Anfang
Dies sind die Übersichtsseiten über die vorhandenen Dateien.
Vorwort       Filmdaten bis 1920       Filmdaten ab 1920       Filmdaten noch nicht hier       Nicht-Filmdaten

Quellen zur Filmgeschichte ab 1920

Texte der Hefte des studentischen Filmclubs der Uni Frankfurt/Main: Filmstudio

Einführungsseite

Filmstudio Heft 19, November-Februar 1956/57

Inhalt
Pro domo
Ein kollegialer Gruss
Besuch bei "Sauerländer" -
Wissen Sie, was ein Trailer ist ?
Drole de drame (Ein sonderbarer Fall)
Symphonie eines Lebens
And Then There Were None (Das letzte Wochenende)
Ostatni etap (Die letzte Etappe)
Till glädje (An die Freude)
Le sang d' un poète (Das Blut eines Dichters)
Nicht mehr fliehen
We Are No Angels (Wir sind keine Engel)
Le défroqué (Der Abtrünnige)
Souvenirs perdus
Rémontons les Champs Elysées (Strasse der Liebe)
Casque d' or (Goldhelm)
Le jour se lève (Der Tag bricht an)
Il cappotto (Der Mantel)
Clochemerle (Die liebestolle Stadt)


Pro domo


Im Dezember des Jahres 1951 begann das Film-Studio mit seinen Filmvorführungen an der Universität. Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Filmwissenschaftliche Arbeit, eigene Filmproduktion und die Beschäftigung mit den verschiedensten Filmtechniken kam zu den Filmveranstaltungen hinzu. Allmählich wurde das Film-Studio zu einem Treffpunkt der Frankfurter filminteressierten Kreise. Gerade jetzt, bei dieser Wendemarke der fünf Jahre, die schon manchem Film-Club zum Verhängnis wurde, stehen wir vor einer Erweiterung unserer Arbeit. Diese Absicht tritt auch in der etwas grosszügiger gestalteten Anlage unseres Programmheftes hervor.       Die Redaktion


Ein kollegialer Gruss

Als vor fünf Jahren den vielfältigen Interessen- und Arbeitsgemeinschaften das FILM-STUDIO sich als Neugründung zugesellte, ahnte man noch nicht, dass sich dieser Arbeitskreis als eine der wichtigsten Einrichtungen ausserhalb des Universitätslehrbetriebes etablieren konnte. Wir sind der Meinung, dass sich wesentliche Teile des Universitätslebens ausserhalb der Hörsäle in von Studenten initiierten Kreisen abspielen müssen, die das Fachstudium zu einem sinnvollen Ganzen komplementieren und in denen schöpferische Kraft angeregt und Eigenverantwortung, die für die Formung des jungen Menschen von ausserordentlicher Bedeutung ist, übernommen werden kann.
In diesem Sinne ist es für den DISKUS als studentische Institution mit gleichen Bestrebungen und Zielen eine erfreuliche Gelegenheit, dem FILM-STUDIO an der Johann Wolfgang Goethe-Universität zum fünfjährigen, ebenso krisenfesten wie notwendigen Bestehen gratulieren zu können.
Aber noch ein anderer Grund erscheint uns wert, hier einmal angeführt zu werden. Durch das Bestehen des FILM-STUDIOS mit seinem Filmfreundekreis ist es möglich gewesen, die Frankfurter Studentenschaft durch stetige Vorführung von sozialkritischen und anderen Filmen erster Qualität, die gemeinhin in kommerziellen Kinotheatern nicht oder selten zu sehen sind, an die Fragen der menschlichen Gesellschaft heranzuführen und Diskussionen darüber auszulösen. Dieser Erfolg scheint uns als Publizisten, die um die Schwierigkeiten und Trägheit dieses Prozesses wissen, von so grosser Bedeutung, dass wir schon aus diesem Grunde das FILM-STUDIO zu weiteren Experimenten ermuntern und ihm noch viele weitere Jahre produktiven Fortbestehens wünschen dürfen.
DISKUS
Frankfurter Studentenzeitung
gez.: Werner Schaffernicht
Chefredakteur

Zurück zum Anfang


Besuch bei "Sauerländer" - und ein paar Gedanken darüber

Auf den ersten Blick erscheint es wohl verwunderlich, um einen Besuch bei Herrn "Sauerlaender" soviel Aufhebens zu machen. Nun, es ist nicht ganz unberechtigt. Denn "Sauerlaender" ist für bestimmte Kreise in der Bundesrepublik so etwas wie ein Begriff, mit dem sich ganz genaue Vorstellungen verbinden. In diesem Falle die Vorstellung von alten Filmen. Sucht irgendein Filmclub oder Filmkunsttheater einen Film aus der "grossen Zeit" des deutschen Stummfilms, so heisst es sogleich: Sauerlaender wird sicher was haben. Dieses "was" umfasst nahezu 120 vollständige Filme, nicht gerechnet die in die Tausend gehenden Bruchstücke und Akte einzelner Filme. Von vielen Filmen besitzt das "Private Filmarchiv Paul Sauerlaender, Frankfurt" die einzige noch greifbare Kopie in Europa. In allen Winkeln und Ecken seiner Wohnung in der Rhönstrasse stapeln sich die Filmspulen.

Die oft aus den merkwürdigsten Verstecken von Sauerlaender ausgegrabenen und aufgespürten Filme haben alle Formate, die überhaupt je in der Filmproduktion üblich waren: 8 mm, 9,5 mm, 16 mm und die Normalfilmbreite 35 mm.

Um einige Beispiele zu nennen, die teilweise auch im Programm des Film-Studios liefen, stünden an erster Stelle die grossen deutschen Stummfilme, wie die Fritz-Lang-Filme: "Die Nibelungen" (erster und zweiter Teil), "Metropolis", dann Murnaus "Faust" mit Emil Jannings und schliesslich das deutsche Musterbeispiel für den Filmexpressionismus: Robert Wienes "Kabinett des Dr. Caligari". Neben diesen grossen bekannten Prunkstücken der Stummfilmkunst, die teilweise auch noch in den Archiven der alten UFA lagern, steht eine kaum übersehbare Reihe kleinerer und weniger bekannter Filme, wie die kurzen Gagstreifen von Max Linder, historisch aufgedonnerte Monumentalwerke vom Leben, Lieben, Leiden und endlichen Sterben geschichtlicher Grössen. Eine ganze Serie von Napoleon-Filmen und nicht zuletzt auch alte Wochenschauen und die ersten Anfänge des Zeichentrickfilms.

Aber nicht nur die letzten noch vorhandenen Kopien deutscher Stummfilme haben ihre letzte Ruhestätte bei Paul Sauerlaender gefunden, sondern auch die kaum noch bekannten Meisterwerke der frühen amerikanischen und französischen Filmkunst, wie D. W. Griffith's "Intolerance", ein Bericht über den Untergang Babylons, und Marcel L' Herbiers "L' Argent", eine filmische Studie über die angefaulte Welt eines Börsenjobbers. Im Grunde ist ein privates Filmarchiv ein Unternehmen auf verlorenem Posten. In der Filmindustrie ist es üblich, dass ein neu produzierter Film von einem Verleih in Lizenz genommen wird. Ist diese Verleih- und Auswertungslizenz abgelaufen und nicht verlängert worden, so werden die Kopien vernichtet, um einen "Missbrauch" zu verhindern.

Ein klägliches Beispiel dieses Formaljurismus ereignete sich kürzlich, als die einzige noch in Deutschland vorhandene Kopie von Carol Reeds "Odd man out" fast in neuem Zustande vernichtet werden musste. Es besteht keine Möglichkeit mehr, diesen Film auch nur einem interessierten Publikum vorzuführen. Dieser Film, der zu den wenigen filmischen Werken gehörte, die thematisch etwas auszusagen hatten und dies auch in die eigene, mit nichts zu vergleichende Sprache wahrer Filmkunst übersetzen konnte, ist so gut wie verloren.

Betrachtet man dieses unsinnige Gebaren der Filmindustrie, die sogar die weitere Aufführung von Filmen wie "Der letzte Mann" mit Jannings untersagt, da eine mehr als mässige Neuverfilmung des Stoffes mit Hans Albers anläuft, dann sind die Bemühungen privater Filmarchive nicht hoch genug anzusetzen, um schliesslich doch unersetzbare Werte vor der sinnlosen Zerstörung zu retten.

Man kann über den künstlerischen Wert von Filmen grundsätzlich streiten. Dass sie im Letzten nie eine vollgültige künstlerische Form erreichen, ist durch den Entstehungsprozess eines Filmes zu erklären. Lässt man rein ästhetische Gesichtspunkte ausser acht, so ist jeder Film aber ein spezifisches kulturgeschichtliches Dokument. Nirgendwo lässt sich so frappant die geistige Haltung einer Zeit ablesen wie in Art und Weise der Gestaltung eines Films, und sei das Thema auch noch so unwesentlich. Ähnlich wie die mediokre Literatur einer Epoche manchmal aufschlussreicher ist in bezug auf die geistige Haltung der breiten Masse als die zeitlosen Werke reiner Dichtung.

Was wäre noch zu sagen? - Vielleicht, dass man die Bestrebungen zur Gründung einer zentralen Filmothek tatkräftig unterstützen sollte. Nicht um nicht vorhandene Meisterwerke der deutschen Nachkriegsproduktion zu retten - was sich wahrlich nicht lohnen würde -, sondern um damit einen sehr wertvollen Spiegel der geistigen Situation grosser Volksschichten Deutschlands zur Zeit des Wirtschaftswunders zu besitzen. Ein Spiegel, der wohl einen grinsenden Januskopf zeigen dürfte.       Horst Albert Glaser
Zurück zum Anfang


In einem Land, in dem Opium nicht gebräuchlich war, musste eine Einrichtung geschaffen werden, ein Zustand zwischen Musse und körperlicher Betäubung, wo die Gehirnfunktionen ihrer gewohnten Verpflichtungen entbunden waren und kein anderes Gesetz mehr hatten, als sich frei ergehen zu lassen. Und wir haben diese Einrichtung, wir haben den Film, und tatsächlich: Das Kino wurde erfunden für eine einzige menschliche Spielart, nämlich die, die nicht träumen kann.       Jean Giraudoux


Wissen Sie, was ein Trailer ist ?

Obwohl uns in jeder Filmvorstellung ein solcher Trailer gezeigt wird, kennen die wenigsten diese Bezeichnung. Trailer: so nennen die Fachleute jene kurzen werbeartigen Vorschaufilme, die uns über das nächste Programm informieren sollen.

Aber was ein movie fan oder ein gag man ist, das wissen Sie ganz bestimmt. Diese Ausdrücke sind genau so Allgemeingut geworden wie etwa star, Oscar, treatment, thriller oder cutter. In Hollywood entstanden, haben sich diese Worte über die ganze Welt verbreitet. Hollywoods führende Stellung innerhalb der Filmindustrie prägt auch die Fachsprache aller übrigen Länder, in denen Filme produziert und vorgeführt werden. In allen Ateliers der Welt weiss man, was ein spot (kleiner Scheinwerfer) oder ein dolly (Kamera-Wagen) ist, und jeder Kinobesitzer spricht nur noch von einer trade show, wenn er zu einer Interessenten-Vorführung geht.

Die originellsten Wortbildungen allerdings sind noch nicht bis zu uns gedrungen. Allein in Hollywood kann man jenen Fachausdrücken begegnen, die weder abgegriffen noch verwässert sind, und in denen sich sehr häufig die Selbstironie der Filmleute spiegelt. Wie wenig man sich dort drüben ernst nimmt, das zeigen beispielsweise die Ausdrücke horse opera für den Wildwestfilm oder whodunit für den Kriminalfilm. Es sind in der Tat treffsichere Formulierungen, die verblüffen. Andererseits finden wir aber auch Bezeichnungen, bei denen man sich nicht des Eindruckes einer slangartigen Geheimsprache erwehren kann.

So kann es uns passieren, dass wir beim Besuch einer pic factory (Atelier) gerade dann kommen, wenn der megaphoner (Regisseur) mit einem glamour girl (attraktive Schauspielerin) einen love clinch (Liebesszene) probiert. Wenn alle spots (Scheinwerfer) eingeschaltet sind, und der Ruf "all's cooking" (alle Lampen brennen) ertönt, setzt der hocusfocus boy (Operateur) die coffee grinder (Kamera) in Bewegung, um den nächsten take (Einstellung) zu drehen. Doch schon brüllt der megaphoner "kill it" (Szene abbrechen), denn einige drugstore cowboys (Wildwest-Statisten) sind über die herumliegenden spaghetti (Kabel) und maccaroni (Filmstreifen) gestolpert und vermasseln den ganzen shot (Szene). Alles ist nervös; denn zur Premiere des Films erscheint ganz bestimmt der gefürchtetste picture catcher (Filmkritiker) von New York.

Dieses Beispiel zeigt uns übrigens, dass nicht alle Fachausdrücke englischen Ursprungs sind. Ja, sogar die deutsche UFA musste für eine neue Bezeichnung herhalten; denn das Wort ufa bedeutet in den Hollywooder Ateliers das Nachahmen der deutschen Kameratechnik.

Eines Tages wird auch Lieschen Müller nur noch von einem Trailer sprechen, wenn sie den Werbevorspann meint, und sie wird es mit genau derselben Selbstverständlichkeit tun, mit der sie jetzt die Worte happy end, sex appeal und make up benutzt.

An diesem Punkt aber beginnt die Sache problematisch zu werden. Denn in erschreckender Weise wird hier offenbar, wie die Welt des Films __ so ganz nebenbei - den Kern aller menschlichen Kultur, die Sprache, zu verändern vermag. Und das sollte uns ein wenig nachdenklich stimmen.       Lotte Hartner

Zurück zum Anfang


Das Kino ist eine Unterhaltung für Sklaven, ein Zeitvertreib für Ungebildete, die verblödet sind durch Arbeit und Sorgen. Es ist die Nahrung der künstlich vergifteten Menge, die des Molochs Macht vor Gericht zitiert, verurteilt und erniedrigt. Der Film besteht aus "Konservenbildern" und trägt wie das Wasser des Rinnsteins die Abfälle unserer schönsten Träume mit sich fort.       Georges Duhamel


Drole de drame (Ein sonderbarer Fall)
Produktion: Comiglion-Molinier (Frankreich, 1937)
Buch: Jacques Prévert und
Marcel Carné nach der Kriminalkomödie "His first Offense" von J. Storer Clousion
Kamera: Eugen Schüftan
Musik: Maurice Jaubert
Darsteller:
Der Herr Professor: Michel Simon
Die Frau Professor: Françoise Rosay
Der Bischof: Louis Jouvet
Jack, der Bauchaufschlitzer: Jean-Louis Barrault
Der Milchmann: Jean Pierre Aumont
Ob Film Kunst sei oder nicht, diese bereits eingepökelte Dauerfrage findet hier ihre bejahende Antwort. Marcel Carnés fast zwanzig Jahre älter "Klassiker" weiss noch nichts von Neorealismus und Verismus, keinerlei Ismus überhaupt stört die köstliche, heitere, verrückte Harmonie und Ironie dieses drolligen Dramas. Bei aller künstlerischen Eigenwilligkeit erweckt er Assoziationen an alte Chaplin-Grotesken oder - ein halbes Jahrhundert weiter gedreht - an einen traurig-fröhlichen de Sica. Es ist unmöglich, den roten Faden der Story zu entwirren, denn die Drehbuchverfasser machen sich ein Vergnügen daraus, das Garn gründlich zu verwirren, mehrmals abzuschneiden, zu verknoten und den Zuschauer mit Bravour zum Stolpern zu bringen. Dabei gibt es manche satirischen Seitenhiebe auf einfallslose Journalisten und Schreiber von Kriminalschmökern, auf Ladies (der Film spielt im England der neunziger Jahre) und Gentlemen und solche, die es sein wollen. Manches davon bleibt allerdings dem deutschen Publikum durch den Verlust vieler französischer Dialog-Pointen befremdlich. Aus den Schwierigkeiten, in diesen "Fall" Klarheit zu bringen und aus den Hindernissen, die sich der Lösung des mysteriösen Rätsels entgegenstellen, bezieht der Film seine Spannung und die Fülle seiner Einfälle.
Das Kunststück der Regie besteht darin, fünf Stars aus der ersten Garnitur schauspielerischer Prominenz Frankreichs so zu führen, dass hier nicht einer den anderen auch nur um ein Haar seiner Wirkung bringt. Fast braucht nicht betont zu werden, dass die Fotografie des Berliners Eugen Schüftan (Filmpionier und Erfinder zahlreicher berühmter Filmtricks), der sich hier plötzlich "Eugène Schufftan" nennt, eine kunstvolle Delikatesse ist. Auge und Ohr müssen weit geöffnet sein, um allen heiteren Schönheiten dieses Films gerecht zu werden.       jo.
Zurück zum Anfang


Symphonie eines Lebens
Produktion: TOBIS (Deutschland, 1945)
Regie: Hans Bertram
Buch: Hans Bertram; Kurt E. Walter
Kamera: Erich Nitzschmann
Bauten: Otto Erdmann
Schnitt: Ella Ensink
Musik: Norbert Schultze. Es spielen die Dresdner Philharmoniker unter Paul von Kempen. Es singen die Wiener Sängerknaben
Darsteller:
Stephan Melchior: Harry Baur
Maria: Henny Porten
llka: Gisela Uhlen
Bürgermeister: Albert Florath
Martin: Harald Paulsen
In den letzten Jahren vor dem trivialen Zusammenbruch der braundeutschen Herrlichkeit entstand Harry Baurs letzter Film "Symphonie eines Lebens". Regisseur war der junge Flieger Hans Bertram, auf den die TOBIS durch seinen Kulturfilm über Afrika aufmerksam geworden war. Der Titel verspricht auf den ersten Blick die zähe Geschichte eines tragikumwitterten Komponisten, den der Drehbuchautor hurtig und mit deutscher Gründlichkeit hin- und hergewendet hat.
Seien wir ehrlich, einige sentimentale Verquollenheiten sollten den Film wohl dem Publikum schmackhaft machen. Die TOBIS schreibt 1943 in ihrem Verleihprospekt:
Am Ende seines Leidensweges erlebt der alte Komponist Stefan Melchior die festliche Uraufführung der "Symphonie eines Lebens", der Symphonie seines Lebens. - Da zieht nun dieses Leben hinter den geschlossenen Lidern seiner müden, alten Augen rauschend und brausend mit all den bunten Bildern der wachgerufenen Erinnerungen noch einmal vorüber: Glückliche und besonnte Tage inmitten seiner Familie, die heiterstille Frau, die lustigen Kinder, sie tauchen auf. Und auch die leuchtenden Augen der Knaben, die er in der Heimat als Chorleiter dirigierte und die ihm herzlich zugetan waren, wie ihm der Bürgermeister ein guter Freund war.
Diese heiterstillen Tranigkeiten des Werbetextes waren jedoch notwendig. Hinter dem geblähten Titel "Symphonie eines Lebens" verbarg sich nämlich ein filmkünstlerisches Wagnis, vor dem wahrscheinlich heutige deutsche Produzenten noch schlotternd zurückschrecken würden.
Kommentiert nur von dem sparsamsten Dialog, entwickelt sich das Leben eines Komponisten aus den vier Sätzen seiner Symphonie. Bild und Musik sind die beiden Komponenten, die dem Film sein Profil geben.
Die Musik ist nicht Mittel der untermalenden mood-technique, sondern bestimmt den Ablauf und die Dynamik des Geschehens und gibt diesem die adäquate optische Form. Insgesamt eine zwar nicht ganz befriedigende, aber für den deutschen Film doch aufschlussreiche Möglichkeit des Musikfilms       H.A.G.
Zurück zum Anfang


And Then There Were None (Das letzte Wochenende)
Produktion: United Artists (USA, 1945)
Regie: René Clair
Drehbuch: Dudley Nichols, nach dem Roman von Agatha Christie
Kamera: Lucien Andriot
Schnitt: Harvey Manger
Darsteller:
Richter Quincannon: Barry Fitzgerald
Philip Lombard: Louis Hayward
Dr. Armstrong: Walter Huston
Blore: Roland Young
Rogers: Richard Haydn
Prinz Starloff: Misdia Auer
"Das letzte Wochenende" gehört zu den Filmparodien, die psychologisch am interessantesten sind. Betrachtet man sich nämlich René Clairs symbolträchtiges Gruselspiel um einen Porzellantafelaufsatz, der zehn kleine Negerlein darstellt, von denen stets dann eine Figur zerbricht, wenn in dem einsamen Wochenendhaus der Tod sich ein neues Opfer aus der verzweifelten Gästeschar geholt hat, dann bemerkt man bei einigem genaueren Hinsehen ein beständiges Schwanken in der Akzentsetzung.
Es gibt Passagen voll von trockener, jagender Dynamik - kurze, hart geschnittene Montagen, vorwärtsgetrieben durch genau punktierte rhythmisierte Musik -, denen Einstellungen gegenüberstehen, in denen alles etwas überspannt ist, wo die Spannung vor innerem Lachen zittert und diese Sequenzen so ganz von Clair'scher verhaltener Ironie erfüllt sind. Einer doppelbödigen Ironie, die sich direkt aus seiner dadaistisch angehauchten Leichenbegängnisstudie "Entr'acte" herleiten lässt, nicht eben ohne eine schüchtern vorgebrachte, in ihrem Innern traurig-komische Menschlichkeit aus "Sous les toits de Paris".
"Das letzte Wochenende" ist damit weder zu einem geradlinigen, durchsichtigen thriller geworden noch zu einer Parodie darauf. Möglich ist, dass René Clair mit diesem Film etwas beweisen wollte. Psychologische Komponenten sind zweifelsohne in die Anlage eingeplant gewesen. Zum Beispiel die erschreckende Demaskierung der einzelnen, teilweise hervorragend interpretierten Charaktere (Barry Fitzgerald) bei der Erkenntnis der Ausweglosigkeit aus der sich immer erstickender verengenden Situation. Daneben steht das Interesse am minutiös konstruierten, knappen thriller, der die Angst mit Hilfe der Perfektion einkreisen will. Und zum dritten die versteckte Lust, das grausige System überschnappen zu lassen, um damit die konstituierenden Ingredienzen sichtbar zu machen.       H.A.G.


Der Film könnte zur wirklichen Kunst werden unter der einen Bedingung, dass man die Bilder völlig beiseite lässt und nur die Untertitel bringt.       George Bernard Shaw
Zurück zum Anfang


Ostatni etap (Die letzte Etappe)
Produktion: P. P. "FILM POLSKI" (Polen, 1948)
Regie: Wanda Jakubowska
Buch: Wanda Jakubowska; Gerda Schneider
Musik: Roman Palester
Kamera: Boris Monastyrskij
Schnitt: Roza Pstokonska
Dekorationen: Roman Mann; Czeslaw Piaskowski
Darsteller: Barbara Drapinska; Tatjana Corecka; Antonina Gorecka; Maria
Winogradowa; Wanda Bartowna; Barbara Fijewskaja
Man ist leicht geneigt, die ach doch recht weit zurückliegenden Jahre vor dem Angelpunkt des Jahres 1945 zu vergessen. Wie Romano Guardini in seiner Schrift über "Die Verantwortung" sagt, wohl aus dem Gefühl der Hilflosigkeit heraus. Da man dieses düstere Kapitel der Liquidation von Millionen unschuldiger Menschen der deutschen Geschichte nie ganz in all seiner kalten, automatisierten Grausamkeit erfasste, weigerte man sich, es auch in all seiner Deutlichkeit zu akzeptieren und "aufzuarbeiten", wie Guardini sagt. So wandert es als Trauma durch das Unterbewusstsein des deutschen Volkes, das sich weigert, es überhaupt in seiner völligen Konsequenz wahrzunehmen und es klar und eindeutig als ein verhängnisvolles Unrecht zu erkennen.
Es mag daher von Zeit zu Zeit nützlich sein, die Fakten wieder in das Gedächtnis zurückzurufen, denn die lethargische und gleichgültige Haltung breitester Volksschichten in dieser Angelegenheit kann zu einer recht verhängnisvollen Verheissung in der Zukunft werden. Wanda Jakubowska, ehemalige Insassin des Konzentrationslagers Auschwitz, schrieb nach ihrer Befreiung ein Filmszenarium über eben dieses Auschwitz. 1948 erschien der nach diesem Buch hergestellte Film über das Frauenkonzentrationslager in Auschwitz. Es ist ein Spielfilm. Aber er besitzt in seiner Desintegrierung der einzelnen Ereignisse eine dokumentarische Härte. Ein West-Berliner Kritiker schrieb bei seiner Erstaufführung in Ost-Berlin:
Ein Konglomerat des Schreckens. Neugeborene bekommen die Spritze, Juden werden abgefahren ins qualmende Krematorium, und dazwischen streichelt die blonde Lagerkommandeuse ihren Schosshund. Und immer wieder kommen zügeweise Neue an. Und flotte Weisen erklingen, während sich die Häftlinge, gestossen und verhöhnt und geschlagen, im tödlichen Marsch zur Arbeit schleppen. Und ein schmissiger Fox wird gedudelt, während gefoltert wird mit frohem Sadismus wie im Mittelalter. Ein furchtbarer Film - ein herrlicher Film.   G.G.
Einigen Abbruch erleidet dieser polnische Film durch die mit in den Film hineinbezogene politisierende Moral, die durch die politischen Verhältnisse in den östlichen Satellitenstaaten einen recht fragwürdigen Beigeschmack erhält.       H.A.G.
Zurück zum Anfang


Till glädje (An die Freude)
Produktion: A. B. Svensk (Schweden, 1949)
Drehbuch und Regie: Ingmar Bergman
Kamera: Gunnar Fischer
Darsteller: Maj-Britt Nilsson; Stig Olin; Victor Sjöström; Birger Malmsten; Margit Carlquist
Der schwedische Film nimmt im Bewusstsein des deutschen Kinopublikums eine recht zweifelhafte Rolle ein. Man verknüpft mit ihm ohne weiteres die angenehme Vorstellung der sexuellen Grosszügigkeit, was dann einer gewissen Art von Naturnähe entsprechen soll. Voll herzerfrischender Offenheit, was Unterleib und Unterbewusstsein angeht.
Dieses kassenfüllende Air, das die schwedischen Filme beim breiten Publikum besitzen, beruht jedoch, wie leider immer, auf einem leichten, aber für das Kinopublikum symptomatischen Missverständnis. Nichts wäre schiefer und ungerechter, als in dem schwedischen Film einen Cocktail, gemixt aus lustbetonten Komponenten, zu sehen.
Der Regisseur der in Deutschland bekannt gewordenen Filme, wie "Durst", "Die Zeit mit Monika" und "An die Freude" ist Ingmar Bergman. Der schwedische Film hat in diesen neueren Produktionen seine noch aus der Stummfilmzeit stammende künstlerische Intensität und Aussagekraft bewahrt und zu schärferer Prägnanz gebracht. Das, was französische und deutsche Avantgardisten mühselig und verkrampft zu beschwören versuchten, ist bei den wesentlichen schwedischen und auch dänischen Produktionen (C. Th. Dreyer) integrierender Bestandteil. Hier gibt es keinen dünn dahinsabbernden oder breit aufgedunsenen Redefilm, versehen mit einer - man verzeihe mir den harten Ausdruck - Kotzspritze voll aufbrandender UFA-Musik.
In diesen schwedischen Filmen kommt man vielmehr wieder zu der im Laufe der Jahre verlorengegangenen Überzeugung, dass Film Bildersprache heisst. Bild diesmal als Symbol verstanden, als Abbreviatur für im Letzten nur lyrisch aussprechbare Situationen und Beziehungen. Eine Tatsache, die in der Malerei nie ein Geheimnis darstellte. Sprache und Musik werden - bewusst - dort eingesetzt, wo sie erforderlich sind und stehen in einer inneren Beziehung zum Bild und seinem Rhythmus. Den reinen Film findet man aber dort, wo Sprache und Musik schweigen und nur die Kamera arbeitet. Man sieht, wie sie tief innere Spannungen zwischen zwei Menschen sichtbar machen kann durch langsam quälende Veränderung der Einstellungen, wieder aufgefangen durch einen harten und abrupten Schnittwechsel.
Ingmar Bergman, der - eine Ironie - seine Laufbahn als Theaterregisseur begann, zeichnet in "An die Freude" mit wissenschaftlicher Akribie und lyrischer Behutsamkeit die Geschichte einer jungen, unsicheren Ehe, die stellvertretend für viele moderne Ehen stehen könnte, wie Bergman sagt.
Also neben der formal-ästhetischen Aussage auch noch eine, die sich ehrlich mit den zweiflerischen Fragen der menschlichen Existenz auseinandersetzen will.       H.A.G.
Zurück zum Anfang


Le sang d' un poète (Das Blut eines Dichters)
Produktion: Frankreich, 1951
Buch und Regie: Jean Cocteau (in Zusammenarbeit mit Michel Arnaud)
Kamera: Georges Périnal
Musik: Georges Auric
Darsteller: Lee Miller; Habib Benglia; Rivero u. a.
Dieser erste Film des Dichters Jean Cocteau entstand im privaten Auftrag des Vicomte de Noailles, eines grosszügigen Mäzens, der auch den Regisseur Luis Buñuel förderte. Es ist dies einer der ganz seltenen Fälle in der Geschichte des Films: ein Dichter erhält eine Million, um sich visuell so auszudrücken, wie es ihm beliebt, ohne Rücksicht auf Auftraggeber und Publikum. Das Ergebnis dieser einmaligen Chance ist ein Film, der zu den wenigen gültigen Dokumenten echter Filmkunst gehört.
"Le Sang d' un Poète" kann nicht mit den Massstäben der üblichen Filme gemessen werden; es ist ein Werk, das nur schwer zugänglich ist. Man könnte daher mit Recht an dieser Stelle eine Interpretation erwarten, ohne die das Verständnis des Films fast unmöglich erscheint. Eine solche Interpretation wäre jedoch in unserem Falle fehl am Platze; sie müsste nämlich so extrem subjektiv ausfallen, dass sie dadurch schon wieder an Wert verliert, und sie würde auch nichts weiter erreichen, als die bereits bestehenden (und es gibt Hunderte von Interpretationen zu diesem Film) lediglich um eine weitere zu vermehren.
Wie weit die verschiedenen Deutungsversuche der einzelnen Interpreten auseinanderklaffen, mögen die drei folgenden Beispiele verdeutlichen. Nebenbei erhalten wir einige nicht ganz unwichtige Hinweise zum Verständnis dieses Films.
Ein Schweizer Filmkritiker vermeint folgendes gesehen zu haben: Der Dichter beobachtet durch das Schlüsselloch sein eigenes Leben, um es dadurch zu begreifen. Die Zwecklosigkeit dieses Unterfangens ist eklatant: Der Schauende - also Cocteau - wird durch seinen alles beherrschenden Narzissmus in seine eigene Ohnmacht zurückgeworfen. Um diese Ohnmacht nun dennoch als irgendeine Wirklichkeit auslegen zu können, wird sie mit den Möbeln einer konfusen Symbolik ausgestattet, einer Symbolik, die das Artistentum, die Hohlform, den Bilderreichtum und die Schwülstigkeit Cocteaus blosslegt. Und abschliessend fällt dieser Kritiker der Basler National Zeitung das vernichtende Urteil: Es wäre allgemach an der Zeit, dass Cocteaus scheinbare Sieben-, Acht- oder Neundeutigkeit endlich in ihrer Eindeutigkeit erkannt wird, und dieser Künstler dort seinen Platz findet, wo er auch hingehört, nämlich in den ausgeleierten Formalismus.
Ein deutscher Film-Club legt als Resultat einer Diskussion über diesen Film die folgende Interpretation vor: Die Werke des Künstlers sind unvollkommen. Diese Unvollkommenheit verwundet ihn, denn wahrhaftes Künstlertum bedeutet Ruhm und Unsterblichkeit. In seiner Eitelkeit strebt der Künstler nach der Vollkommenheit, aber immer mehr kommt er dabei zu der Erkenntnis seiner eigenen Fehler. Er versucht zwei Lösungen: Das eine Mal begeht er voller Verzweiflung Selbstmord, das andere Mal sieht er dem Tode der anderen gleichsam als einem Schauspiel zu, um daraus Profit zu ziehen. Keine der beiden Lösungen ist befriedigend, und nach dem endgültigen Tode des Dichters entschweben die Muse und alle Symbole der ewigen Kunst mitleidlos als leere Phantome, ohne eine Spur auf der Erde zu hinterlassen.
In dem Buch "Gespräche über den Film" von Jean Cocteau wird von einem Franzosen berichtet, der sich sogar zu der Behauptung verstiegen hat, dass dieser Film die Geschichte des Christentums bis in die geringsten Einzelheiten darstelle.
Um aus diesem Dilemma der Interpretation (Cocteau selbst hat bezeichnenderweise niemals einen schlüssigen Hinweis zur Deutung gegeben) herauszukommen, schlagen wir hier einen ungewöhnlichen, nämlich den genau entgegengesetzten Weg vor:
Jeder kennt die modernen Test-Methoden der Psychologie. Unter ihnen befindet sich eine, die so aussieht: Man gibt den Versuchspersonen Zeichenstifte, Tusche, Farbtöpfe, Pinsel und Papier und lässt sie einfach drauflos malen. Wesentlich dabei ist, dass es hier weniger darum geht, ein Werk der bildenden Kunst zu erhalten, als eine spontane Äusserung vermittels eines anderen Vokabulars als des der normalen Sprache. Was dieses Diktat des Unterbewussten in Wirklichkeit aussagt, weiss der Verfasser selbst gewöhnlich nie. Erst dem geschulten Psychologen öffnet sich dieses Material und gibt wertvolle Hinweise für die Analyse.
An den eben beschriebenen Vorgang können wir uns halten, wenn wir den Film "Sang d' un Poète" vor uns haben und uns an seine Entstehungsgeschichte erinnern. Der Vicomte de Noailles gab einem jungen Dichter den Film, die Kamera, das Licht, die Kostüme, die Dekorationen und liess ihn, der keine Ahnung von der Kinematographie hatte, etwas daraus machen. Cocteau befand sich also in genau derselben Situation, die wir oben beschrieben haben: er musste sich mit ungewohnten und neuartigen Mitteln äussern. Ein sehr kostspieliger Test also (wenn es gestattet ist, dieses Wort darauf anzuwenden), aber sicherlich aufschlussreicher als so vieles andere. In dem bereits erwähnten Buch hat Cocteau ja selbst diese recht merkwürdige Position zugegeben, als man ihm die folgende Frage stellte: "Als Sie den Film drehten, waren Sie sich da bewusst, was Sie taten?" J. C: "Nicht mehr als ein Mann, der vor dem Kaminfeuer einnickt und sich im Zustand des Halbbewusstseins befindet. Die Arbeit bedeutete nicht mehr als eben Arbeit, vergleichbar der Handbewegung dieses Halbschläfers, wenn er die Scheite nachschiebt." Wir, die Zuschauer, haben nun die Aufgabe, dieses "Diktat des Unterbewussten" zu deuten, und am Ende wissen wir höchstwahrscheinlich mehr als Cocteau selbst - vorausgesetzt, wir sind im Lesen dieser Bildersprache geschult.
Diese Methode erscheint bei so manchen Äusserungen der modernen Kunst als die einzig mögliche. Mag man sie auch zunächst als eine Resignation des Geistes hinstellen, so hat sie doch aber den einen Vorteil, dass man auch im Falle des völligen Nichtverständnisses immer noch sagen kann, ob hier ein wirklicher Künstler, der Geschmack und Stilgefühl zu verbinden weiss, am Werke war, oder nur ein dilettantischer Stümper.
Wer auf diese Weise die künstlerische Gestaltung des "Sang d' un Poète" überprüft, wird feststellen müssen, dass es sich hier um ein Werk handelt, dessen innere Konsequenz bezwingend ist. In keiner einzigen Einstellung begegnen wir Bildern, die an herkömmliche Filme erinnern. Alles ist neuartig, und sämtliche filmischen Möglichkeiten sind in erregender Weise ausgeschöpft.
Die Vorführung dieses Werkes offenbart immer wieder aufs neue die grandiose Möglichkeit, Dichtung und Film so miteinander zu verbinden, dass die Kunst sich des im Lichtspiel-Theater so herabgewürdigten Bildes nicht mehr zu schämen braucht.       I.R.
Zurück zum Anfang


Nicht mehr fliehen
Produktion: Filmaufbau (Deutschland, 1955)
Regie: Herbert Vesely
Buch: Herbert Vesely; Hubert von Aratym
Kamera: Hugo Holub
Schnitt: Caspar van den Berg
Musik: Gerhard Rühm
Darsteller:
Sapphire: Xenia Hagman
Gerard: Hector Mayro
Ines: Judith Folda
Man muss auf der Hut sein, noch einige kritisierende und nicht ganz enthusiasmierte Bemerkungen zu dem einzigen deutschen Experimentalfilm der jüngsten deutschen Film-Vergangenheit zu machen. Zum einen dürfte man sich dabei nach Meinung eines der jüngsten deutschen Filmkritiker, Enno Patalas, in die lächerliche Position eines traurigen Tropfes begeben, der da in dümmlicher Einfalt der "etablierten Ordnung" verfallen ist. Denn "Nicht mehr fliehen" ist in seinen Augen der Film der heutigen Jugend. Ihr Lebensgefühl fand dort gültigen Ausdruck. - Zum andern hat man in das ziemlich umfangreiche Pressematerial, vielleicht sollte man auch Gebrauchsanweisung sagen, bestehend aus Analysen, Bemerkungen, Zitaten usw., vorsorglich jeden möglichen Einwand und jede Kritik mit staunenswerter Beredsamkeit integriert.
Aber einige deutliche Feststellungen - sine odio et studia - erscheinen uns notwendig. Allein schon um die Begriffe zu klären.
Dieser Film, er ist eine gute halbe Stunde lang, behauptet, ein Dokument der geistigen Situation der Zeit zu sein. Was man nur verschwommen fühlte, klar ausgedrückt zu haben. Als geistige Väter werden Camus, Proust, Joyce, Broch, Kafka angerufen. Da diese filmische Analyse des heutigen Welt- und Zeitgefühls von jungen Avantgardisten, teilweise Studenten, mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen gedreht wurde, von der Filmbewertungsstelle der Länder das Prädikat "wertvoll" erhielt, was auch hier, wie stets, nichts besagt, so kommt man in der Öffentlichkeit leicht zu der bequemen Feststellung, hier habe sich die Elite der Jugend zusammengetan, um ein Zeugnis ihrer Verlorenheit zu geben.
Es ist daher wohl an der Zeit, einmal Stellung zu dieser Analyse der "existentialen Seinsverfassung des Spielraums des faktischen Seinkönnens" zu beziehen. Auch auf die Gefahr hin, von Enno Patalas des Eingeständnisses der eigenen Schwäche und der apriorischen Selbstpreisgabe an die etablierte Ordnung bezichtigt zu werden.
Vesely geht in seinem Film von der These aus, das menschliche Dasein sei sinn- und zweckentleert. Die ehemals gültigen Wertvorstellungen zerbrochen und was zurückblieb in der Wüste, zu der das menschliche Leben geworden ist, das ist das Gefühl der Sinnlosigkeit allen Tuns. Die Absurdität des Daseins. Nun, das ist eine Konzeption, die weder erst von Herbert Vesely entdeckt wurde, noch daher wegen ihrer leichten Abgestandenheit sonderlich erregend ist. Nichtsdestoweniger ergäbe diese Vorstellung des Absurden im menschlichen Leben einen genialen Vorwurf für eine literarische Durchformung. Eine mögliche davon ist zum Beispiel Grabbes Totentanz um Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Werk, wo es dem Leser überlassen bleibt, den gültigen Nenner zu erkennen, auf dem es aufgebaut ist.
In "Nicht mehr fliehen" begibt sich Vesely auf den umgekehrten, aufs erste zwar leichter erscheinenden, aber im Grunde viel gefährlicheren Weg. Er zeigt nämlich nicht das tägliche Leben einiger Personen im momentanen Querschnitt oder unendlichen Reflexionen, sondern er transponiert das ganze Geschehen in seinem Film in die gleichsam irreale Sphäre: In einer Wüstenlandschaft erscheinen eine Frau und ein Mann, die sich dort aber so verhalten, als existiere ihre gestorbene Umgebung nicht. Sie gehen weiter ihren alltäglichen Gewohnheiten nach, die hierdurch den Charakter des völlig sinnlosen Tuns erhalten.
Aber indem man die Mechanismen des menschlichen Lebens aus der Sphäre löst, in der sie sich und für die sie sich entwickelt haben, und sie mit dem absoluten Charakter der Wüste konfrontiert, dann begibt man sich damit jeder Möglichkeit, etwas über unser Leben in unserer Wirklichkeit auszusagen. In der Wüste wird alles sinnlos. Es kommt ja auch nicht, wie Veselys Interpret, Patalas, feststellt, auf die Wirklichkeit an, sondern, wie man in einem Heideggerschen Terminus behauptet, auf die Möglichkeit. Hier tritt schon, wie dann im Film selbst in oft noch peinlicherer Weise, ein Missverständnis der bemühten Autoren zutage. Die "Möglichkeiten" des Daseins, die mit dem Heideggerschen "Entwurf" identifiziert werden, besagen jedoch in der Heideggerschen Terminologie nicht mehr und nicht weniger als die Möglichkeiten der Wirklichkeit und haben gerade nichts mit intellektualistisch verspielten, utopistischen Nihilismen zu tun.
Vesely verliert somit zweimal den Boden unter den Füssen. Auf der einen Seite verfiel er dem Trugschluss, die Absurdität unseres Daseins beweisen zu können, indem er es aus seinem Kontakt mit der Umwelt, der Wirklichkeit löst und es unter Bedingungen zu betrachten und zu analysieren versucht, die aber nicht einmal mehr den Charakter einer Möglichkeit in unserem Leben haben. Die Reinkultur der Absurdität erweist sich plötzlich als Hungerkultur. Zum zweiten unterliegt Vesely einem häufigen, wenn nicht ständigen, Missverständnis der von ihm angeführten Philosophen. Bei Albert Camus hält er beispielsweise die vorläufige Abgrenzung aller Möglichkeiten des Handelns bei einem vorausgesetzten Gefühl des Absurden im Menschen für die einzige Möglichkeit, die dem heutigen Menschen verbleibt. Wenn Camus erwägt, dass der Mord bei einem Menschen, der in dem Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens verhaftet ist, zu etwas Indifferentem und infolgedessen zu etwas Möglichem werden kann, dann wird es in "Nicht mehr fliehen" zur ultima ratio.
Das intellektuelle Spiel mit der Leere, wie Vesely seinen Film bezeichnen liess, das das Leben in seiner letzten, eben zweifelhaften, Möglichkeit schildern will und so zum Sinnbild unserer Wirklichkeit gestempelt werden soll, endet in der Veselyschen Weltschau eben bei zwangsläufigem Terror und Mord. Vollführt mit nonchalanter Delikatesse.
Es wäre noch vieles zu bemerken. Hier kam es mehr auf die Methodik des Drehbuchs an. In seinem Begleittext zum Film wird die naturwissenschaftlich exakte Analyse erwähnt und gefordert, die allein unserem heutigen Weltbild gerecht werde. Zu bemerken bliebe da nur, dass gerade in den modernen Naturwissenschaften die Methode oft das Ergebnis bestimmt. Hierin unkritisch zu sein, bedeutet Aufgabe eines jeden Anspruchs auf Allgemeingültigkeit.
Andere Mängel sind mehr sekundärer Natur. So zum Beispiel die symptomatische Manier, in den Gedanken anderer sich auszudrücken. Äusserungen verschiedenster Autoren unter die eigene Aussage zu mengen, um dieser einen gewissen "Finish" zu verleihen. Dann die etwas erbitternde, naive Art, stets die Floskel von der Absurdität im Munde zu führen, um den Zuschauer damit zu traktieren. So, als habe man Angst, er könne nicht begreifen. In lyrischen Leitartikeln schwelgend ist man darüber hinaus krampfhaft bemüht, beim Thema zu bleiben. Offensichtlich ohne rechtes Zutrauen in die zur Demonstration konstruierten Situationen.
Nach diesen wohl notwendigen Feststellungen erhebt sich die Frage, warum einen solchen Film überhaupt in das Programm aufnehmen, wenn er in literarischer Hinsicht kaum über das Niveau eines schöngeistigen Existentialistenzirkels hinausreicht.
Hier gilt es dann ganz sachlich festzustellen, dass es sich bei "Nicht mehr fliehen", trotz der oben explizierten literarischen Mittelmässigkeit, um einen der besten Filme handelt, die dem Verfasser je vor Augen gekommen sind. So erlösend kompromisslos wurde noch nie mit der Kamera, der Montage und der Musik (Zwölftonmusik) gearbeitet wie hier. Jede dramatische Situation findet ihre widerspruchsfreie Umsetzung im Bild, der Bildsequenz und der Musik. Man ist sogar versucht, bei dieser Schaffung einer neuen, traumhaft klaren Wirklichkeit, den schlüpfrigen und dilettantischen geistigen Untergrund zu vergessen.
Zur Illustration möge ein Auszug aus dem Treatment des Filmes folgen:
Suggestiv setzen bereits die ersten Einstellungen ein, bevor der Vorspann mit seinen steigenden und verschwebenden Titeln beginnt: der steinbedeckte Abhang im Sonnenglast, von dem die Kamera gegen die Strasse hinaufschwenkt, über die der Lastwagen sich nähert; während der Fahrt die monotonen Durchsagen - Ortsangaben und Warnungen - des anonymen Polizeifunks, Störungskrachen und Pfeifen; in schleifenförmigen Schwenks folgt die Kamera dem Lkw, bis sie, nach einer langen Totale aus der Vogelperspektive, die den Wagen auf der Wüstenpiste zeigt, plötzlich vom bedrohlich schütternden Deck des Wagens die Warnschilder am Rand der Piste einfängt: Warning! Danger! Stop! Die hart hinter einander geschnittenen Nahaufnahmen des Kühlers - wie Akkordblöcke, die einen Dreiklang abwandeln - bekräftigen die Endgültigkeit des Stillstands.
Gerards Aufschrei gegen die feindselige Stummheit der Umgebung wird umgesetzt in eine heftige Montage von kantigen Pfeilern und zylindrigen Kesseln in wechselnd verkanteter Perspektive. Hier, in den Partien, in denen blinder Aufstand des Gefühls den Gedanken mattsetzt, verdrängt die Montage beziehungsloser Gegenstände die Betrachtung des Raumes, aus der die Erkenntnis der Situation wachsen kann. So antwortet auf die ekstatische Montage das lange starre Bild der sich in der Tiefe erstreckenden Landschaft in ihrer grausamtrostlospn Leere.
Die Phasen, die die Situation der Geflüchteten durchläuft, findet im Optischen ihre Entsprechungen: rasende Kamerafahrt, schütternd vorwärtsstossend, wenn Gerard in den Ort eindringt; suchendes Kreisen, vage, unbestimmt, wenn sie sich im Ort umsehen; ruckweise durch Stehkader unterbrochener Lauf Gerards und Teleobjektiv-Aufnahmen vor der Vergewaltigung; kreisförmiges Schaukeln der Kamera vor dem Leichnam des Mädchens Ines.

Wir können nichts weiter tun, als dieses Filmexperiment, das wir trotz aller Vorbehalte begrüssen, zur Diskussion zu stellen. Und um die Diskussion darüber so bald nicht wieder einschlafen zu lassen, was bei der inneren Verschränktheit des Filmes allzu leicht möglich ist, haben wir uns zu diesen Ausführungen entschlossen.       Horst A|bert Glaser

Ob ich das Kino liebe? Eigentlich habe ich nie darüber nachgedacht. Es ist zwar ein grossartiges Spielzeug. Ich vertrage es aber nicht, weil ich vielleicht zu "optisch" veranlagt bin. Ich bin ein Augenmensch. Das Kino aber stört das Schauen. Das Kino bedeutet eine Uniformierung des Auges, das bis jetzt unbekleidet war. "Das Auge ist das Fenster der Seele", sagt ein tschechisches Sprichwort. Filme sind eiserne Fensterläden.       Franz Kafka

Ich wurde einmal gefragt, ob ich den Film für eine Kunst halte. Ich erwiderte, dass ich diesem Wort keine Bedeutung beimesse. Malerei ist auch eine Kunst, und doch gibt es viele schlechte Bilder. Darum kommt es sehr wenig darauf an, ob es eine Kunst ist oder nicht. Der Film ist vollkommen belanglos. Im übrigen sehe ich mir niemals einen an.       Paul Valéry
Zurück zum Anfang


We Are No Angels (Wir sind keine Engel)
Produktion: Paramount (USA, 1955)
Regie: Michael Curtiz
Drehbuch: Ronald MacDougall, nach dem Theaterstück "La cuisine des anges" von Albert Husson
Kamera: Loyal Criggs
Musik: Friedrich Holländer
Darsteller: Humphrey Bogart; Aldo Ray; Peter Ustinow; Joan Bennet; Basil Rathbone; Leo G. Carroll
Die amerikanische Filmgroteske zeitigt hin und wieder eigenartig schillernde Blüten. Neben Frank Capras "Arsenic and old Lace" und Alfred Hitchcocks "Always trouble with Harry" steht nun Michael Curtiz' "We are no Angels". Die Vorlage zu diesem frivolen Spass lieferte der Franzose Albert Husson mit seiner Komödie "La cuisine des anges". Ihren makabren Witz bezieht diese Geschichte aus einer in solchen Zusammenhängen handelsüblichen Umwertung moralischer und alltäglicher Begriffsvorstellungen. Wenn ausgebrochene Zuchthäusler, zwei Mörder und ein Dieb plötzlich eine, wenn auch zweifelhafte, Rolle in einer bürgerlich-sittsamen Welt übernehmen, dann erhält diese absonderliche Tatsache ihre hintergründig lächelnde Unsinnigkeit eben durch die gebräuchliche Auffassung von dem, was Verbrecher eigentlich tun sollten.
Je weiter sich dabei der apostrophierte Tatbestand von den allgemeinen Überzeugungen, wie es in der Welt zugehen müsste, entfernt und die abstruse Handlungsweise als völlig natürlich hinstellt, desto grösser ist das Gaudi.
So etwas lässt sich zwei-, -dreimal in grundsätzlichen Varianten durchführen, dann verblasst jedoch bald der Reiz des neuen Spiels, und es lebt mehr von der Situationskomik, die natürlich auch von dieser Umwertung lebt, aber in einer weit indirekteren Art und Weise, als aus einer verzärtelten, intellektualisierten Albernheit, die sich, ist das Thema in allen Punkten einmal angeschlagen, bald erschöpft.
"We are no Angels" hat noch jenes begeisternde Moment des taufrischen närrischen Einfalls und präsentiert diesen mit gewohnter amerikanischer Perfektion.
Ein Film ist zwar nicht daraus geworden, dafür hatte man sich zu eng an die Vorlage des Theaterstücks gehalten, das auf den Wort- und nicht den Bildwitz aus war, aber auf jeden Fall ein begrüssenswertes Ereignis mit blasphemischer Noblesse dargeboten.
Zurück zum Anfang


Le défroqué (Der Abtrünnige)
Produktion: S. F. C./S. N. E. Gaumont, 1954
Regie: Leo Joannon
Buch: Leo Joannon
Dialoge: Roland Laudenbach
Kamera: Nicolas Toporkoff
Musik: J. J. Grunenwald
Bauten: Paul Louis Boutié
Darsteller:
Maurice Morand: Pierre Fresnay
Gérard Lacassagne: Pierre Trabaud
Catherine; Nicole Stephane
Frau Morand: Marcelle Geniat
"Es ging mir darum, ein aussergewöhnliches menschliches Problem aufzuzeigen, nicht aber darum, einen religiösen Film zu machen." - Während Kritik und Diskussion um diesen Film sich hauptsächlich seiner religiösen Problematik angenommen haben, berechtigt dieser Ausspruch des Autors und Regisseurs Leo Joannon zu einer säkularen, zu einer "menschlichen" Auffassung.
Der Film schildert den geistigen Kampf zwischen zwei Menschen, Morand, der Priester war, und Lacassagne, der Priester werden will und seine Aufgabe darin sieht, Morand, gemäss kirchlicher Lehre Priester "in aeternum", zum Priestertum zurückzuführen. Er wird unterstützt von der Mutter Morands. Aber ihre Versuche, den Abtrünnigen zur Umkehr zu bewegen, sind ungeschickt und bringen ihn nur in Harnisch. - Morand, der sich aus intellektueller Einsicht (seine Freunde sagen: aus geistigem Hochmut) von der Kirche abgewandt hat, ist ihr in seinen gefühlsmässigen Unterströmungen doch verbunden geblieben - die Lösung ist ihm nur mit seiner halben Persönlichkeit gelungen. Der ständige Kampf, in dem sein Intellekt gegen sein Gefühl steht, schlägt sich in häretischen Schriften nieder ("33 Jahre Christus - 2000 Jahre Judas"), und jedes Buch ist eine neue Selbstbestätigung seiner Ratio, seines selbstherrlichen Ichs. Wer in Morand die alten Bindungen zu neuem Leben erwecken will, muss auf diese Gespaltenheit Rücksicht nehmen und mit seinem Selbstbewusstsein schonend umgehen; aber Lacassagne und die Mutter verletzen es bei ihren Versuchen. So bleibt Morand nur der Weg, sich in seiner bisherigen Haltung ausdrücklich zu bestätigen und so sein Gesicht vor sich selbst zu wahren. Als Lacassagne schliesslich in Morands Tagebuch die Eintragungen entdeckt, die eine sich bereits vollziehende innere Umkehr Morands bezeugen - die emotionalen Bindungen haben wieder Boden gewonnen - und er triumphierend dem Freund dieses Beweisstück vorhält, begeht er seinen grössten menschlichen Fehler: Denn dies ist die Aufforderung an Morand, seine intellektuelle Persönlichkeit in einem letzten, gewalttätigen Ausbruch gegen die Vergangenheit zu verteidigen.
Eine besondere innere Spannung bezieht der Film aus der Tatsache, dass das menschlich unzulängliche Verhalten Lacassagnes durch den angestrebten guten Zweck auf der Ebene des Religiösen Wert und Würde erhält. Darin zeigt sich aber auch, dass die Welt des Religiösen ein konstitutives Element im inneren Bau dieses Filmes ist - was nicht heisst, dass er nun ein religiöser Film sei.       K.B.
Zurück zum Anfang


Souvenirs perdus
Produktion: (Frankreich, 1950)
Buch: Jacques Companeez und Christian Jaque
Dialoge: Henri Jeanson; Jean Prévert; Bernard Zimmer
Regie: Christian Jaque
Kamera: Christian Malras
Musik: Joseph Kosma
Darsteller: Edwige Feuillère; Pierre Brasseur; Bernard Blier; Yves Montand;
Gérard Philipe; Danielle Delorme; François Perier; Suzy Delair; Armand Bernard
Verlorene Andenken - vier armselige Gegenstände, an denen die Kamera nach einem Blick auf Regale und Gestelle in einem Fundbüro haften bleibt. Symbole für vier Schicksale, die der Film erzählt.
Ein Episodenfilm also. Die besten Episodenfilme stellen Variationen über das gleiche Thema dar. Ihr Meister war Julien Duvivier. Sein Requisit, das er scheinbar in den Vordergrund stellte, etwa eine Ballkarte, ist nicht mehr als ein Vorwand für ein Generalthema. - Hier ist das Requisit der alleinige Ausgangspunkt: ein Fundbüro und vier Gegenstände, Sammelplatz für vier Episoden, die ein unbekümmertes Eigenleben führen, nicht nur schroffe Gegensätze sind, sondern einander völlig fremde Welten, denen nichts gemeinsam ist als ein Fundbüro und ein Streifen Zelluloid. Die erste Episode hat den müden Glanz und die alkoholisierte Melancholie der tristen Erinnerung. Sie zeigt die zufällige Begegnung zweier Menschen, die sich einst geliebt haben, dann im Leben kläglich gestrandet sind und sich nun gegenseitig vorlügen wollen, wie grossen Erfolg sie erringen konnten. Der Zuschauer ist interessiert, aber kaum begeistert.
Die dritte Episode, die einen ausgebrochenen Irren zeigt, der ein Mädchen erst vor dem Selbstmord bewahrt, sie dann erwürgt, ist nicht mehr als ein mit schräger Kamera mühsam durchquerter Seelendschungel, eine psychopathologische Dreigroschenspekulation.
Bei der vierten Episode, einer frechen und charmanten Mixtur aus handfestem Schwank und unkompliziertem Begräbnishumor, bleibt niemand gleichgültig. Diese böse Satire vom leichtlebigen jungen Mann, der einer seiner Freundinnen, die eifersüchtig mit dem Revolver herumfuchtelt, einreden lässt, er sei bereits gestorben, worauf die Dame mit hysterischen Trauerausbrüchen an einem reichlich heiteren Begräbnis teilnimmt, ist ebenso bedenkenlos wie brillant eingefangen worden.
Das Meisterstück dieses Films, das genügt, um ihn ungewöhnlich erscheinen zu lassen, ist die zweite Episode: Bernard Blier spielt einen biederen Polizisten, in dessen wohlgepolstertem Leib ein mitfühlendes Herz schlägt, insbesondere für eine Witwe, die einen guten Kaffee kocht und auch sonst noch Vorzügliches zu bieten hat. Zu der Witwe gehört ein Sohn, ein heimliches Musikgenie, der fürchterlich auf einer Geige herumwimmert. Aber was erträgt ein Mensch nicht alles aus Liebe, selbst wenn er in Frankreich Polizist ist! Und wenn er die Witwe von dem schrecklichen Geigenspieler ungewollt befreit und sie dabei verliert, dann sind diese Sekunden voll bitter-süsser Köstlichkeit: einen Atemzug lang wird hier die grosse menschliche Komödie sichtbar.       jo.
Zurück zum Anfang


Rémontons les Champs Elysées (Strasse der Liebe)
Produktion: SEDIF (Frankreich, 1938)
Regie und Buch: Sacha Guitry
Musik: Adolphe Borchard
Darsteller: Sacha Guitry; Lucien Baroux; Jacqueline Delubac; Louis Alibert; Jean Davy
Sacha Guitrys Filme stellen weder in ihrer Problematik noch in ihrer filmischen Gestaltung sonderlich grosse Anforderungen an den Beschauer. Seine historischen Filme, wie "Le diable boiteux" oder "Remontons les Champs Elysées" oder "Si Versailles m' était conté", stellen selten mehr dar als eine lächelnde Aneinanderreihung historischer Miniaturen und Miniatürchen. Sie führen alle ein recht eigenartiges Leben. Hinter jedem dieser Filme steht nämlich - sichtbar oder auch nicht - Sacha Guitry. Er trägt sie, hält sie und zelebriert sie. Von Guitrys Filmen zu sprechen, heisst immer zugleich von Sacha Guitry zu sprechen. Vielleicht ist er noch nicht einmal ein genialer Regisseur, möglicherweise gerade ein durchschnittlicher. Auch kann man ihn kaum mit seiner ausgedehnten Produktion von Theaterstücken, die stets für kurze Zeit auf den Pariser Bühnen recht erfolgreich sind, als Dichter bezeichnen.
Was er aber ist, und das mit jeder Faser seines Seins, und was Tausende seiner Kollegen nie sein werden, das ist ein Komödiant.
Ernst Jünger umschreibt das in seinen "Strahlungen" mit der Formulierung seines "exotischen" Talents. Es ist diese Fähigkeit, seine Umgebung, seine ganze Umwelt an sich zu reissen, sie zu verwandeln und ihr durch seine Person eine neue Bestimmung und Wahrheit zu geben. Jede einzelne Gestalt und Begebenheit auf der Bühne oder im Film, der durchaus nur eine Bühne mit mannigfaltigeren Möglichkeiten darstellt, lebt nur in dem Umfang und Grad, der durch die sichtbare oder unsichtbare Anwesenheit von Guitry bestimmt wird.
In "Remontons les Champs Elysées" sieht das dann so aus, dass die entscheidenden Gestalten in der amourösen Geschichte der Champs Elysées von Guitry verkörpert werden, so zum Beispiel eine ganze Reihe französischer Könige und die ganze Historie der Pariser Prachtstrasse bei einem höchst subjektiven Zuschnitt auf Sacha Guitrys alles durchdringender Person endet. Das erhebt natürlich alles keinen Anspruch auf historische Authentizität, will es auch gar nicht, sondern ähnelt mehr einem mit kabarettistischen Arabesken verzierten grossen Welttheater. Was aber gerade nicht ausschliesst, dass auf eine andere viel wesentlichere Weise doch so menschlich tief nacherlebte Leistungen, wie in den letzten Szenen von "Talleyrand", allein und überragend in der Schauspielkunst dastehen.       H. A. G.
Zurück zum Anfang


Casque d' or (Goldhelm)
Produktion: Speva-Film Paris-Film (Frankreich, 1951)
Regie: Jacques Becker
Buch: Jacques Becker und Jacques Companeez
Kamera: Robert Le Febvre
Darsteller:
Marie: Simone Signoret
Manda: Serge Reggiani
Leca: Claude Dauphin
Raymond: Raymond Bussieres
Danard: Gasion Modot
Die moralisch geradezu verrottete Fabel um das Mädchen "Goldhelm" - ein Strassenmädchen aus dem Paris der Jahrhundertwende, das wegen seiner blonden Haare "Casque d' or" genannt wurde - stellt ein düsteres Kapitel aus der Unterwelt einer Weltstadt dar. Die gefährliche Betriebsamkeit einer Pariser Zuhälterbande mit ihrem legalen Dirnentum und dem Eigensinn der sogenannten Ganovenehre wird zu einem sinnverwirrenden Spiel entfesselter menschlicher Leidenschaften, in denen die ganze Skala des Zynismus, der "freien Liebe", der Eifersucht, des Mordes und zuletzt der Gang zum Schafott in einer Ballung impressionistischer Bildeindrücke sich abwickelt.
Dem Regisseur Jacques Becker ist mit diesem Film eine Vollendung impressionistischer Ausdrucksformen gelungen, die in beängstigender Art der Wirklichkeit des menschlichen Lebens nachspürt, dass demgegenüber fast die Erinnerung an den Neoverismus verblasst. Es wird kaum gesprochen in diesem Film. Die musikalische Untermalung ist fast immer ein monotones Drehorgelspiel. Aber in jeder Szene, die von Robert Le Febvre mit künstlerischer Besessenheit eingefangen wurde, knistert und flackert es, glimmt die Glut des Hasses, und doch ist alles menschlich, lebensnah und selbst in seiner tiefsten Verwerflichkeit erschütternd. Im dramatischen Bereich kann man damit natürlich geradewegs zur Tragödie steuern, die sich hier mit der Spannung eines Kriminalfilms entwickelt. Doch es fehlt die menschliche Tendenz, die aus einer traurigen Begebenheit erst eine tragische macht. Der Regisseur dämpfte die dramatischen Akzente und formte aus dem bewegten Geschehen, über das übrigens ein dickes Aktenbündel der Pariser Kriminalpolizei Auskunft gibt, eine verhaltene Ballade von lyrischem Reiz, die teilweise zur Moritat wird.
Trotz allem, was man gegen diesen Film einwenden kann, "Goldhelm" ist der Film einer Liebe und der Film einer Zeit. Die Kraft eines echten Gefühls, eine unerwartet zarte poetische Stimmung leuchtet plötzlich in einem meisterhaften Hell-Dunkel-Kontrast zwischen Grausamkeit und Brutalität auf "etwas zwischen einem Bild des Malers Renoir und Eugène Sue habe ich schaffen wollen", sagte Jaques Becker, als er von seinem Film sprach.       jo.
Zurück zum Anfang


Le jour se lève (Der Tag bricht an)
Produktion: Sigma-Vog (Frankreich, 1959)
Regie: Marcel Carné
Buch: Jacques Viot
Bearbeitung und Dialoge: Jacques Prévert
Kamera: Philipe Agostini; André Bac; Curt Courant
Musik: Maurice Jaubert
Darsteller:
François: Jean Gabin
Clara: Arletty
Valentin: Jules Berry
Françoise: Jacqueline Laurent
Der Tag bricht an - ein Titel voll bitterer Ironie, denn die Stunde des Sonnenaufgangs wird zur Todesstunde. In diesem Film entfaltet sich das Talent des Arbeitsteams Marcel Carné - Jacques Prévert am stärksten. In allen ihren Filmen führen uns Carné - Prévert auf eine Bühne, auf der sich Gut und Böse gegenüberstehen. Doch der Kampf ist immer ungleich, das Böse gewinnt bei jedem Zug. Daraus entsteht aber kein kalter Nihilismus, denn die Tragödien, die Prévert entwirft, werden durch die Sensibilität Carnés gedämpft, werden zu Tragödien voller Verstehen, voll von einer verführerischen Traurigkeit.
In der Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit wird in drei langen Rückblendungen die Geschichte eines Verbrechens psychologisch erhellt. In einem Dreiklang von Regie-, Schauspiel- und Kamerakunst werden entscheidungsvolle Tage und Stunden eines tragischen Schicksals auf Minuten und Sekunden mit psychologischem und soziologischem Realismus reduziert. Das zweifellos vorhandene Reisserische des Stoffes bleibt dem Menschlichen untergeordnet, und mehr als die beklemmende Sensation wirkt der Zauber schwermutvoller Poesie. Der dramaturgische Aufbau mit der zeitlichen Konzentration auf die eine Nacht der Abrechnung mit seinem Schicksal eines vom Leben schon Abgeschiedenen, ist genial erfunden. Die Rückblende, die in Filmen oft zur billigen Gewohnheit wurde, ist wohl selten kunstvoller und sinnerfüllter angewandt worden.
Aus dem Stoff, der dem Polizeibericht einer Grossstadt entnommen sein könnte, formte Carné ein faszinierendes Kammerspiel - fast erinnernd und anknüpfend an das alte Kammerspiel des deutschen Filmrealismus' der zwanziger Jahre -, das ebensowenig der Kriminalfilmspannung entbehrt wie bitterer Ironie, die vor allem über die Polizei ausgegossen wird. Er führt seine Darsteller zu Bestleistungen. Jean Gabin begründete seinen Weltruhm mit diesem Film. Oft ist man versucht, in dem Film Symbole zu sehen, Symbole der 1939 beginnenden Zerstörung. Sie sind aber nichts anderes als Sinnbilder der sich im Innern des Mannes vollziehenden Tragödie; jeder winzige Vorgang erhält dadurch schicksalhafte Bedeutung. Alles ist ins Optische übersetzt, kein Gedanke wird durch die Sprache mitgeteilt, der Film selbst ist so zur Dichtung eigener Art geworden. Damit zählt er nicht nur zu den Gipfelleistungen des schon klassisch gewordenen realistischen französischen Filmstils, sondern gehört zugleich mit zum Besten, was Marcel Carné, der Schöpfer von "Kinder des Olymp" und "Hotel du Nord" bisher geschaffen hat.       jo.
Zurück zum Anfang


Il cappotto (Der Mantel)
Produktion: Faro-Film, 1952
Regie: Alberto Lattuada
Buch (frei nach der Novelle von Gogol): Cesare Zavattini; Alberto Lattuada; Enzo Curreli; Giorgio Prosperi; Giordano Corsi; Luigi Malerba; Leonardo Siniscalli
Kamera: Mario Montuori
Musik: Felice Lattuada
Darsteller: Renato Rascel; Giulio Stival; Sandro Somaré; Giulio Cali
1952, zum hundertsten Todestag Gogols, hatte Zavattini ein Kurzfilm-Drehbuch nach dem "Mantel" verfasst. Bis es die endgültige, "abendfüllende" Gestalt angenommen hatte, war es durch die Hände von sechs weiteren Bearbeitern gegangen und hatte auf diesem Wege eine Reihe neuer, zum Stoff der Novelle hinzuerfundener szenischer Komplexe angesetzt, von denen einige zu den erfülltesten Passagen des fertigen Films geführt haben (die Ausgrabungsszene, die Verlesung des Protokolls, die Szenen mit dem Leichenzug).
Ein Schicksal, wie es Gogols Titularrat trifft, ist nicht an den russischen Namen und nicht an das 19. Jahrhundert gebunden. So wurde aus Akakij Akakijewitsch ein Carmine de Carmine (das Groteske des Namens geht im "Amandus" der deutschen Fassung verloren), wurde aus Petersburg ein norditalienisches Städtchen und aus der "bedeutenden Persönlichkeit" der Bürgermeister. Trotzdem glaubt man noch überall einen Rest östlicher Atmosphäre zu spüren - dies ist ein anderer Süden als wir ihn aus dem italienischen Film bisher kannten. Das liegt grossenteils an der Person des Carmine: Ein Mensch, so arm im Geiste, herumgestossen und verlacht sein Leben lang, voll hündischer Ergebenheit in sein vegetatives Dasein und ohne billigen Anspruch an die Welt - ein solcher Mensch, für dessen Rolle Renato Rascel, ein melancholischer Vetter des grossen Charlie, ein unglücklicherer Bruder, des Piscitello aus den "Anni difficili", wie erfunden scheint, kann eigentlich kein Italiener, er muss ein russischer Einwanderer sein.
Es ist nicht ganz leicht, den Eindruck dieses Werkes in einem bündigen Urteil zusammenzufassen. Der Filmschluss: wenn er diese Schwierigkeit auch nicht ganz erklärt, hat er doch an ihr teil. War vorher das Bemühen um Gegenwärtigkeit und einen, wenn auch ins Groteske verformten Realismus deutlich, so verschwebt das Ende mit der irrealen Erscheinung des toten Carmine vor dem Bürgermeister, der sich vor Schrecken zu bessern verspricht, in einem unkontrollierbaren Bereich. Hier, wo es vorteilhaft gewesen wäre, sich von der literarischen Vorlage zu lösen, hat man festgehalten. Der Stil Lattuadas verträgt ein Ende mit einer versöhnlichen Note; aber muss man das Jenseits bemühen, um es zu erreichen?       K.B.
Zurück zum Anfang


Clochemerle (Die liebestolle Stadt)
Produktion: Cinéma (Frankreich, 1948)
Regie: Pierre Chenal
Drehbuch: Pierre Laroche, nach einem Roman von Gabriel Chevallier
Kamera Robert Le Febvre
Musik: Henri Sauguet
Darsteller: Simone Michels; Max Dalban; Maximilienne; Saturnin Fabre; Felix Oudart
Zuckmayer und Dubout könnten die Patenschaft über diesen Film annehmen, an dem alles echt ist bis auf den deutschen Titel, der eine jener Dummheiten darstellt, die für die deutsche Filmreklame von geradezu erschreckender Regelmässigkeit sind. Der Originaltitel lautet schlicht und einfach wie auch der Roman, der dem Drehbuch zugrunde liegt "Clochemerle" - ein kleines Städtchen in Beaujolais.
Nicht nur in Beziehung auf den Wein ist der Film ein französisches Gegenstück zu Zuckmayers "Der fröhliche Weinberg". Im Grunde handelt es sich um eine Satire auf die Kleinstadt. Clochemerle hat nämlich einen fortschrittlichen Bürgermeister, der eine "öffentliche Anstalt" feierlich enthüllen lässt, an deren Deplaciertheit sich die politischen und moralischen Leidenschaften derart entzünden, dass sich die Affäre zu einem Skandal auswächst, der schliesslich die Ministerien in Paris beschäftigt Wie auch in Zuckmayers Theaterstück spielen Wein und Liebe eine grosse Rolle. Hier wie dort gibt es viel Menschlich-Allzumenschliches, rheinischdeftig das eine, französisch-temperamentvoll das andere.
Unter der Regie von Pierre Chenal wurde aus dem episodenreichen, aber episch ausführlichen Roman ein köstlicher Film: spritzig, lebendig und typisch, voll prall-saftiger Atmosphäre. Allzu gewagte Dinge des Romans, allerdings ohne Prüderie, in angemessene Filmform gebracht. Mit der Idee, den Skandal von Clochemerle in den Rahmen eines Kasperle-Theaters einzuspannen, wird von vornherein der schwerelose Boden für die glossierende Art gefunden. Ironie und der französische Charme lässt selbst heikle und prekäre Szenen niemals peinlich wirken.
Hervorragend getroffen und schauspielerisch kaum zu überbieten sind die kleinstädtischen Charaktertypen. Vom Bürgermeister und Lehrer bis zum schwerbedrängten Pfarrer, von den lebenslustigen jungen Frauen bis zu den gallenbitteren, alten Jungfern und bis zu der adelsstolzen Schlossherrin.
Wie beim Wein ist der Genuss eines solchen extravaganten Films eine Geschmacksfrage. Wer meint, dass ihm dieser kräftige Schluck aus der Burgunderflasche nicht bekommt, sollte sich lieber nicht in Gefahr begeben.       jo.
Zurück zum Anfang