum gewertet werden.

Sind alle diese Personen noch in ihrem Verhalten realistisch und verständlich, so fällt die Titelfigur aus diesem Rahmen. Dr. Strangelove ist Kubricks ureigene Erfindung: in der literarischen Vorlage - "Red Alert" von Peter George - kommt sie nicht vor. Strangelove taucht erst im letzten Drittel des Films auf, als die Katastrophe bereits abgewendet erscheint. Dass er ehemaliger deutscher Wissenschaftler und Faschist ist, erklärt sich genügend aus der Tatsache, dass für die Angloamerikaner der Hitlerfaschismus mehr noch als die Japaner das bisher grösste Übel in der Weltgeschichte ist. Fragwürdig ist vielmehr die Allegorie des Bösen schlechthin, die Kubrick hier aufstellt (als Turgidson in seinem improvisierten Gebet für die Rettung vor dem "Todesengel" dankt, gerät Strangelove auffällig ins Bild). Das Böse, komponiert aus Zynismus, Immoralität, höchster Intelligenz und körperlicher Unvollkommenheit, erinnert fatal an die Dämonengestalten der deutschen Filmgeschichte; die Faszination, der vom amerikanischen Präsidenten bis zum sowjetischen Botschafter alle im "war room" Anwesenden erliegen, die verkrüppelte Hand, die sich zum Hitlergruss streckt und anschliessend den eigenen Herrn zu würgen versucht, die Stimme, die bei Worten wie "slaughted" oder bei der Propagierung spätfaschistischer Eliteideen in unzweideutige Erregung gerät, lassen einen Übermenschen entstehen, dessen Existenz seine scheinbaren Opfer entlastet.

Der - bis auf Strangelove - glücklichen Konzeption der Personen, entspricht eine wohldosierte Dramaturgie, die eiskalt auf drei Spielebenen in Szene gesetzt wurde. Handlungsplätze sind das Camp Rippers, das von einer Marineeinheit gewaltsam geöffnet werden muss. Dieses kurze Gefecht inszenierte Kubrick im Stil der Wochenschauen aus tiefliegender Perspektive und mit aufgeregten Kamerabewegungen. Dagegen geschnitten werden Szenen im "war room" und im Flugzeug des Major Kong. Auftakt des Films bildet das Auftanken von H-Bombenträgern in der Luft, eine euphorische Montage, mit Sweetmusik untermalt, die im Schluss des Films ihr Pendant findet: Atombombenexplosionen werden ineinander montiert. Dazu singt ein Chor: We 'll meet again, don't know where, don't know when.

Kubricks Film lebt von der Diskrepanz zwischen der technischen und militärischen Idylle und der selbstzerstörerischen Logik, die ihr innewohnt. Die "doomsday-machine" ist nur das letzte Glied in einer Kette, deren erstes der Faustkeil war.

DR. SELTSAM wird in seiner deutschen Synchronfassung unweigerlich verlieren. Zu eng mit angloamerikanischer Mentalität verbunden, wird er dem deutschen Publikum zu abstrakt erscheinen. Die zahlreichen Anspielungen werden in der sprachlichen Wüste der Eindeutscher auf der Strecke bleiben. Die Spitze kann dieser Satire dadurch jedoch nicht genommen werden: eher als durch Stanley Kramers meloapokalyptischen Film DAS LETZTE UFER wird dem Publikum das Fazit der heutigen Militärpolitik gezogen. Dass ein Amerikaner das unternehmen würde, hatte man nicht mehr erwartet.       Hanns Fischer
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Ladybug, Ladybug (s.a. Heft 45)

USA 1963; Schwarz/Weiss; Produktion und Regie: Frank Perry; Buch: Eleanor Perry; Kamera: Leonard Hirschfield; Schnitt: Armond Lebowitz; Darsteller: Jane Connell (Mrs. Maxton), William Daniels (Mr. Calkins), Doug Chapin (Gary), Miles Chapin (Joel), Bozo Dell (Peter).

Amerika hat uns bisher einen seiner Cinéasten vorenthalten, der weder aus dem kommerziellen Studiobetrieb der grossen Verleihtrusts noch aus der Schule des Off-Hollywood-Films hervorgegangen ist. Frank Perry, der aus dem Actors Studio kommt, ist mit einem einzigen Film, DAVID AND LISA, bekannt geworden, den er völlig unabhängig - ohne finanzielle Stütze eines Vertriebsapparates - produziert hat und für den er in New York ein Kino mieten musste, um ihn herausbringen zu können. Wenn nicht alle Vorzeichen täuschen, wird DAVID AND LISA noch in diesem Jahr in der Bundesrepublik gezeigt werden. Perrys zweitem Film LADYBUG, LADYBUG wird ähnliches vorläufig nicht widerfahren, denn wie die "Filmkritik" in ihrer letzten Ausgabe (Fk 4'64-218) zu berichten wusste, hat der Film bei seiner Uraufführung in New York nicht gerade ein positives Echo bei der Presse erfahren. Frank Perry will ihn zurückziehen, und es ist durchaus möglich, dass LADYBUG, LADYBUG irgendwo ein Archivdasein fristen und eines Tages in die lange Reihe der "lost films" eingehen wird. Vielleicht resultiert der New Yorker Verriss aus dem Umstand, dass Kubricks spektakuläre und vergagte Atombombensatire vom DR. STRANGELOVE die Gemüter der Rezensenten vergiftet hat, und diese einem unaufdringlichen und für amerikanische Begriffe "kleinen Film" nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt haben. Es besteht dennoch durchaus Grund zur Annahme, dass sich die verwaschene These vom Propheten, der nichts im eigenen Lande gilt, bestätigen wird, wenn es Perry gelingen sollte, ohne Hilfe der "Motion Picture Export Association" seinen Film auf ein europäisches Festival zu bringen.

LADYBUG, LADYBUG bezieht sich auf ein Kinderlied ("Ladybug, Ladybug / Fly away home / Your house is on fire / Your children will burn"), das dem deutschen "Maikäfer flieg" entspricht. Es dient als dramaturgisches Grundschema für eine Fabel, die in drei Segmente zerfällt: In einer amerikanischen Landgrundschule leuchtet auf der Alarmanlage das gelbe Warnlicht auf, das von einem akustisch durchdringenden Summergeräusch begleitet wird. Das Warnzeichen besagt, dass innerhalb der nächsten Stunde ein atomarer Angriff erfolgen wird. Die erste Reaktion des Schulleiters ist Skepsis. Ein Anruf bei der High School informiert ihn, dass auch dort das gleiche Warnzeichen durchgegeben wird. Als ein Gespräch mit der Civil Defense Office sich nicht durchführen lässt, weil die Leitung ständig besetzt ist, bleibt dem Leiter keine andere Wahl, als die amtlichen Vorschriften für den Fall nuklearer Bedrohung auszuführen und die Kinder nach Hause zu schicken. Zwar wurden die Massnahmen für den Notfall von den Kindern bereits mehrere Male vorher geübt, doch kam es niemals dazu, dass sie das Schulgelände faktisch verlassen haben. Die Schüler werden in Gruppen aufgeteilt, die jeweils von einem Lehrer auf ihrem Heimweg begleitet werden.

Perry konzentriert sich auf eine einzige Gruppe, die - geführt von Mrs. Andrews (Nancy Marchand) - zunächst eine endlose Landstrasse entlangzieht. Die Lehrerin weiss als einzige, dass es sich bei dem Marsch nicht um eine der routinemässigen Übungen handelt; ihr Wissen um die bevorstehende tödliche Gefahr äussert sich in einer abweisenden und isolierten Position zu den Kindern, die sich über ihr eigenartiges Verhalten den Kopf zerbrechen. Die älteren Schüler der Gruppe fragen sich bereits, ob es sich wirklich um eine Übung handelt. Eine tote Eichkatze am Rande der Strasse lenkt die Gespräche der Kinder auf die mögliche Vernichtung der Menschheit durch die Bombe. Bei ihren Eltern aufgeschnappte Theorien werden in die Diskussion geworfen. Inzwischen hat der Leiter der Schule erfahren, dass der Alarm falsch war und auf einen technischen Defekt in der Leitung zurückzuführen ist. Seine Versuche, die Eltern seiner Schüler telephonisch zu erreichen, um das Vorgefallene zu erklären und die Massnahmen abzublasen, sind in den meisten Fällen erfolgreich.

Ausgenommen bleibt eine Anzahl von Kindern aus Mrs. Andrews Gruppe, die sich um ihre Mitschülerin Harriet geschart haben, deren Eltern einen Atomschutzbunker besitzen. In der Annahme, dass in kurzer Zeit eine Bombe fallen muss, hat sich die Gruppe in dem Keller verbarrikadiert und meditiert über die Ausmasse der bevorstehenden Explosion. Was bei LADYBUG, LADYBUG im Gegensatz zu Kubricks DR. STRANGELOVE besticht, ist nicht so sehr die Tatsache, dass Frank Perry sich für seinen Film einen Vorfall ausgewählt hat, der sich tatsächlich in den Vereinigten Staaten ereignet haben soll, sondern vielmehr der Kunstkniff, den er appliziert, um dem Betrachter eine distanzierte Sicht zu dem Geschehen auf der Leinwand zu ermöglichen. Denn dieser wird schon relativ kurz nach Beginn des Films davon unterrichtet, dass ein atomarer Angriff überhaupt nicht erfolgen wird. Der Regisseur vermag hierdurch die analytische Untersuchung des Verhaltens der Kinder zu akzentuieren, um gleichzeitig eine Demonstration zu zelebrieren, die wie ein Lehrstück ohne erhobenen Zeigefinger anmutet, weil sie die möglichen Auswirkungen einer nuklearen Vernichtung klar überschaubar macht und folgerichtig kritisches Denken evoziert.

Die Darsteller von LADYBUG, LADYBUG sind hierzulande ausnahmslos unbekannt, drei von ihnen haben bereits am Broadway agiert, alle restlichen Rollen sind mit Laienschauspielern besetzt. Es dürfte offenkundig sein, warum Perry keinen Starfilm machen wollte, obwohl er sicherlich Gelegenheit dazu gehabt hätte, denn seine Produktion wurde unter der Ägide einer der grossen Hollywoodfirmen realisiert. Stars hätten in jedem Falle seinen Intentionen widersprochen, die sich aus seiner Ausbildung am Actors Studio ableiten lassen, und - wenn auch nur in geringem Masse - dazu geführt, dass sie zu einer Identifikation des Zuschauers mit einer betreffenden Rolle hätten beitragen können.

Frank Perrys Film erweckt den Anschein, als sei sein Regisseur allzu sehr von dem Gedanken besessen gewesen, einen Tatsachenbericht auf 90 Minuten Filmlänge zu bringen. Das wird vor allem in dem breit ausgesponnenen Mittelteil deutlich, in dem die Kinder mit ihrer pädagogischen Begleiterin die Strasse abschreiten. Taucht von Zeit zu Zeit ein Haus auf, so löst sich ein Schüler aus der kleinen Kolonne und begibt sich auf den Weg zu seinen Eltern. Zwangsläufig ergeben sich hier Wiederholungen, die man leicht hätte vermeiden können. Andererseits beweist Perry bei diesem Marsch der Schüler grosses inszenatorisches Talent, wenn er beispielsweise die nun auch von der tödlichen Bedrohung wissende Gruppe fassungslos auf die sich rechts und links der Strasse entlangziehenden Felder blicken lässt, auf denen die Farmer ihrer täglichen Arbeit nachgehen, als hätte sich nichts ereignet, was den Fortgang des Lebens beeinflussen könnte. Besonders eindrucksstark sind Perry jene Sequenzen gelungen, in denen die Kinder ihren Eltern klar zu machen versuchen, warum man sie aus der Schule nach Hause geschickt hat. Das Mädchen Jo-Ann stösst bei seiner Mutter auf völliges Unverständnis und wird zur Strafe auf sein Zimmer verbannt, wo es sich in panischer Angst unter sein Bett verkriecht, um zu warten. Die Mutter von Don und Trudi flüchtet mit ihren beiden Kindern in den Keller des Hauses, den sie mit hölzernen Fensterläden hermetisch verschliesst, und betet. Ein kleiner Junge findet zu Hause seine alte Grossmutter vor, die er, ein neues Spiel vorgebend, bewegen kann, mit ihm an einen sicheren Ort zu kommen. Als die alte Frau erzählt, was sie morgen einkochen wird, wird dem Jungen zum ersten Mal tief bewusst, dass es sehr wahrscheinlich ein "morgen" nicht mehr geben wird. Das "morgen", die Frage, wie es aussehen wird, spielt auch eine wichtige Rolle in dem Atomschutzbunker von Harriets Eltern, in dem sich die Kinder darüber unterhalten, welche Berufe sie ergreifen wollen. Der älteste Junge bei der debattierenden Versammlung, Steve (Christopher Howard), kann die scheinbare Unbekümmertheit seiner Schulkameraden nicht ertragen, die zudem noch einem Mädchen den Zutritt zu dem schützenden Bunker verwehrt haben, und läuft davon. Er gelangt zu einer Müllhalde, wo er plötzlich hoch über sich das Motorengeräusch eines Düsenjägers vernimmt. In der Annahme, dies sei das Flugzeug mit der tödlichen Bombe an Bord, wirft er sich zu Boden und gräbt von unbeschreiblicher Angst erfüllt mit seinen Händen ein Loch in den Boden, um sich zu schützen. Der Düsenjäger kommt immer näher und näher, bis er sich direkt über dem Jungen befindet, der seine Hände verzweifelt über seinen Kopf hält und mit schreckverzerrtem Gesicht schreit: "Stop! _... Stop! _... Stop! _..." Die Kamera fährt auf sein Gesicht zu und die Einstellung arretiert.

LADYBUG, LADYBUG ist ein Film gegen die Bombe, ein Film gegen den Krieg. Das sollte Grund genug sein, dass sich ein Verleih seiner annimmt, selbst dann, wenn seine kommerziellen Chancen nicht gerade die besten sein sollten.       Klaus Hellwig
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Die Spur des Falken

THE MALTESE FALCON; USA 1941; Regie: John Huston; Drehbuch: John Huston; Produktion: Warner; Verleih: neue filmform heiner braun; Darsteller: Humphrey Bogart, Mary Astor, Sidney Greenstreet, Peter Lorre.

Der Film THE MALTESE FALCON wurde 1941 in den Vereinigten Staaten nach dem etwa 10 Jahre früher erschienenen Kriminalroman von Dashiell Hammett gedreht. Hammett hatte mit diesem Roman seinen literarischen Ruhm begründet. Die Verfilmung wurde entscheidend für die internationalen Karrieren des Regisseurs John Huston und des Hauptdarstellers Humphrey Bogart.

Hammetts Roman fand bei uns eine günstigere Aufnahme als der Film, der unmittelbar nach dem Kriege unter dem Titel "Die Spur des Falken" in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln in den Kinos gezeigt wurde. (Gregor-Patalas geben in ihrer "Geschichte des Films" den deutschen Titel mit "Im Zeichen des Falken" und als Entstehungsjahr zur Auswahl 1941 [auf Seite 315] und 1942 [auf Seite 409] an.) Ein besseres Echo erhofft sich der Verleih Heiner Braun jetzt von der neuen, synchronisierten deutschen Fassung, die er soeben in sein Programm aufgenommen hat. Auf dem Höhepunkt einer an den Verlags-, Film- und Fernsehprogrammen gleicherweise abzulesenden "Krimi "-Konjunktur - deren Auswirkungen selbst an der Schlagerbörse notiert wurden - scheint in der Tat die Hoffnung nicht übertrieben, der anspruchsvollere Teil des Publikums werde den "Malteser Falken" den primitiven Abenteuern der Edgar-Wallace-Adaptionen oder der Tim-Frazer-Serie vorziehen.

Worin aber besteht der besondere Rang des "Malteser Falken"? Ihn bestimmt zunächst der Roman. Dashiell Hammett, geboren am 27. 5. 1894 in Maryland, gestorben am 10. 1. 1961 in New York, hat dem Kriminalroman eine neue literarische Dimension erobert. Aus der Welt der wohlanständigen Bürgerlichkeit, die vor allem den angelsächsischen Kriminalroman kennzeichnet, hat Hammett den Detektiv in den Dschungel der modernen Industriegesellschaft und des verbissenen Existenzkampfes geführt; Chandler und andere - bis zu Mickey Spillane - sind ihm darin gefolgt. Ihre amerikanischen Detektive sind keine vollendeten Gentlemen mehr wie Dorothy Sayers' Lord Peter Wimsey oder Agatha Christies Hercule Poirot. Ihre Manieren sind rüde, ihre Sprache schnoddrig, ihre Anzüge zerknittert, ihr Geschmack vulgär. Während Lord Peter sich von seinem Butler erlesenen Portwein servieren lässt, begeht bei Chandler ein Detektiv den unverzeihlichen Fehler, einen Armagnac für einen Cognac zu halten Aber Hammetts Sam Spade, der Held des "Malteser Falken" oder Chandlers Philipp Marlowe - den in Howard Hawks' Film THE BIG SLEEP, 1947, ebenfalls Humphrey Bogart verkörperte - demonstrieren dem staunenden Publikum auch keine geistreichen Denkspiele mehr, mit denen sie unter den Weekend-Gästen eines gepflegten Landsitzes den Täter ermitteln. Sie finden, nach einem Wort Chandlers, die Leichen da, wo wirklich Verbrechen verübt werden.

Der Unterschied, der hier deutlich wird, ist der zwischen Oxford und Pinkerton, zwischen dem exclusiven englischen College, in dem Dorothy Sayers promoviert hatte und vor dessen Kulisse einer ihrer besten Kriminalromane spielt und der berüchtigten amerikanischen Detektiv-Agentur, für die Hammett jahrelang gearbeitet hatte, bevor er seine Romane schrieb. In ihnen ist kein Platz für reiche Snobs, die sich Kriminalistik als excellenten Spleen leisten. Hammett beschrieb Männer, die um einen Job kämpfen, die ihren Whisky mit den Dollarspesen ihrer Klienten bezahlen und vor dem Entzug ihrer Lizenz zittern; die, um eine Information zu erlangen, selbst Frauen schlagen und, weil sie eine Information verweigern, von einem Polizeibullen "fertig" gemacht werden. Sie sind keine Helfer der Polizei mehr wie die "klassischen" Privatdetektive. Sie kämpfen gegen die Polizei genau so wie gegen die Gangster, und die Polizei bekämpft sie fast mit den Methoden der Gangster. Der Glaube an den gerechten Staat ist bei Hammetts Detektiven längst zerbrochen. Sie verkörpern das Amerika der späten Zwanziger und frühen Dreissiger Jahre, in denen die Bürger mit ihrem Geld auch das Vertrauen in den Staat verloren, in denen die staatlichen Institutionen ihre Korruptheit enthüllten und die Erkenntnis freigaben, dass Freiheit und Ordnung nicht nur durch Verbrecher, sondern auch durch die Allmacht des Staates gefährdet werden. In dieser Welt ist der Detektiv, wie Sam Spade im "Malteser Falken", zu einem einsamen Partisan geworden.

Genau dem entspricht John Hustons Film, bei dem es sich wohl günstig ausgewirkt hat, dass das geistige Klima seiner Entstehungszeit - unmittelbar vor dem Kriegseintritt Amerikas - von einer ähnlichen oder ähnlich empfundenen Brüchigkeit der bürgerlichen Sekurität bestimmt wurde.

Spade (Humphrey Bogart) empfängt in seinem New Yorker Büro eine neue Klientin (Mary Astor), die ihn, angeblich aus Besorgnis um ihre Schwester, auf einen unbekannten Mann ansetzt. Spades Partner übernimmt die Beschattung und wird, ebenso wie der Beschattete, in der nächsten Nacht erschossen. Da Spade mit der Frau seines Partners ein Verhältnis gehabt hat, gilt er der Polizei nun als verdächtig. Er kann sich dagegen nur wehren, indem er den oder die wahren Täter und ihre Motive findet. Aber bei dieser Suche gerät Spade mit seiner Klientin immer tiefer in die Fänge einer gefährlichen Gruppe um einen schwergewichtigen Geschäftsmann (Sidney Greenstreet), der ihm wechselweise seinen exzentrischen Komplicen (Peter Lorre in einer glänzenden Kabinettrolle) oder seinen zum Glück etwas mickerigen Killer auf den Hals schickt. Es geht, so erfährt Spade schliesslich, um eine geheimnisvolle Statue, den "Malteser Falken", für deren Entdeckung ihm 10 000 Dollar, ein Vermögen, angeboten werden. Spade gewinnt die Statue und das Spiel, aber der gerade gewonnene Reichtum zerfällt ihm unter den Händen. Die Statue hat alle genarrt. Es war nur eine billige Imitation. Spade muss das Geld, bis auf tausend Dollar, zurückgeben - und nun erst entdeckt er der Polizei die Schuld des Trios - und die seiner Klientin, die die Gier nach der Statue ebenfalls zum Mord getrieben hat. Vergeblich appelliert die Frau an die Liebe Spades. Sie hätte, erläutert er ihr, nur dann eine Chane gehabt, wenn die Statue und damit der Reichtum echt gewesen wären. So aber muss er sie anzeigen, weil sie ihn sonst in der Hand hätte und weil es eine schlechte Reklame für ein Detektivbüro sei, Mörder entkommen zu lassen. Während das sich hinter der Verhafteten schliessende Schutzgitter des Fahrstuhls ihr späteres Schicksal symbolisiert, fragt der Inspektor Spade nach der Bedeutung der Statue. Das, sagt Spade, ist der Stoff, aus dem Träume gemacht werden. Aber der Inspektor versteht ihn nicht.

Huston kommt mit wenigen Schauplätzen aus: Hotelhallen und Hotelappartments, deren Luxus sinnfällig von der Schäbigkeit der Spadeschen Wohnung oder seines Büros sich abhebt, ein paar nächtliche Strassen- und Hafenszenen. Den unterschiedlichen sozialen Status präzisieren die Details. Spades Gegner rauchen schwere Zigarren oder teure Zigarettensorten, er selber dreht sich seine Zigaretten. Spades Reaktionen sind zynisch. Nach der Ermordung seines Partners denkt er vor allem daran, dass das Firmenschild geändert werden muss. Ein breites, hässliches Lachen ertönt, wenn er einen Gesprächspartner düpiert hat und sich auf der Strasse des Erfolges glaubt.

Spade ist kein Schläger und kein Pistolenheld. Er versteht zwar sein Handwerk, aber er tappt auch in die Fallen seiner Gegner. Er ist weder allwissend noch allmächtig. Nicht nur von den Gentlemen à la Sayers oder Christie trennt ihn eine Welt, er begreift sich auch nicht als Handelnder in der ewigen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse wie die Helden in den quasi theologischen Kriminalromanen Chestertons, Graham Greenes oder Dürrenmatts. Oder, um auf dem Gebiet des Films zu bleiben, er weiss nichts von der "crime doesn't pay" - Botschaft, die noch die raffiniertesten Reisser Hitchcocks enthalten. Er ist weder ein Moralist noch ein Intellektueller, und dennoch ist Sam Spade eine eminent literarische Figur.

Denn natürlich ist auch der Privatdetektiv Hammetts ein Erzeugnis der schriftstellerischen Phantasie. Der Wirklichkeit entspräche allenfalls eine nüchterne Reportage über die Arbeit der Kriminalpolizei. Die künstliche Nachwelt, in die Huston den Zuschauer führt, ist wahr nur im literarischen Sinne: ihre Konstruktion erlaubt die erregende Schilderung eines Versuchs der Selbstbehauptung des Menschen in einer ihm feindlich und böse gesonnenen, in einer absurden Welt.       Walther Schmieding
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Die Vögel

THE BIRDS; Regie: Alfred Hitchcock; Verleih: Universal; Farbe; Drehbuch: Evan Hunter nach einer Erzählung von Daphne du Maurier; Kamera: Robert Burks; Bauten: George Milo; Spezlaleffekte: Larry Hampton und Ub Iwerks; Montage: George Tomasini; Darsteller: Tippi Hedren, Rod Taylor, Jessica Tandy, Suzanne Pieshette, Veronica Cartwright u. a.

"Alfred Hitchcock ist augenblicklich der einzige Cinéast auf der Welt, der am besten weiss, was er will und wie er es erreichen kann", stellt François Truffaut seinem Interview mit dem von ihm verehrten Regisseur voran, und Truffauts Kritikerkollege bei den Cahiers du Cinéma, André S. Labarthe, sieht den Beweis von Hitchcocks Grösse "in der Vielzahl der Interpretationen _... , die um jeden seiner Filme wuchern". Nach Hitchcock selbst heisst es heute: früher gab es nichts zu interpretieren. Erst in DIE VÖGEL habe ich einen "ernsthaften" Gedanken unterlegt.

Bedenkt man, dass mit "birds" im amerikanischen Militärslang Raketen gemeint sind, so liegt die Überlegung nahe, es könne sich bei DIE VÖGEL um die symbolische Darstellung der atomaren Bedrohung der Menschen handeln. Allein dieser Gedanke ist zu verwerfen: den Krieg und alle damit zusammenhängenden Probleme hat Hitchcock bisher immer realistisch inszeniert. Es gäbe keinen Grund für ihn, heute von dieser Art der Darstellung abzugehen. Die im Film selbst vorgebrachten Erklärungen sind ebenfalls nicht diskutabel: ein Betrunkener mutmasst ein Strafgericht Gottes; eine verängstigte Mutter verdächtigt Melanie als Hexe; eine alte Amateurornithologin konstatiert ein "natürliches", schnell vergehendes Verhalten der Vogelwelt. Diese Thesen werden bei Hitchcock durch die Karikatur derer, die sie vorbringen, der Lächerlichkeit preisgegeben, um beim Zuschauer den völlig irrationalen Charakter des Geschehens noch zu unterstreichen.

So verwehrt er auch seinen Protagonisten jeglichen Einfluss auf das Verhalten der Tiere und entbindet sie damit der Verantwortung für das Geschehen. Aus diesem Grunde werden auch leicht zu bewerkstelligende Rettungsmassnahmen etwa der Polizei oder des Militärs niemals ernsthaft in Erwägung gezogen. Die Gesellschaft, die so der Verpflichtung und der Möglichkeiten sich zu schützen enthoben ist, spielt in diesem Film nur eine untergeordnete Rolle. Sie wird ersetzt durch eine Gruppe von Individuen, um deren interne Beziehungen es eigentlich nur geht: Melanie Daniels (Tippi Hedren), blond einherstaksend (diese Schauspielerin ist vollkommen unbegabt), entstammt einer reichen Verlegerfamilie. In Dialogen tauchen biographische Fragmente auf: eine "schwere" Jugend, Pubertätskonflikte, konstanter "ennui", ein Anflug von "dolce vita" mit Nacktbad im Brunnen, Snobcharakter. Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Mitch Brenner (Rod Taylor), dem jungenhaften Akademiker, bezeichnet dieser ihr Leben als "goldenen Käfig". Jedoch der Käfig erweist sich als Raubvogelhort, in dem traumatische Erynnien wütend attackieren und tapfer ertragen werden wollen (daher das Auslassen eines Happy-Ends ohne Vögel).

Die fragwürdige Beweisführung der These: Reiche haben Komplexe wie du und ich, gilt auch für die in idyllischer Umgebung dahinlebende Familie Brenner, eine exzellente Ansammlung amerikanischer Archetypen: die possessive Mutter, eine Mischung aus Alterscharme und Autorität; der ganz auf die Mutter fixierte Mitch, der sich erst per aspera von ihr lösen kann; und seine kleine Schwester, von der kindhaften Herzigkeit amerikanischer Pre-Teenager, die den fetischisierten Besitz (die beiden Ziervögel) durch alle Gefahren rettet.

Zu diesen Personen kontrastiert die ein wenig exotisch anmutende Lehrerin Annie Heyworth (Suzanne Pleshette). Schon ihre Wohnung unterscheidet sich von der gehobenen Biederkeit des Brennerschen Hauses: Bücher, gepflegte Drucke und allerlei Kunstgewerbe machen das klischeehafte Dekor aus. Ihre "unamerikanische" Schwäche (sie kämpft nicht einmal um den Mann, den sie immer noch liebt) macht sie zur suspekten Aussenseiterin, zur Verdammten, deren einzige positive Filmfunktion ist, sich anstelle von Mitchs Schwester von den Vögeln zerfleischen zu lassen. Die Gegenüberstellung Melanie - Annie zeigt die Hitchcocksche Ideologie in ihrer ganzen Fatalität, die der amerikanischen Traumfabrik kongruent ist: die Bestätigung fragwürdiger Leitbilder, die sich immer wieder aus den Schichten des gehobenen amerikanischen Bürgertums rekrutieren. Die technisch-inszenatorische Seite des Films kann ebenfalls keine Begeisterung hervorrufen. Die psychologischen Beziehungen der Protagonisten bleiben oberflächlich. Eine bereits konzipierte Liebesszene wurde ausgelassen. Einziges Band bleiben die Schauereffekte, deren Entstehung im Trickstudio leicht durchschaut werden kann. Die Fertigungsmethode - "Er liebt den Film. Bild für Bild" (François Truffaut), das ausgeklügelte Arrangement im Bild: alles zielt darauf hin, die Spannung zu raffen und mehr oder minder plötzlich in den reinen Schock zu überführen. Beispiele dafür: die Tankstellenszene, die Sammlung der Krähen und ihr Angriff auf die Schulklasse, die Geburtstagsparty der Kinder im Freien. In den beiden letztgenannten Szenen montiert Hitchcock über den Ton: die lustigen Kinderschreie annoncieren bereits den Angriff der Möven, während das Laufgeräusch der flüchtenden Kinder direkt in das Flügelrauschen der Krähen übergeführt wird.

Der makabre Effekt, der gerade von der Bedrohung von Kindern ausgeht, ist dem Regisseur wohl vertraut. So liess er in dem 1936 gedrehten SABOTAGE einen Jungen ein Zeitzünderpaket tragen, das jeden Augenblick explodieren kann. In THE MAN WHO KNEW TOO MUCH wird die Bedrohung des Kindes zum zentralen Thema. In DIE VÖGEL steigert Hitchcock den "thrill" des Betrachters noch über physische Defekte (das Mädchen, das auf der Flucht seine Brille verliert). Diesem Kindereffekt entspricht die Bedrohung der Blondinen. "In Hollywood werden Filme für Frauen gemacht", bemerkte André Bazin in einem Aufsatz über Hitchcock. Ingrid Bergman in NOTORIOUS, Grace Kelly in REAR WINDOW, Doris Day in THE MAN WHO KNEW TOO MUCH, Kim Novak in VERTIGO: sie alle ermöglichten die Sublimierung unbewusster Furchtvorstellungen der amerikanischen Frau.

Der Schrecken war in den bisherigen Filmen Hitchcocks .in eine reale, logische Handlung nahtlos integriert, war begreiflich und entsprang zumeist hypertrophierten oder pervertierten psychischen Eigenschaften: Neugier in REAR WINDOW, Muttergefühle in THE MAN WHO KNEW TOO MUCH, Oedipuskomplexe in PSYCHO, alles dem Zuschauer vertraute Phänomene. In DIE VÖGEL konkretisieren sich diese Erscheinungen in den Tieren und wenden sich unabweisbar gegen den Menschen selbst. Der Mensch wird zum Objekt, dem Unerklärlichen ausgeliefert und unfähig sich zu wehren. Das offenbart die tiefgehende Misanthropie Hitchcocks in nuce, der in diesem Film dem Zuschauer seine Perspektive aufdrängt. Seine Perspektive ist die der Möven, die sich über der Stadt sammeln und den nutzlosen Schutzmassnahmen der Bewohner von Bodega Bay zusehen, um einen Augenblick später ihren vernichtenden Terror auszubreiten. Die diesem Genre ohnehin schon immanente Inhumanität wird hier auf die Spitze getrieben. Aus diesem Grunde ist es mir unverständlich, wie Kritiker wie Enno Patalas, der sich als links begreift, den Film zu loben vermögen. In der Ablehnung Hollywoods als Klischeeanstalt und im gleichzeitigen Lob für Alfred Hitchcock, der Hollywood at it 's best repräsentiert, liegt keine Methode, es sei denn die des Arrangements.       Friedrich Heintze
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Die Kunst geliebt zu werden

JAK BYC KOCHANA; Schwarz/Weiss; Polen 1963; Regie: Wojcieck I. Has; Drehbuch: Kazimierz Brandys; Kamera: Stefan Matyjaskiewicz; Musik: Lucjan M. Kaszycki; Darsteller: Barbara Kraftowna (Felicja), Zbigniew Cybulski (Wiktor), Artur Mlodnicki (Tomasz), W. Glinski (Reisender); Produktion: Kollektiv der Filmschaffenden "Kamera", Studio für Spielfilme Wroclaw.

1963 wird von den meisten polnischen Filmkritikern als das Jahr der Regisseure Has, Kutz und Rezowicz apostrophiert. Von Wojciech J. Has gab es allein zwei Premieren, mit dem schon vor geraumer Zeit beendeten Streifen ZLOTO (Gold) und mit der Verfilmung einer Erzählung von Kazimierz Brandys "Jak byc kochana" (Die Kunst geliebt zu werden). Während der in Polen stürmisch diskutierte Film GOLD im Ausland nicht sonderlich beachtet wurde, fand DIE KUNST GELIEBT ZU WERDEN (Polnischer Festivalfilm in Cannes) eine erstaunliche Resonanz. Man wurde auf das Gesamtoeuvre Has' aufmerksam und versah es mit einer Reihe sehr schmeichelhafter Attribute. Das Bild dieses Regisseurs schien sich vor allem durch seine Vorliebe für die psychologische Dramaturgie, durch den literarischen Trend seiner Filme und durch die Durchdringung der einzelnen Zeitebenen zu bestimmen. Vergessen wurde dabei meist die geistige Einordnung der filmischen Welten des Wojciech Has, die Bestimmung des Standortes seiner Figuren. Denn auch hier waltet durchaus Geschlossenheit und Kontinuität. "Seine Welt existiert an der Grenze von Wirklichkeit und Vorstellung, ein wenig zwischen den Zeiten schwebend" (Konrad Eberhardt). Schon in PETLA (Die Schlinge) wäre es schwierig gewesen, den "Helden" und sein Milieu sozial konkret zu definieren. Andererseits verhinderte die naturalistische Färbung Parabelassoziationen. Die Eigentümlichkeit der Hasschen Welt war dort am relevantesten, wo historisch und geistig anachronistische Schichten und Milieus Gegenstand der Analyse waren (so in POZEGNANIA - Abschiede - und in WSPOLNJ POKAJ - Das gemeinsame Zimmer). "Die Welt der alten Häuser" fand hier ihre künstlerische Legitimation. Has' Interpretation und Inszenierungsstil bewies sich immer dort als untauglich, wo er mit andersgearteten Realitätsbereichen zusammenstiess.

Die Begegnung Has' mit der Wirklichkeit des Bauplatzes des energetischen Kombinats in Turoszow (ZLOTO) ist so in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Es wird die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der beim Bau des Elektrizitätswerkes arbeitet. Gold ist die symbolische Verkörperung dessen, was er sucht: das Lebensgefühl, den Sinn seiner Tätigkeit. Obwohl erkennbar ist, dass die "intellektuellen und moralischen Probleme der Erbauer von Turoszow in nichts weniger subtil, delikat oder einfacher sind als die Fragen, mit denen sich Schriftsteller und Vertreter der intellektuellen Kreise befassen _..." (K. T. Toeplitz), blieb das Resultat zwiespältig. Has eruierte vorrangig die alten Winkel von Turoszow und suggerierte ein kafkaeskes Milieu ("Es gefällt mir, die Welt in ihren ungewohnten Aspekten darzustellen, über die der erste Blick hinwegschweift"). Die aktuelle Fabel verschwand förmlich unter diesen bizarren Details, erhielt merkwürdig unwirkliche Züge.

In DIE KUNST GELIEBT ZU WERDEN geht Has von einem ihm bekannten Lebensbereich aus, der Region der Schauspieler, Künstler, der intellektuellen Boheme (Has verweist häufig auf seine Bindung zu der Krakauer Künstlergesellschaft der Vorkriegs- und Nachkriegsjahre). An ihr demonstriert er die Bewältigung der Vergangenheit.

Filicja, eine bekannte polnische Rundfunksprecherin, denkt auf dem Flug nach Paris über ihre Vergangenheit nach. Zu Beginn des Krieges, sie war eine gerade debütierende kleine Schauspielerin, erschoss ihr berühmter Partner Wiktor einen Kollaborateur. Sie versteckte Wiktor in ihrer Wohnung, trat sogar im Besatzertheater auf, um sich und ihn vor Nachforschungen zu schützen. Fünf Jahre lang klammert sie sich an ihn, fünf Jahre lang quält er sich an ihrer Seite. Bei Kriegsende verlässt er fast panisch die Wohnung seiner "Gefängniswärterin". Als künstlerisches und moralisches Wrack holt ihn Filicja nach Jahren zurück. Das Ganze scheint von neuem zu beginnen. Doch diesmal flieht Wiktor in den Tod.

Diese Story wäre gleichfalls denkbar für eine Kolportage mit reisserischen oder sentimentalen Effekten. Je nachdem. Has verwendet seinerseits auf die Fabel nicht sonderliche Sorgfalt. Er zitiert ab und an einige Handlungsfragmente,, um mit ihnen die Verhaltensweisen seiner Helden zu sezieren und seine bekannten psychologischen Landschaften aufzubauen. Die Beschwörung einer Atmosphäre ist auch hier primär. Erneut schliesst Has seine Figuren in eng begrenzte Lebensbereiche ein, mauert sie in düstere Zimmer und enge Gassen. Filicjas Zimmer, in welchem sie Wiktor versteckt hält, gleicht der Klause eines Kerkerwärters. Metaphern der Hoffnungslosigkeit und der Einsamkeit. Das Flugzeug als Stätte der Erinnerung ist nur die Fortsetzung des unseligen Zimmers.

Wieder fällt die Künstlichkeit von Has' Charakteren auf, ihre Funktion als blosse Stimmungsträger, als Marionetten in einem pessimistischen Spiel um die Kontaktarmut. Dass dabei Krieg und Nachkrieg bemüht werden, um bestimmte Akzente zu setzen, ist keineswegs vorrangig. Anders als etwa in Konwickis "Allerseelen" ist der Krieg ein austauschbares Trauma. Er steht als Synonym für einen lastenden psychologischen Schock, der die Gegenwart beschwert, als Chiffre für einen fatalistischen Mythos.

Die Frage nach Sinn bzw. Nutzlosigkeit der eigenen Vergangenheit beantwortet Has mit den Erfahrungen Felicjas. Das Opfer, das Filicja für Wiktor aufbrachte, erwies sich als sinnlos. Sie konnte ihn nicht retten (Wiktor: "Es hat sich nicht gelohnt _... die Jahre, in denen du mich verborgen hieltest. Ich hätte hingehen und mich ruhig erschiessen lassen sollen"). Felicja gesteht an anderer Stelle: "Man hat mich besiegt."

Redet Has also der Sinnlosigkeit des Opfers das Wort? Seine Interpretation: "Sie hatte Grund, es zu tun, es war vernünftig, dass sie ihre menschliche Pflicht erfüllt hat" (vgl. Cinema 63, Nr. 79), weist wohl diese Unterstellung zurück, erklärt jedoch kaum die Fragwürdigkeit der Haltung seiner Hauptheldin. Has kultiviert sie zum Stoizismus, zu müder Melancholie, getränkt von diversen Kognaks ("Lieblichkeit der Erinnerung, wer hat sich diesen Schwindel ausgedacht" oder "Man muss nicht zuviel über den Sinn seines Lebens nachgrübeln - besser vorgeben, es sei logisch. Auf Rechnung der Welt die vorgeschriebenen Gebärden machen _..."). Müde tut Felicja diese vorgeschriebenen Gebärden - ein Lebensmechanismus voll Künstlichkeit. Das Beschwören der Vergangenheit bringt keine Befreiung davon. Im Gegenteil. Es erzeugt auf recht fatale Weise das Gefühl des Geworfenseins, nur in Andeutungen gemildert durch das Hemingwaysche Ethos des "Der Mensch darf nicht aufgeben. Er kann zerstört werden, aber er darf nicht aufgeben". Vielleicht noch mehr als in seinen voraufgegangenen Filmen erweist sich in DIE KUNST GELIEBT ZU WERDEN die Beschränktheit der psychologischen Analyse Hasscher Provenienz. Sie baut nicht auf echten Fundamenten auf. Die Künstlichkeit ist latent, die Konstruktion, um eine These zu beweisen, ist zu sehr spürbar. Ausdruck dessen ist auch, dass Has der individuellen Psychologie zu wenig gesellschaftliche Transparenz gibt. Auf diesem Weg scheint das Werk von Wojciech Has kaum noch eine Abwechslung zu bieten. DIE KUNST GELIEBT ZU WERDEN machte dies schmerzhaft deutlich. Sein neuestes Filmvorhaben REKOPIS ZNALEZIONY B SARAGOSSIE (nach einem Roman "Die Handschrift von Saragossa" von Jan Potocki) scheint eine gewisse Selbsterkenntnis wiederzuspiegeln.       Wieslaw Kuzminski
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